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 Homosexualität? >  Rückblicke > Brief an Bundespräsident Köhler

Brief an den Bundespräsidenten anlässlich seine Wiederwahl im Mai 2009

Inhalt:

Inhalt:
1. - Sechzig Jahre Grundgesetz
2. - Mein Leben in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
3. - Sexualität und Fortpflanzungsfunktion
4. - Artikel 6 Absatz 1 GG
5. - Artikel 3 Absatz 3 GG
6. - Sexualwissenschaftlicher Tatsachenbefund
7. - § 175 StGB
8. - Die Novellierung des § 175 StGB im Jahre 1969
9. - Fortbestehende Diskriminierung
10. - Der Sinn der Gesetze
10.1 - Die utilitaristische Begründung von Gesetzen
10.2 - Die idealistisch-metaphysische Begründung von Gesetzen
11 - Das Grundgesetz - eine Verfassung der Freiheit?
11.1 - Zu Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 GG
11.2 - Zu Art. 2 Absatz 1 GG
11.3 - Das "Sittengesetz"
12.- Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3 GG
13. - Das Sittengesetz und die Kirchen
13.1 - Die Aussagen der Bibel zur Homosexualität
13.2 - 1. Mose, Kapitel 19
13.3 - 3. Mose, Kapitel 20, Vers 13; 4. Mose, Kapitel 15, Verse 32 - 36; 5. Mose, Kapitel 22, Verse 5 und 11
13.4 - Die „Zeitgemäßheit“ als Auslegungsmaßstab
13.5 - Die „Entrechtungserfahrung der Leidenden“ als Auslegungsmaßstab
13.4 - Wie aber sieht es mit der Homophobie aus?
13.5 - Römerbrief, Kapitel 1, Vers 18-32; Korintherbrief, Kapitel 6, Vers 9
14. - Was können Sie tun?
15 - Die Rehabilitierung der bundesrepublikanischen Opfer des § 175.
Literaturhinweise
Antwort des Bundespräsidenten


„Wer die Güte hat, jemand zu tolerieren, hat auch die Macht, ihn zu vernichten, wenn er es sich anders überlegt hat." (HENDRIK M. BRODER 2008)

C.-J. Schröder
Rellingstr. 12
20257 Hamburg 

 

22. Juli 2009

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Anlässlich Ihrer Wiederwahl wünsche ich Ihnen und uns Bundesbürgern, dass Sie in den verbleibenden Amtsjahren Gutes und in den konkreten Folgen Nützliches bewirken werden. Es geht mir hier insbesondere um Ihre Haltung zum Grundgesetz, mit dem nach Herrn LAMMERT die Deutschen „glänzend zurechtgekommen sind" und das Sie eine „Verfassung der Freiheit" oder gar ein „Leuchtfeuer der Freiheit" genannt haben.

 



1. - Sechzig Jahre Grundgesetz

Für mich persönlich war die durch das Grundgesetz fundierte Rechtsordnung ein System des Unrechts, der willkürlichen Beschneidung meiner Freiheit, der Bedrohung mit Gefängnis, der Kriminalisierung meiner Unschuld, der Erstickung einer Liebe. Geboren wurde ich 1947 und mein homosexuelles Coming-Out für mich selbst hatte ich 1964.

In meinem Brief möchte ich Ihnen darstellen, wie im Laufe der heute gefeierten sechzig Jahre sich das Grundgesetz für einen homosexuellen Bürger dieses Landes ausgewirkt hat als diskriminierende Verfassungswirklichkeit. Anschließend möchte ich einige Verfassungsnormen selbst prüfen mit der Frage, ob ein schwuler Bürger erwarten kann, ein durch das Grundgesetz geschütztes und sicheres Leben zu führen.

Um das Untersuchungsergebnis vorweg zu nehmen: Die Diskriminierung von Homosexuellen hält an. Sie bleiben Bürger zweiter Klasse. Und es ist unsere Verfassung, die in abstrakter Formulierung scheinbar Bürgerrechte garantiert, aber in der Konkretisierung den Schutz wieder aufkündigt. Hier sind Sie als Präsident aller Deutschen gefordert, Schlupflöcher in der Gesetzesanwendung zu stopfen bzw. Gesetzeslücken zu schließen, die der Homophobie Einlass in unsere Rechtspraxis gewähren. Bevor ich Ihnen nun meine rechtssystematischen Überlegungen mitteile mit der Bitte, sich für eine gerechte Stabilisierung und Neujustierung unserer Verfassung bzw. Rechtsordnung einzusetzen, will ich einen Einblick in sechzigjähriges Leiden am Staat Bundesrepublik Deutschfand, in meine Lebensgeschichte geben. 



2. - Mein Leben in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts

Mit dem Bewusstwerden meiner von der Norm abweichenden sexuellen Orientierung 1964 folgte eine furchtbare Zeit der Angst vor Entdeckung durch meine Umwelt und eine bedrückende Situation: Das bundesrepublikanische Rechtssystem einschließlich des Grundgesetzes schränkte willkürlich meine natürliche Freiheit ein, indem es mich bei Verwirklichung meiner sexuellen Bedürfnisse zum Verbrecher stempelt und ins Gefängnis wirft. Ich lebte also unter einem staatlich verordneten Zwangszölibat.

Einvernehmlicher Sex in der Privatsphäre war unter der Herrschaft der von Ihnen gepriesenen Verfassung ein Verbrechen, für dessen Verfolgung in den bundesdeutschen Großstädten Sonderkommissariate eingerichtet wurden. Und präventiv erfasste die Kriminalpolizei auffällig gewordene Homosexuelle in „Rosa Listen" - bis weit in die siebziger Jahre hinein. Dies alles, ohne dass irgendjemand der heterosexuellen Mehrheit durch homosexuelle Praktiken geschädigt wurde. 



3. - Sexualität und Fortpflanzungsfunktion

Für mich persönlich hat stets festgestanden: Sexuelle Freiheit, die einvernehmlich praktiziert wird, ist ein Menschenrecht - gleichgültig, ob es sich um ein gleich- oder gegengeschlechtliches Paar handelt, das sich selbst und/oder die Partnerschaft durch sexuelles Vergnügen bereichert.

Sie meinen, dies verstehe sich von selbst?

Da wären Sie auf einem, vor allem dem religiösen Auge blind.

Ausgehend von dem Apostel PAULUS, der im Korintherbrief, Kap.7, Vers 1 („Es ist dem Menschen gut, dass er kein Weib berühre.") sexuelles Begehren unter Generalächtung stellt, gibt es in unserer Gesellschaft eine fundamentalistische Strömung, die Sexualität nur als angenehme Begleiterscheinung der Fortpflanzungsfunktion bzw. als Anreizmittel zur Nachkommensgeneration erlauben will. Sie verbietet Verhütung, Sex vor und außerhalb der Ehe, Sexarbeit und - mit besonderer Verfolgungswut - gelebte Homosexualität. Bestenfalls duldet diese Strömung außereheliche Sexpraktiken als moralisch minderwertig und sucht sie als Ausdruck von Charakterschwäche ermahnend durch Predigten oder Publikationen einzudämmen.

Es mag auf den ersten Blick unvergleichlich erscheinen, doch die Einstellung, dass Ehe und Familie einzig zur Nachkommensproduktion da seien, wird fatalerweise ausgedrückt in HIMMLERS Diktum: „Homosexuelle sind bevölkerungspolitische Blindgänger." Die mörderischen Folgen solcher Geisteshaltung, KZ-Haft in Folge der Gefängnisstrafe hat es selbstverständlich in der BRD nicht gegeben. Doch Kriminalisierung durch den Staat und meist folgende soziale Ächtung hielten bis 1969 an. 



4. - Artikel 6 Absatz 1 GG

Aber kann man nicht aus Art.6 Abs. 1 folgern, dass im Vergleich zur heterosexuellen Ehe und Familie, die homosexuelle Partnerschaft zu Recht von staatlichen Organen als minderwertig behandelt wird?

Das hängt davon ab, wie «Ehe" und „Familie" von Politikern und Verfassungsrichtern verstanden werden. Wie sooft gibt es zwei Möglichkeiten:

  1. Entweder ist die „Ehe" biologisch definiert als „unvollständige Familie*. Beide Institute (Ehe und Familie) werden als wesensgleich behandelt, weil und indem beide ihren Wert allein von dem Zweck der Kindererzeugung und -erziehung her erhalten. (Position 1)
  2. Oder Ehe und Familie werden als zwei wesensmäßig unterschiedliche Institute betrachtet, die ihren Wert für sich haben durch unterschiedliche Ziele und Aufgaben. Nur die Familie erfüllt ihren Zweck in der Erzeugung und Erziehung von Kindern. Die Ehe hat davon unabhängig einen Wert an sich. Ihr Amtsvorgänger Roman HERZOG hat dementsprechend die „Ehe" geistig-sozial definiert als „Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaft". (Position 2)

Nach dem Verständnis von Position 2 macht es keinen Sinn, homosexuellen Partnerschaften den vollgültigen Ehestatus zu verweigern. M. E. ist nur diese Auffassung juristisch konsistent und führt zu keinen Begründungsproblemen. Denn Position 1, welche eine Ehe zur Vorform der Nachkommen erzeugenden Familie erklärt, müsste konsequenterweise Paaren, bei denen die Kinderzeugung nicht möglich ist aufgrund von medizinischen oder Altersgründen, die Eheschließung verweigern. Aber Fruchtbarkeitstest zwecks Bestimmung der Ehefähigkeit gibt es nicht und es ist deshalb nicht einzusehen, warum homosexuelle Paare, denen eine Kinderproduktion nicht möglich ist, als eheuntauglich willkürlich im Wert ihrer Partnerschaft für Staat und Gesellschaft herabgesetzt werden. Denn die „eingetragene Partnerschaft" ist eine Institution zweiter Klasse.

Die Realität erzeugt noch ein weiteres, rechtspragmatisches Problem bei dem exklusiven Zugang zur Ehe für gegengeschlechtliche Paare - das Entstehen von Scheinehen, die manchmal auch „Streusandehen" genannt werden, weil ihr einziger Zweck ist, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Ein solche unehrliche „Streusandehe" z. B. zwischen einem Homosexuellen und einer Lesbierin, die zur Täuschung des sozialen Umfeldes meist der Karriere wegen geschlossen wird, belohnt unser Grundgesetz! Zwei homosexuelle Männer oder Frauen, die ihrer Liebe und Partnerschaft einen gesetzlich abgesicherten Rahmen geben wollen, werden wegen ihrer Ehrlichkeit durch Sonderregelungen benachteiligt.

Und wie ist es bei heterosexuellen Paaren, die ihren gemeinsamen Lebensplan ohne Kinder verwirklichen wollen? Der Gesetzgeber bevorzugt sie vor schwulen und lesbischen Paaren. Warum? Was fügt das Vorhandensein von Penis und Vagina einer Beziehung ohne Kinder an Werthaftigkeit hinzu? Von Position 2 aus gibt es keinen Wertunterschied zwischen homo- und heterosexuellen Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaften. 



5. - Artikel 3 Absatz 3 GG

Schließlich: Spricht nicht Art. 3, Abs. 3, unserer Verfassung bei vorurteilsloser Anwendung klar ein Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechtes aus? Wenn unsere Rechtsordnung verbietet, dass Peter und Paul eine vollgültige Ehe eingehen, benachteiligt sie aufgrund des Geschlechtes In der von Ihnen als „Leuchtfeuer der Freiheit" gepriesenen Verfassung findet sich ein Widerspruch, der gelöst werden muss. Entweder der Geschlechtspassus muss aus Art.3, Abs. 3 verschwinden. Oder - was mir als einzig humaner Ausweg erscheint - unsere Rechtsgemeinschaft darf eine Ehe nicht mehr allein von der Familie her begreifen und muss ihr einen Eigenwert als Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaft (Position 2) zugestehen. Auch logisch wüsste ich nicht, wie man aus nackten Geschlechtsmerkmalen einen Wertunterschied zugunsten heterosexueller Paare ableiten will. Gerne will ich zugestehen, dass die von konkreter Ausgestaltung absehende Hochschätzung von Ehe und Familie eine lange Tradition hat. Doch legt dieses gedankenlose Herkommen ein Gewicht für Position 1 in die Waagschale? Nein - nichts zwingt unsere Rechtsgemeinschaft zu den aktuellen Diskriminierungen. Und ich persönlich möchte innerhalb solcher Gesetze und Normen (Ehe als Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaft) leben, die allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Identität in ihrer Lebensgestaltung gleichberechtigt einen Zuwachs an humanen Werten und Entfaltungsmöglichkeiten ermöglichen.

Die Entscheidung zu Position 2, und nur sie, wird der Realität unseres heutigen Lebens gerecht. Sexualität als Mittel zur Familiengründung ist eine Form in Gemeinschaft zu leben, Sexualität als Kommunikation zur Bereicherung und Stabilisierung einer Partnerschaft eine andere Lebensform. 



6. - Sexualwissenschaftlicher Tatsachenbefund

Meine Überlegungen zur Aufwertung einer kinderlosen Ehe als gewählte, aber nicht verfehlte Partnerschaft möchte ich mit einem sexualwissenschaftlichen Tatsachenbefund untermauern.

Der renommierte Sexforscher Gunter SCHMIDT betont seit Jahren als Forschungsergebnis die soziale Trennung von Sex als Vergnügen und Sex als Fortpflanzung, hervorgerufen und etabliert durch die „Pille", nicht mehr rückgängig zu machen. Wir können auch sagen: Sex als Wert an sich (Lust) und Sex als Mittel zum Zweck (Nachkommenserzeugung) stehen in keinem notwendigen Folgezusammenhang. Unsere Verfassung hinkt dieser Entwicklung, die FREUD bereits zu Begin des 20. Jahrhunderts formulierte („Das Ziel des menschlichen Sexualaktes ist die Lust, nicht die Fortpflanzung."), mit ihrer Auffassung von der Ehe als Start und Legitimation einer Familiengründung hinterher. Wobei leider aus der Position, die allein prokreativen Sex zulässt bzw. wertschätzt, Bevormundung und Ächtung von Menschen folgt, die sich die Freiheit zur allein kommunikativen Funktion von Sexualität nehmen.

Ich hoffe, dass Sie sich nicht in diesen Diskriminierungsdiskurs, mit dem besonders die katholische Kirche gebieterisch Verzicht auf sexuelle Befriedigung verlangt, einreihen werden. Er ist ideologisch motiviert und verleugnet die gegenwärtige Realität (SCHMIDTS Befunde). Stattdessen wünsche ich mir, dass Sie im nächsten Jahr den Berliner CSD anführen und damit Ihre Sympathie für das Grundrecht der sexuellen Freiheit dokumentieren.

Mit diesem Wunsch kehre ich zurück zu meinen Erfahrungen als jugendlicher Homosexueller in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. 



7. - § 175 StGB

Der Staat, ansonsten hätte die mich bedrohende Kriminalisierung keinen Sinn gemacht, sah seinerzeit in meinem homosexuellen Leben eine Gefahr für das Allgemeinwohl! Nur welche? Er mutete mir zu, folgenden Tatbestand einzusehen: Einvernehmlicher Sex zwischen zwei Männern ist ein Verbrechen, obwohl niemand dabei geschädigt wird. Können Sie mir einen vernünftigen Grund sagen, warum ich damals von unserem Rechtssystem hätte begeistert sein sollen als „Verfassung der Freiheit"?

Im Gegenteil fühlte ich meine Freiheit durch Willkürgesetze existenziell eingeengt.

Allerdings handelt es sich um eine Freiheit, die Menschen wichtig ist, ohne dass über diesen speziellen Freiheitsbegriff in juristischen Abhandlungen, Politikerreden oder Parteiprogrammen eine Diskussion abläuft. Es handelt sich um die von mir bereits angesprochene sexuelle Freiheit

Vielleicht ist Ihnen bei Ihren persönlichen Reflexionen über Freiheit nicht in voller Schärfe bewusst, dass anstelle der bis ins späte 19. Jahrhundert üblichen elterlichen bzw. familialen Zwangsheirat, bei der sich zwei Menschen der Partnerwahl durch die Eltern zu beugen haben, für viele mündige Menschen das Recht, seine(n) Sexualpartner und seine bevorzugten, privaten Sexualpraktiken frei wählen zu können - auch und gerade frei von staatlicher Bevormundung - wichtiger ist, als seinen Abgeordneten frei zu wählen.

Damals, 1964 und in den folgenden Jahren habe ich mir vergeblich das Gehirn zermartert, weshalb unser Staat mir meine sexuelle Freiheit nehmen wollte. Was war der Sinn des § 175? Was war der soziale Nutzen der mir aufgezwungenen Persönlichkeitsverstümmelung? Ich war seinerzeit und bin noch heute der vielleicht etwas naiven Auffassung, dass jedes Gesetz einen Nutzen haben oder einen Schaden für die Allgemeinheit abwehren muss. Ansonsten handelt es sich m. E. wie beim Gesslerhut aus SCHILLERS „Wilhelm Teil" um eine Schikane.

Der § 175 erschien mir schikanös, vergleichbar den antisemitischen Schikanevorschriften und -gesetzen der Nazis. Von Marcel REICH-RANICKI stammt der treffende Satz „Das Gefühl, zu Unrecht angeklagt zu werden, können außer Juden nur Homosexuelle teilen." Und der Historiker Hans Joachim. SCHOEPS formulierte während der Adenauerära: „Für die Homosexuellen ist das III. Reich noch nicht zu Ende."

Letzeres Zitat entstammt einer Zeit, in der die unheimliche Wirkung unserer Verfassung auf staatliches Unrecht besonders deutlich wurde. Im Jahre 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht durch Abweisen zweier Verfassungsbeschwerden, dass der § 175 verfassungskonform sei. Die Beschwerde hatte sich auf Art. 2, Abs. 1 berufen: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Das Bundesverfassungsgericht stellte gegen die Kläger fest, dass „gleichgeschlechtliche Betätigungen eindeutig gegen das Sittengesetz" verstoßen und das „sittliche Empfinden" verletzen. Damit ging die Hexenjagd gegen Homosexuelle mit höchstrichterlichem Segen weiter. (Um nicht wilder Polemik gegen Verfassungsorgane geziehen zu werden - ich verstehe „Hexenjagd" als politologischen Terminus für eine vom Staat initiierte Verfolgung, bei der keine reale Straftat zugrunde liegt, sondern einer an sich unschuldigen Personengruppe willkürlich eine Schadensbehauptung zugeschrieben wird.)

Nicht nur stillschweigend, sondern explizit hatte ein Verfassungsorgan die Homosexuellenverfolgung legitimiert. Und meine Entrechtungserfahrung sah so aus: Polizei und Justiz bedrohen mich wegen meiner Liebesfähigkeit, verweigern mir offen gelebte Partnerschaften, tun mir Unrecht - und dies alles wegen Nichts und wieder Nichts! 



8. - Die Novellierung des § 175 StGB im Jahre 1969

1969 kam die Novellierung des § 175, die einvernehmliche Sexualbeziehungen unter Erwachsenen über 21 Jahre straffrei ließ. Hätte ich da nicht zufrieden sein können?

Leider wurde alles für mich sogar schlimmer, was aus dem Wortlaut der Strafbestimmungen deutlich wird (ich zitiere nur den für mich damals relevanten Absatz des § 175 in der Neufassung vom 25. Juni 1969): „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird bestraft ein Mann über achtzehn Jahre, der mit einem anderen Mann unter einundzwanzig Jahren Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt."

Übersetzen wir die verklausulierte Regel: Ein Homosexueller darf bis 18 Jahre Sex haben. Dann folgen drei Jahre Zwangszölibat und danach müssen beide Partner für vom Staat erlaubten Sex das einundzwanzigste Lebensjahr überschritten haben. Damit verbot die Neufassung gerade die beglückende Zeit der ersten Liebe. Ich war 1969 zweiundzwanzig Jahre alt und hatte eine - verbotene - Beziehung zu einem Achtzehnjährigen. Unsere Liebe wurde vom Staat kriminalisiert, mein Freund hielt die Bedrohungsangst nicht mehr aus und trennte sich von mir. Wegen des Paragraphen! Um auch später dem gesellschaftlichen Druck zu entgehen, flüchtete er sich in eine Ehe mit periodischen Ausflügen in homosexuelle Kurzabenteuer. War solche „Streusandehe" vom Gesetzgeber erwünscht und bezweckt? Der neue § 175 hatte somit eine mögliche fruchtbare Partnerschaft im Keim erstickt und eine unglückliche Ehe gestiftet. Mein Freund und ich haben Opfer gebracht. Aber zu wessen Nutzen?
 



9. - Fortbestehende Diskriminierung

Mit zunehmendem Alter nahm die unmittelbare Bedrohung ab, doch Homosexualität als diskriminierte Lebensform blieb erhalten. Ich hatte den Lehrerberuf angestrebt und befand mich als Referendar in einer „Don't ask/don't teil" - Situation. Sie werden vielleicht Präsident CLINTONS Neufassung der Homosexuellen-Erfassung in Armee, Schulen, Gesundheitswesen und öffentlichem Dienst kennen. Unmittelbar nach Ende des II. Weltkrieges gab es in den USA das Staatsziel, mit großangelegten Durchleuchtungen Homosexuelle als Sicherheitsrisiko in den genannten Bereichen herauszufiltern und dann zu entfernen. 1993 brach das Pentagon aufgrund eines CLINTON - Gesetzes die Jagd auf Homosexuelle mittels inquisitorischer Befragungen ab mit dem gleichzeitigen Befehl „Don't teil". „Don't ask" hieß „Wir als Armee fragen nicht mehr systematisch nach der sexuellen Orientierung"; „don't teil" hieß „Halte deine Homosexualität geheim!" Etwa in dieser Lage befand ich mich als Lehrer. Es gab von meinen Vorgesetzten nichts zu befürchten. Gleichwohl konnte ich kein normales Leben wie meine Kollegen führen, musste meinen damaligen Freund verheimlichen. Obwohl ich nichts verbrochen hatte, hatte ich „eine Leiche im Keller*. Und weil ich diesen Zwang zur Verheimlichung nicht ausgehalten habe, bin ich in einen Beruf gewechselt, in dem keine sozialen Kontrollen zu befürchten waren.

Hier ende ich den Bericht eigener leidvoller Erfahrungen und gehe über zu rechtlichen, insbesondere verfassungsrechtlichen Überlegungen. Es geht um Bestimmungen, die trotz Freigabe einvernehmlicher Sexualität in der Privatsphäre (un)heimliche Wirkungen haben hinsichtlich des Status, den Homosexuelle in unserer Gesellschaft und deren Rechtsgefüge heute zutage noch einnehmen. Hier können Sie als Bundespräsident Zukunftsweisendes und Humanitäres bewirken, indem Sie Ungerechtigkeiten öffentlich als solche benennen und Verbesserung der Rechtssituation anmahnen. 



10. - Der Sinn der Gesetze

Bevor ich mit meiner kritischen Analyse der von mir bemängelten Teile unserer Verfassung komme, ist ein rechtsphilosophischer Diskurs unumgänglich. Es geht -redensartlich gesprochen - um die trivial erscheinende Alternative: Sind die Gesetze um der Menschen willen da oder die Menschen um der Gesetze willen? Von der Antwort auf diese Frage hängt alles Folgende ab - das Aufzeigen des für Homosexuelle unheilvollen Gesetzes-Status-quo und die Bitte an Ihre amtliche Kompetenz, die Humanität unserer Verfassung und Verbesserungen im Gesetzessystem auch für die homosexuelle Minderheit zu sichern.



10.1 - Die utilitaristische Begründung von Gesetzen

Es gibt zwei grundsätzliche Weisen, entsprechend der obigen Redensart, ein Rechtssystem in den Blick zu nehmen: Entweder folgt man einem utilitaristischen oder einem idealistisch-metaphysischen Ansatz.

Der Utilitarismus kennt nur ein Kriterium zur Beurteilung von Gesetzen oder Rechtsnormen - den konkreten Nutzen für die einzelnen lebenden Menschen. Wenn eine Vorschrift niemandem (oder nur einer Bevölkerungsminderheit) nutzt und allen (oder einer Minderheit) schadet, darf sie nicht angewendet werden. Ersichtlich besteht der Kern des Utilitarismus darin, bei einer Rechtsnorm allein die Folgen für die betroffenen Menschen abzuschätzen. Er lässt völlig unberücksichtigt, wer die Norm ins Gesetzessystem eingeführt hat, auf welchen historischen oder soziologischen Vorgängen sie basiert, ob sie ehrwürdig als uralte Tradition daherkommt oder als neue Idee.

BENTHAM hat eine solche Folgenabschätzung für die englische Sodomiegesetzgebung des 19. Jahrhunderts durchgeführt und in seinem Aufsatz „On Pederasty" gezeigt, dass alle behaupteten Schäden durch Homosexualität (Verletzung göttlicher Gebote, Verwahrlosung des Charakters, ausschweifender Lebenswandel, Verführung Jugendlicher, Senkung der Geburtenrate in einem Staat, Vermehrung der Kriminalität, Verderbnis der menschlichen Rasse bzw. des nationalen Volkskörpers, Verweichlichung der Soldaten) falsch, mithin erfundene Behauptungen (Vorurteile) waren. Die Behauptung, die Päderastiegesetzgebung verhindere irgendwelche Übel, stellte sich als Unsinn heraus. Stattdessen gab es nur eine tatsächliche Folge der Gesetze gegen Homosexuelle: deren Erpressung!

So kam er zu dem Schluss, dass die Päderastiegesetzgebung nutzlos, ja extrem schädlich war, indem sie nur die Kriminalität im Bereich der Erpressung steigerte. 



10.2 - Die idealistisch-metaphysische Begründung von Gesetzen

Wir kommen jetzt zur zweiten rechtsphilosophischen Grundposition, die unser Rechtssystem idealistisch-metaphysisch begründet. Am klarsten hat PLATON im „Staat" ausgeführt, dass nur derjenige Staat „gerecht" (= wohlgeordnet) ist, in dem von den Menschen, insbesondere von den Regierenden eine wahre, ewige und göttliche Ordnung der Ideen erfasst und verwirklicht wird. Ein Staat ist umso besser geordnet, je adäquater die Bürger den ewigen normativen Vorbildern folgen. Bestraft wird in diesem Modell nicht die Verletzung gemeinwohlorientierter Vorschriften zum Nutzen Aller, sondern die individuelle Abweichung vom Moralgebäude ewiger Sittlichkeit bzw. die Trübung der Reinheit des Gesetzesideals.

Unsere Verfassung enthält die von PLATON zuerst entwickelten idealistischen Rechtsprinzipien in der Gestalt des christlichen Naturrechts. Demgemäß hat Gott die Welt in einer perfekten Ordnung geschaffen, von der es durch Sünde Abweichungen zum Schlechten hin gibt. Es gilt, mit der Hilfe der Gesetze die ursprüngliche ideale Reinheit wieder herzustellen. Das alles bestimmende übergeordnete Gesetzbuch ist die Bibel. Selbstverständlich ist das Ziel das Wohl der Menschen, aber nur genauso, wie die biblischen Gesetze und Vorschriften es festlegen. Das Hauptkriterium ist die Gottwohlgefälligkeit.

Man könnte einwenden, dass ein derartiges Bild einen Gottesstaat darstelle, der mit unserer Verfassung nichts gemein habe. Ein Blick in gängige Verfassungskommentare belehrt uns eines Besseren. Dort findet man nämlich durchgängig die Feststellung, es handle sich beim Grundgesetz um einen Kompromiss aus humanistischen Ideen der Aufklärung und der christlichen Weltanschauung. Dieses Konglomerat wird manchmal auch christlich-abendländischer Wertekanon genannt.



11 - Das Grundgesetz - eine Verfassung der Freiheit?

Nach diesen rechtsphilosophischen Vorüberlegungen können wir jetzt in die Untersuchung darüber einsteigen, ob das Grundgesetz wirklich eine „Verfassung der Freiheit" ist. Es geht dabei um die Freiheit aller und insbesondere der homosexuellen Staatsbürger. Wir nehmen in der Untersuchung nur zwei Grundgesetz-Artikel in den Blick: die Artikel 1  Abs. 1 und Artikel 2  Abs. 1. 



11.1 - Zu Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 GG

Der Artikel 1 "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" ist die erste (der Reihenfolge nach) und die höchste und wichtigste (dem Range nach) Regel im bundesrepublikanischen Menschenrechtskanon. Da Sie als Bundespräsident - wie bereits zitiert - unsere Grundgesetz gelobt und öffentlich gefeiert haben, darf ich davon ausgehen, dass Sie diesem ersten Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar." beipflichten. Allein, dem sorgfältigen Leser stellen sich mehrere Unklarheiten entgegen.

Am wenigsten wohl beim Würde-Begriff, der von den meisten Verfassungskommentatoren in der KANTischen Ethik verankert wird und äquivalent ist mit dem Selbstbestimmungsrecht eines freien Subjektes, wie es der kategorische Imperativ für eine menschliche Gemeinschaft regelt: Achte die Würde jedes beliebigen Menschen! Nimm ihn als Zweck an sich selbst, und es ist unbedingt verboten, ihn durch Instrumentalisierung fremden Zwecken zu unterwerfen.

Der zweite Begriff „Mensch" ist schon schwieriger zu verstehen, weil er doppeldeutig ist. Es kann jeder beliebige, konkrete Einzelmensch gemeint sein. Der hätte dann einen Anspruch an alle Gegenüber, in seiner Person, deren Kern die Würde ausmacht, nicht verletzt zu werden und vom Staat und seinen Rechtsorganen vor Würdeverietzungen gesichert zu werden, sogar vor staatlichen Stellen selbst falls sie seine individuelle konkrete Würde nicht achten. Dieser Mensch-Begriff ist einem Individualismus verpflichtet, wie er von BENTHAM und John Stuart MILL ausgearbeitet wurde und ersichtlich zum englischen Utilitarismus gehört.

Allerdings ist er nicht zwingend! Ein Anhänger des christlichen Naturrechts würde widersprechen: Mit „Mensch" sei hier „der Mensch" in abstrakter Hinsicht, als Gattungswesen, als „Menschenbild" angesprochen, so wie es bei GOTHE stehe, wenn er lyrisch dekretiert „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut". Es gehe auch nicht um schützenswertes konkretes Einzelmenschsein. Vielmehr soll die Zielvorstellung geschützt werden, die in den vielen Menschenbildern in Kirche, Justiz, Schulwesen, Wirtschaft usw. sich artikuliert.

Beim Mensch-Begriff formuliert das Grundgesetz systematisch unscharf. Damit bleibt das hohe Gut der Rechtssicherheit auf der Strecke.

Man könnte geneigt sein, einen Kompromiss zu versuchen. Beides müsse zur Geltung kommen, der individuelle Nutzen und die ideale christlich-naturrechtliche Ordnung.

Nach meiner persönlichen Auffassung ist mit einer Kompromissformel nichts gewonnen. Denn wenn individuelle, konkrete Menschenwürde (z. B. als Meinungsfreiheit) und abstrakte Menschenbildwürde einer Institution gegeneinander stehen, so muss eines der beiden Prinzipien die Oberhand erhalten. Ich persönlich wünschte mir dann, dass der individuelle Lebensentwurf (innerhalb der Geltung des kategorischen Imperativs) immer Priorität erhält, denn es ist immer der Einzelne, der (er)leiden muss. Das in gesellschaftlichen Gruppen (Parteien, Schulwesen, Gewerkschaften, Kirchen, Justiz, Verwaltungen, Regierungen) ausgedrückte Menschenbild kann nicht leiden!

Bei der Betrachtung von Artikel 1 Abs. 1 (wir haben uns ja auf den ersten Satz beschränkt) unserer Verfassung soll zum Schluss der problematischste sprachliche Ausdruck untersucht werden: „unantastbar". Auch er ist doppeldeutig, kann übersetzt werden in „darf nicht angetastet werden" oder „kann nicht angetastet werden".

Ein juristisch ungeschulter Leser wird die erste Lesart „darf für intuitiv plausibel halten. Sie allein schützt den konkreten Einzelnen in wirklichen Situationen. Sie nützt unmittelbar und ist insofern rechtspragmatisch bzw. utilitaristisch. Leider denken Verfassungskommentatoren nicht so klar und einfach. Robert SPAEMANN z. B. übersetzt in „kann nicht" und begründet dies mit dem christlichen Naturrecht. Es gehe in Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes nicht um die Setzung einer Norm, sondern um die Setzung eines Faktums, nämlich der Gottesebenbildlichkeit jedes Einzelnen. Was z. B. auch immer einem Opfer von Gewalt, Terror, Demütigung usw. geschehe, dessen Gottesebenbildlichkeit bleibe unberührt. Erst die folgenden Artikel des Grundgesetzes seien bindende Normen. Der Satz 1 aus Artikel 1 stelle nur eine metaphysische Tatsache dar, dergestalt, dass er das bundesdeutsche Rechtssystem christlich fundiere.

Diese auch oft von Vertretern der großen Kirchen vertretene These hat m. E. fatale Konsequenzen. Konsequent angewendet würde sie etwa staatliche Folter relativieren, weil die Gottesebenbildlichkeit in jedem Fall erhalten bliebe. Dass der erste und oberste Satz unserer Verfassung sich allein auf die Gottesebenbildlichkeit beziehe, wird von Kirchenoberen, christlichen Politikern und Verfassungsrichtern mehrheitlich so gedeutet, dass unser Grundgesetz mitnichten - wie laienhaft vermeint - die letzte unhintergehbare Norm ist. Hinter ihr, sie letztlich begründend, stehen die Bibel und die dort geoffenbarten Gesetze und Vorschriften.

Ein Kompromiss zwischen den beiden Deutungsvarianten „kann nicht" und „darf nicht" ist unmöglich. Wenn nämlich „unantastbar* normativ gilt, wird vorausgesetzt, dass die Würde des Menschen antastbar ist Wenn hingegen die idealistische "kann nicht" - Variante gilt, so ist jedes Verbot eines Antastens sinnlos.

Wir wollen zugunsten der Verfassungsväter annehmen, nur schlampig formuliert haben. Und dann bleibt die Hoffnung, dass unser Grundgesetz durch präzisierende Neufassung eindeutiger werden kann. Dass ich mir eine Korrektur in „Die Würde des Menschen darf nicht angetastet werden" wünsche, habe ich als Anhänger eines allein utilitaristisch ausgerichteten Rechtssystems bereits durchscheinen lassen. 



11.2 - Zu Art. 2 Absatz 1 GG

Doch was ist so verwerflich an der idealistischen Bindung unseres Rechtssystems an die Werte des christlichen Abendlandes?

Die Homosexuellen aller Zeiten haben in schlimmer Weise unter diesen „Werten" gelitten und leiden heute noch darunter. Als Angelpunkt unserer Analyse wähle ich einen Fall homophober Rechtsprechung aus der Geschichte der BRD.

Wie bereits angesprochen, legten am 20. 7. 1952 der Hamburger Kaufmann Oskar K. und am 7. 3. 1954 der Hamburger Koch Günther R. Verfassungsbeschwerde gegen Urteile zu Gefängnis (20 Monate) nach § 175 und 175a ein. Am 10. 5. 1957 wurden die Beschwerden zurückgewiesen. Die Verfassungsrichter führten aus, „die §§ 175 und 175a Strafgesetzbuch sind nicht in dem Maße nationalsozialistisch geprägtes Recht, dass ihnen in einem freiheitlich demokratischen Staate die Geltung versagt werden muss." Diese Begründung, die den historischen Tatsachen Hohn spricht, soll hier nicht weiter betrachtet werden. Auch würde wohl heute kein Verfassungsrichter - ich kann es nicht anders ausdrücken - eine derart dreiste Reinwaschung des nationalsozialistischen Justizterrors mehr wagen.

Uns soll es im Folgenden nur um einen weiteren Begründungsstrang dieser Verfassungsbeschwerden   gehen,   die   Kriminalisierung   von   Homosexuellen widerspreche Art. 2, Abs. 1 unserer Verfassung: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."

Dass ein Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung das Persönlichkeitsentfaltungsrecht zunichtemacht, versteht sich von selbst. Diese Passage in Artikel 2, Abs. 1 hat auch in Bezug auf Homosexuelle nie Bedeutung gehabt. Behauptungen wie die von dem Vorsitzenden des „Volkswartbundes", dem Köllner Amtsgerichtsrat GATZWEILER zur Adenauerzeit („Als Moskaus neue Garde würde die Partei der Invertierten geheim organisiert sein.") oder in der Illustrierten „Quick" 1967, die ein homosexuelles Komplott des Jahrhunderts entdeckt haben wollte („Kennedys Mörder waren krankhafte Homosexuelle") oder die vom Historiker Arnulf BARING in vielen Talkshows verbreitete abstruse These, ein Komplott von Homosexuellen habe Willy BRANDT an die Macht gebracht - alle derartigen Verschwörungsphantasien sind auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.

Deshalb soll jetzt nur noch der verkürzte Artikel 2, Abs. 1 betrachtet werden: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht ... gegen das Sittengesetz verstößt." Um die Bedeutung dieses Grundgesetzartikels sorgfältig bewerten zu können, möchte ich ihn durch Vergleich mit einem analogen Programm beleuchten. Der Hamburger schwule Infoladen „Hein & Fiete", ein wichtiger Teil der AIDS-Prävention der Hamburger Gesundheitsbehörde, formuliert in einer Selbstdarstellung sein „Menschenbild" : Das Menschenbild, auf das sich die Arbeit von Hein & Fiete stützt, ist humanistisch geprägt und den Menschenrechten verpflichtet. Wir achten stets die Würde des Menschen, sein Recht auf individuelle Emanzipation, seine Anonymität und seinen kulturellen Hintergrund. Wir orientieren uns an den humanistischen Prinzipien der Gewalt- und Gewissensfreiheit und treten für die Akzeptanz verschiedenen Lebensweisen ein. Menschen können und sollen sich nach diesem Verständnis frei entscheiden, frei entwickeln und frei handeln: - Sie sind frei in ihrer Lebensgestaltung, Weltanschauung und Religion. - Sie können lernen, Optionen, die für ihre Entwicklung förderlich sind, wahrzunehmen, zu wählen und umzusetzen. -Die Freiheit eines Menschen endet dort, wo er die Freiheit eines anderen einschränkt, die Schwäche eines anderen ausnutzt oder das Vertrauen eines anderen missbraucht.

Man könnte meinen, dass es sich bei diesem Text um eine Konkretisierung von Artikel 2, Abs. 1 handelt, um eine zeitgemäße Fassung oder einen Kommentar. Die einzelnen Unterschiede mag jeder für sich selbst durchdenken.

Auffällt aber, dass ein wichtiger Punkt des Grundgesetzes in der „Hein & Fiete" -Programmatik fehlt: das Sittengesetz! 



11.3 - Das "Sittengesetz"

Diesen Terminus (?) werde ich nun genauer betrachten.

Das Fragezeichen ist berechtigt, weil der Begriff im Grundgesetz eine völlig andere Bedeutung als in der Philosophie und dem allgemeinen Bildungsbewusstsein hat. „Sittengesetz" ist bekanntlich ein Zentralbegriff der KANTischen Ethik. Das Sollen und die Achtung, von KANT unbedingt jedem Menschen abgefordert, werden durch das „Sittengesetz" festgelegt und ohne Gewalt kann man darunter den kategorischen Imperativ mit seinem Instrumentalisierungsverbot verstehen.

So mag ein homosexueller Bürger seinen persönlichen Lebensentwurf mehrfach gesichert sehen, denkt bei „Sittengesetz" an die durch dieses geschützte Autonomie des Individuums - und wird auf raffinierte Weise bitter getäuscht. Unter dem Begriff „Sittengesetz" verstehen unsere Verfassungsrichter nämlich etwas Apartes, das nicht nur mit KANT nichts zu tun hat, sondern seinen Ansatz geradezu vernichtet.

Nebenbei: Unter Verfassung verstehe ich nicht allein den Buchstaben. Und die oft benutzte Ausrede „Der gute Text! Die gute Institution! Doch was haben die (bösen, fehlbaren) Menschen daraus gemacht!" will ich nicht akzeptieren. Dagegen verstehe ich unter „Verfassung" den Gesetzestext, die Kommentare, akademische Verfassungsrechtler und ihre Diskussionen und die Verfassungsrichter mit ihren Urteilen. Ich hoffe, dass Sie nicht nur den toten Textkorpus gelobt haben und dass man Ihr Sprechen von einer „Verfassung der Freiheit" auch auf die Urteilspraxis des Bundesverfassungsgerichtes in den letzten sechzig Jahren beziehen kann.

Und hier ist mir absolut schleierhaft, warum Sie die Unrechtsurteile nach § 175 in den fünfziger und sechziger Jahren gut heißen! Vor allem aber, wie Sie die unheilvolle Definition des Begriffes "Sittengesetz" loben, mit der vom Bundesverfassungsgericht festgelegt wurde, dass das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit für Homosexuelle nicht gilt. Diese schlimme Entrechtung von Bundesbürgern kann Ihnen doch nicht entgangen sein! Sollen wir aus Ihren Reden schließen, dass Sie sie billigen?

Gehen wir ins Detail.

Zunächst einmal möchte ich eine persönliche Empfindung mitteilen. Als Leser und Student der Werke KANTs fühle ich mich vom Ausdruck „Sittengesetz" im Verfassungstext hinter das Licht geführt. Warum?

In seinem Urteil über die Verfassungsbeschwerden gegen § 175 StGB hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes seinen abschlägigen Bescheid am 15. 5. 1957 damit begründet, dass gleichgeschlechtliche Betätigung eindeutig gegen das Sittengesetz verstoße. In dem Urteil heißt es weiter: „Allerdings bestehen Schwierigkeiten, die Geltung eines Sittengesetzes festzustellen. Das persönliche sittliche Gefühl des Richters kann hierfür nicht maßgebend sein; ebenso wenig kann die Auffassung einzelner Volksteile ausreichen. Von größerem Gewicht ist, dass die öffentlichen Religionsgemeinschaffen, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich beurteilen."

Demgemäß explizieren die Richter, dass „gleichgeschlechtliche Betätigung eindeutig gegen das Sittengesetz" verstoße und das „sittliche Empfinden" verletze, wobei das „sittliche Empfinden" der Bevölkerungsmehrheit gemeint ist.

Mir hat dieses Urteil beim ersten Lesen die Sprache verschlagen. Ich musste feststellen, dass unser Grundgesetz gar keine Grundrechte formuliert, sondern von zwei tieferen, nicht demokratisch legitimierten Gründen abhängig ist.

Erstens das - wie die Nazis sagten - „gesunde Volksempfinden" oder wie es sprachlich unverfänglicher heißt „das sittliche Empfinden der Bevölkerungsmehrheit".

Homophobie ist mithin gemäß unserer Verfassung ein Wert, solange sie von der Bevölkerungsmehrheit als richtig empfunden wird. Fremdenfeindlichkeit, das Racheprinzip im Strafvollzug bis hin zur Todesstrafe, Rassismus, Sexismus - alles dies wird durch unsere Verfassung gedeckt, solange nur die Mehrheit der Bevölkerung authentisch diese Positionen, oft verbunden mit untrüglichen Ekelgefühlen, als „sittliches Empfinden" in sich trägt. Das Grundgesetz steht also unter einem populistischen Vorbehalt.

Dafür gebe es keine Belege? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. 5. 1957 ist ein trauriger Beleg. Ein anderer, aktuellerer ist die dem Pöbel folgende Politik eines ehemaligen Bundeskanzlers. Hellmut SCHMIDT drohte in seinen ersten von ihm geführten Koalitionsverhandlungen mit der FDP, die Koalition platzen zu lassen, falls die FDP darauf beharre, ihren Programmpunkt zur Bundestagswahl „Ersatzlose Streichung des § 175" durchzusetzen. Interessant ist SCHMIDTS Begründung: Er könne es „den Kumpeln an der Ruhr nicht zumuten", dass der § 175 gestrichen werde. Wahrscheinlich war den „Kumpeln an der Ruhr" der § 175 völlig gleichgültig. SCHMIDT und auch die Verfassungsrichter haben niemals eine empirische Untersuchung/Befragung nach dem tatsächlichen Volksempfinden vorgenommen. Dazu genügte wahrscheinlich ihr eigenes Ekelgefühl Homosexuellen gegenüber.

Hoffentlich ist deutlich geworden, welches Niveau grundlegender Entscheidungen unsere, von Ihnen hochgelobte Verfassung vorgibt, indem sie sich freiwillig dem „sittlichen Empfinden" unterwirft.



12.- Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3 GG

Das für mich erfreuliche Gegenbeispiel sind Sie selbst mit Ihrem Vorschlag, die Tatbestände der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus als vom Staat zu ächtende in unser Grundgesetz einzubauen. Damit stellen Sie sich gegen den populären Mainstream auf die Seite der Gerechtigkeit und Freiheit. Dem folgend möchte ich Sie dazu anregen, den Tatbestand der Homophobie in ihren Vorschlag mit aufzunehmen. Er gehört mit in den Artikel 3. Bitte durchdenken Sie einmal den Formulierungsvorschlag des LSVD (Lesben-und Schwulenverband in Deutschland e. V): Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seiner sexuellen Identität, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. 



13. - Das Sittengesetz und die Kirchen

Kommen wir nun zu dem zweiten Grund, der über den Begriff des „Sittengesetzes" unsere Verfassung fremden, d. h. nicht staatlichen Mächten ausliefert. In den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes werden nicht populistische Ressentiments schlechthin gebilligt. Vielmehr seien solche Anschauungen zu berücksichtigen, die begründet sind im religiösen Mehrheitsbewusstsein, das wiederum fundiert sei in der Lehre der beiden großen christlichen Konfessionen.

In dieser Begründung wird unsere Verfassung bei der Frage der legitimen Behinderung der freien Persönlichkeitsentfaltung den Kirchen unterworfen und ihrer Lehre. Deren Macht, die Verfassungsauslegung zu bestimmen, ist aber nicht demokratisch legitimiert. Die Behauptung, es gebe ein staatliches Gewaltmonopol, ist mindestens fraglich, da der Staat material zum Erfüllungsgehilfen der Kirchen wird. Strenggenommen gibt es damit nicht nur drei Gewalten, sondern - ein wenig verschleiert - vier. 



13.1 - Die Aussagen der Bibel zur Homosexualität

Was bedeutet die Unterordnung des Grundgesetzes unter die Lehren der Kirchen für die Homosexuellen?

Es erstaunt zunächst, dass in der Bibel, die ja Lehrgrundlage der beiden großen Konfessionen ist, nur an wenigen Stellen von Sodomie die Rede ist. Schwule und Lesben im heutigen Sinn waren damals selbstverständlich unbekannt. Denn in der Gegenwart sind Schwule und Lesben eine große gesellschaftliche Gruppe mit einem Selbstverständnis als soziale Kraft, mit geselligen Vereinen, Interessenverbänden, Freizeitinstitutionen, Theater- und Filmproduktionen, Musikveranstaltungen, Selbsthilfeorganisationen, Historikern, Fachpolitikern, Jugendgruppen, Gesundheitspolitik, AIDS-Hilfe, Fachkräften in der staatlichen Verwaltung, kirchliche Gruppen, akademische Forschungsstellen usw. Zur Zeit der Bibel, vor 2000 -3000 Jahren existierte allein der Tatbestand „Sodomie", worunter nicht prokreativer Sex zum Zweck des Vergnügens, meist außerhalb der Ehe verstanden wurde.

Im Folgenden analysiere ich drei prominente Bibelstellen, die bei kirchlicher Verdammung der Homosexualität den religiösen Rechtsgrund abgeben. Dabei werde ich vor allem erörtern, inwiefern diese zeitlich und kulturell uns sehr fern stehenden Grundsätze für Menschen des 21. Jahrhunderts sinnvoll genutzt werden können. 



13.2 - 1. Mose, Kapitel 19

Die farbige Geschichte zeigt eine Stadt Sodom, deren Einwohner vom Immigranten Lot verlangen, zwei Gäste (zwei Engel Gottes!) zwecks homosexuellen Verkehrs herauszugeben. Doch die Übeltäter werden von Gott mit Blindheit geschlagen und können die Tür zu Lots Haus nicht mehr finden. Dann empfehlen die Engel, dass Lot und seine Familie die Stadt Sodom verlassen, auf die später es als Strafe Gottes Feuer und Schwefel regnen wird.

Diese „Sodommythe* hat rechtshistorisch eine große Wirkung entfaltet. Es geht um den in der Erzählung hergestellten Zusammenhang zwischen Homosexualität und der diese bestrafenden Reaktion Gottes in Form einer großen Naturkatastrophe. Die biblische Stelle ist in den Rechtskorpus des Kaisers JUSTINIAN eingegangen (ausführlich dargestellt in Gisela Bleibtreu-Ehrenbergs Standardwerk „Tabu Homosexualität") und hat über viele Jahrhunderte mörderische Auswirkungen gehabt. Nach Auffassung der bibeltreuen Juristen JUSTINIANs waren - in Auswertung der Sodommythe für die Rechtsordnung und -praxis - homosexuelle Handlungen ursächlich für Erdbeben, Überschwemmungen, Missernten und Seuchen. Um derartige Strafen Gottes abzuwehren, folgte als Todesstrafe der Feuertod auf dem Scheiterhaufen.

Dass dieser behauptete Zusammenhang zwischen Sodomie und Naturkatastrophen nur grausame Unwissenheit und schlimmes Unheil waren, wissen heute alle Menschen, die ein Minimum an naturwissenschaftlicher Bildung haben. Und andere? Fundamentalisten, bibeltreue Christen und vor allem Kreationisten glauben noch heute an die antihomosexuelle Sodommythe. Entsprechend führen sie Kreuzzüge gegen Homosexuelle, die sie biblisch begründen.

Den Einwand, in der Gegenwart finde sich kein Anhänger der Sodommythe mehr, der Katastrophen mit Sodomie erklärt, widerlegt ein prominenter Fall. Ronald REAGEN höchstpersönlich hatte während seiner Präsidentschaft AIDS auf die praktizierte Unzucht der Homosexuellen zurückgeführt und jede staatliche Hilfe als Einmischung in Gottes Strafgericht, das die endgültige Selbstauslöschung der Homosexuellen bezwecke, abgelehnt. Die Us-amerikanische Gesundheitsadministration schwieg folglich lange zur AIDS-Epidemie und blieb untätig, was zum Slogan der AIDS-Aktivisten in den USA führte „Silence = Death". Erst als REAGENs prominenter Schauspielerkollege Rock HUDSON an AIDS gestorben war, änderte sich die Gesundheitspolitik der USA. 



13.3 - 3. Mose, Kapitel 20, Vers 13; 4. Mose, Kapitel 15, Verse 32 - 36; 5. Mose, Kapitel 22, Verse 5 und 11

Im Alten Testament werden neben den 10 Geboten an Mose eine Fülle von speziellen Rechtsvorschriften von Gott übermittelt, darunter auch „Wenn jemand beim Knaben schläft wie beim Weibe, die haben einen Gräuel getan und sollen beide des Todes sterben ihr Blut sei auf ihnen." (3.Mose, Kapitel 20, Vers 13). Dieses Gebot ist eindeutig und müsste eigentlich beim Ernstnehmen über den Weg .Sittengesetz" in unser Rechtssystem Eingang finden. Jedoch am 10. Mai 2009 erklärte die Hamburger Bischöfin Maria JEPSEN in ihrer Predigt anlässlich eines AIDS-Gottesdienstes in der St. Georgkirche das Gebot für ungültig:"Wir steinigen ja auch niemanden, der am Sonntag Holz sammelt (4. Mose, Kapitel 15, Verse 32- 36). Wir tragen bedenkenlos Mischgewebe, obwohl Gott es verbietet (5. Mose, Kapitel 22, Vers 11), und das Crossdressingverbot gilt ebenfalls für niemanden mehr: „Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen, und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun; denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott ein Gräuel." (5. Mose, Kapitel 22, Vers 5). In diesen Zusammenhang gehört auch das alttestamentarische Verbot der Homosexualität."

Nachdem in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Reihe von Berufsverbotsfällen an evangelischen schwulen Pastoren zu beklagen waren (z. B. die Fälle BRINKER und MEYER in der Hannoverschen Landeskirche), bei denen eine feinsinnige Unterscheidung gemacht wurde zwischen „homosexuell sein" und „sich offen in der Gemeinde homosexuell verhalten" und dadurch in Anwendung der „Don't ask - don't teil" - Regel die Kirchenoberen von den Pastoren Verheimlichung und Heuchelei verlangten, hat sich heute in den meisten lutherischen Landeskirchen das Blatt gewendet. Inwiefern? Meinte Bischöfin JEPSEN, die alttestamentarischen Gesetze seien nicht mehr zeitgemäß? 



13.4 - Die „Zeitgemäßheit“ als Auslegungsmaßstab

M. E. ist diese Interpretation nicht zwingend! Denn was soll der Maßstab für „Zeitgemäßheit" sein? Eine Parallele zur Verdeutlichung: Waren Judenpogrome vor 1700 zeitgemäß, aber später nicht mehr? Wenn man unter „zeitgemäß" versteht „relativ zum damaligen Wissensstand", muss man Judenpogrome vor 1700 (also vor den Toleranzforderungen der Aufklärung) tatsächlich „zeitgemäß" nennen. Nur schleicht sich bei solcher relativierenden historischen Betrachtungsweise ein Unbehagen ein. Wir fühlen intuitiv, dass wir mit der Einschätzung „Man wusste es nicht besser und wollte eigentlich das Beste!" den Opfern Unrecht tun. Wahrscheinlich waren die „sittlichen Empfindungen" in Deutschland von 1900 - 1945 (wahrscheinlich sogar darüber hinaus) mehrheitlich antisemitisch und auch HITLER hatte mit dem Holocaust subjektiv nur das Beste gewollt, als der die Welt „judenfrei" machen wollte. Kann man die nationalsozialistische Massenmordpolitik als nur „heute nicht mehr zeitgemäß" geistig wegordnen? Nein! Man würde die geschändeten Menschen durch historistische Relativierung noch einmal schänden!

Doch welcher Maßstab soll anstelle der „Zeitgemäßheit gelten?



13.5 - Die „Entrechtungserfahrung der Leidenden“ als Auslegungsmaßstab

Es gibt ein Kriterium, das subjektiv und allgemeingültig zugleich ist: die Entrechtungserfahrung der Leidenden. Diese Entrechtungserfahrung bleibt bei purer „Zeitgemäßheit“ auf der Strecke und damit die Lernmöglichkeiten für nachfolgende Generationen. Besonders die Gefühlsdimension bei der Beschäftigung mit Entrechtungserfahrungen hilft dabei, ein schlimmes historisches Geschehen mit der unbedingten Losung „Nie wieder!" im persönlichen Bewusstsein der Nachgeborenen zu verankern.

Den Begriff „Entrechtungserfahrung" habe ich mir bei dem Besuch der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen angeeignet. Dort handelt es sich um eine programmatische Leitkategorie für die Forschung und die Ausstellung, somit auch für eine die Gedenkstätte besuchende Öffentlichkeit.

Man kann mit diesem Kriterium auch eine vor allem seit der Antisklavereibewegung des frühen 19. Jahrhunderts zur Rechtfertigung der Sklaverei beliebte Denkfigur ad absurdum führen. Die Anhänger der Sklaverei behaupteten damals und in den Apartheitsstaaten der USA bis in die sechziger Jahre hinein, die Diskriminierten seien mit ihrem Entrechtungsstatus - ein väterlicher, milder und gerechter Sklavenhalter vorausgesetzt - zufrieden. Die kritischen Fragen stellen sich beinahe von selbst ein. Falls der fürsorgliche Sklavenhalter wirtschaftlich in Schwierigkeiten gerät, für die er nicht verantwortlich zu machen ist, und nun seine Sklaven „leider" auf dem Sklavenmarkt verkaufen muss, war dann ein farbiger Familienvater beruhigt und zufrieden, womöglich mit Einsicht in die „höhere Notwendigkeit", wenn er und seine Frau und Kinder durch unterschiedliche Käufer auseinandergerissen wurden? Oder wenn in den Apartheitsstaaten nach 1945 „Mischehen zwischen verschiedenen Rassen" verboten waren? Die beiden sich liebenden Menschen, haben die es eingesehen, dass ihnen die Ehe nur verboten wird, weil ihre Kinder als „Mischlinge" das „hohe Gut" der amerikanischen weißen Rasse trüben, das Gut des reinen Blutes? Abgesehen davon, dass die von US-Biologen behaupteten rassehygienischen Theorien, aus einer „Mischehe" würden genetisch minderwertige Kinder hervorgehen, purer Unsinn waren - muss die Menschheit im allgemeinen und die Rechtsprechung eines Staates darauf warten, bis Experten ihre Meinung geändert haben?

M. E. nicht, denn weitaus wichtiger als wissenschaftliche Debatten der Täter sind die Entrechtungserfahrungen der Opfer,

Wenden wir nun das Konzept „Entrechtungserfahrung" auf Gesetzesvorschriften an:

  • Ein Mensch, der zur Zeit des Alten Testamentes am Sonntag Holz gesammelt hat und von der Bevölkerung gesteinigt wird, hat er keine Entrechtungserfahrung?
  • Eine Frau, die damals wagte Männerkleidung zu tragen und deswegen verurteilt wird, leidet sie subjektiv nicht zu Unrecht?
  • Zwei Sodomie treibende Männer, die im alten Israel deswegen hingerichtet werden, bejahen sie womöglich ihren Tod, weil Gott selbst ja über die Übertretung seines Reinheitsgebotes zürnt?
  • Homosexuelle, die in Bergen-Belsen (dieser Opfergruppe wird übrigens in der Gedenkstätte vorbildlich gedacht) getötet wurden, haben sie ihrer Ermordung zugestimmt wegen formal korrekter Nazigesetzgebung bzw. des volksbiologischen Hygieneprogramms der Naziideologen, die ja mehrheitlich Akademiker waren?
  • Und ein homosexuelle Medizinstudent, der in den fünfziger Jahren nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe nach § 175 im Rechtsstaat BRD, beschirmt durch das Grundgesetz, zwangsexmatrikuliert wurde? Er wollte später Taxifahrer werden. Doch das Verkehrsamt, wiederum beschirmt durch das Grundgesetz, verweigerte ihm die Taxifahrerlizenz, weil es Homosexualität als Charakterfehler ansah, der die Fähigkeit ein Taxi zu fahren, unmöglich machte. Glauben wir im Ernst, dass dieser Mann den staatspolitisch höheren Sinn der beiden Gewalteingriffe in seine berufliche Existenz eingesehen und bejaht hat? Hatte er nicht vielmehr eine Entrechtungserfahrung gemacht, als Homosexueller, als Medizinstudent und als Antragsteller für einen Taxischein?

Den Begriff „Entrechtungserfahrung" ziehe ich „Unrechtserfahrung" vor, weil bei Juden und Homosexuellen besonders in der Nazizeit - und für Homosexuelle auch später noch - nicht nur das Bewusstsein sich einstellte „mir ist Unrecht geschehen" (z. B. „ein Richter hat ein Fehlurteil gesprochen"), sondern vielmehr durch die erlittenen staatlichen Gewaltmaßnahmen beide Gruppen sich sagen mussten „Willkür im Gesetzesrang stellt uns außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, des Staates, der Rechtsordnung, macht uns zu Outlaws."

Ich bin froh, dass bis auf wenige rechtsradikale Vorfälle der Antisemitismus keine Anhänger mehr hat. Gestützt wird die Sicherheit für unsere jüdischen Mitbürger durch ein vielfältiges Wachhalten der deutschen Verbrechen.  



13.4 - Wie aber sieht es mit der Homophobie aus?

Ich denke dabei nicht an die homosexuellen Opfer der Nazijustiz. Sie wurden als Opfer anerkannt und rehabilitiert. Es geht hier und heute um die Opfer des § 175 durch die kriminalpolizeiliche und juristische Verfolgung in der BRD bis 1969. Ihre Entrechtung besteht noch heute! Weder der Staat und schon gar nicht die Richter, die sie unschuldig ins Gefängnis schickten, haben sich bei ihnen entschuldigt. Dabei war kein Richter gezwungen, den Opfern des § 175 Gewalt anzutun. Das sogenannte "3 Mark Urteil" im Jahre 1951 zeigt, welchen Spielraum Richter in den Kindertagen der BRD hatten: „Bei der Berufungsverhandlung am Landgericht Hamburg hatte der Landgerichtsdirektor Fritz Valentin ein Freundespaar entgegen der allgemeinen Rechtsprechung demonstrativ nur zur Mindeststrafe von 3 DM verurteilt Die beiden Angeklagten hatten zuvor vom Amtsgericht Hamburg-Blankenese jeweils eine Haftstrafe von acht Monaten erhalten, weil sie mit erwachsenen Männern sexuelle Handlungen vorgenommen hatten. Das Landgericht berücksichtigte bei seiner Urteilsfindung, dass homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen homosexuellen Männern in vielen europäischen Ländern nicht strafbar und dass auch in Deutschland gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Frauen straffrei waren. Hinzu kam, dass die beiden Angeklagten In echter Weise homosexuell veranlagt' waren (eine Triebenthaltung' nicht zumutbar sei), kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen bestand und sich der Verkehr im privaten Bereich abgespielt hatte." (Bernhard Rosenkranz und Gottfried Lorenz: Hamburg auf anderer Wegen. Die Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt. Lambda-Verlag. Hamburg 2005, S. 72 - 73)

Man kann nicht umhin, die Gefängnisurteile nach § 175, die überwiegend eine Vernichtung der bürgerlichen Existenz der Opfer nach der Haftverbüßung und nicht selten Flucht aus dem Leben durch Selbsttötung zur Folge hatten, als Entrechtungen einzustufen.

Dieses Stigma der Entrechtung besteht für die Verfolgten und unschuldig Bestraften noch heute. Denn im Frühjahr 2009 wurde ein Antrag der Parteien „Die Linke" und „Die Grünen" auf Rehabilitierung der homosexuellen Justizopfer von 1945 - 1969 durch die Fraktionen von CDU, SPD und FDP im Bundestag abgelehnt mit der Begründung, unsere Verfassung ließe es nicht zu, dass die Legislative in die Judikative eingreift. M. E. kann man in einem Rechtsstaat sehr wohl erlittenes Unrecht wieder gut machen. Wenn man will!

Doch wenn dieses aufgrund unserer Verfassung unmöglich sein sollte, dann ist Ihr Diktum „Das Grundgesetz ist eine Verfassung der Freiheit." gelinde gesagt Geschichtsfälschung. Denn von 1945 - 1969 war sie eine „Verfassung der Unfreiheit" - für die Homosexuellen. Und eine „Verfassung der Gerechtigkeit!" ist die gegenüber den Justizopfern von damals immer noch nicht! Wobei der beschämende Vorgang im deutschen Bundestag von 2009 eine nochmalige, aktuelle Entrechtung der homosexuellen Bundesbürger darstellt.

Wäre es Ihnen, der über dem Parteiengezänk steht als Bundespräsident aller Deutschen, nicht möglich einen juristisch saubereren und vor allem menschengerechten Weg zu finden, das erlittene Unrecht wieder gut zu machen? Dann könnten Sie in einer späteren Rede nicht nur vom „Grundgesetz als Verfassung der Freiheit", sondern auch vom „Grundgesetz als Verfassung der Gerechtigkeit" sprechen. Die Männer, die bislang zu einem beschädigten Leben gezwungen wurden und noch werden, warten auf diesen Schritt. Es wäre ein Schritt von der Entrechtung in einen Staat, der den Einzelnen in seiner Einzigartigkeit respektiert. 



13.5 - Römerbrief, Kapitel 1, Vers 18-32; Korintherbrief, Kapitel 6, Vers 9

Wenn wir uns, gestützt auf das heute noch geltende Verfassungsprinzip „Sittengesetz", den Auffassungen der beiden großen Konfessionen zuwenden, die -von Verfassungsrichtern zugebilligt - Macht über den Weg der Konkretisierung von Artikel 2, Abs. 1 unserer Verfassung haben, müssen wir für das Jahr 2009 eine große Schwierigkeit konstatieren: beide Kirchen widersprechen sich fundamental in ihrer Beurteilung der Homosexualität. In den lutherischen Landeskirchen sucht man homophobe Einstellungen von wenigen Einzelstimmen abgesehen vergebens. Die katholische Amtskirche hingegen, und hier an vorderster Front Papst BENEDIKT XVI. diffamiert plakativ das Rechtsinstitut der legalisierten Partnerschaft als „Legalisierung des Bösen". Dabei wird in den Begründungen nicht auf das Alte Testament zurückgegangen. Vielmehr bezieht man sich auf die zum Neuen Testament gehörenden Briefe des Apostels PAULUS. In dessen Römerbriefskizze von der Gottlosigkeit der Heiden im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wird ausführlich in einem Lasterkatalog als Folge von Gottlosigkeit eine enthemmte Sexualität außerhalb der Ehe beschrieben: „Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Lüste; denn ihre Weiberhaben verwandelt den natürlichen Umgang in den unnatürlichen; desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Umgang mit dem Weibe und sind aneinander entbrannt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen. Und sie es für nichts geachtet haben, dass sie Gott erkannten, hat sie auch Gott dahingegeben in verworfenen Sinn, zu tun, was nicht taugt, von alles Unrechten, Schlechtigkeit, Habsucht, Bosheit, voll Neides, Haders, List, Tücke; Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter, Frevler, hoffärtig, ruhmredig, auf Böses sinnend, den Eltern ungehorsam, unvernünftig, treulos, lieblos, unbarmherzig. Sie wissen, dass, die solches tun, nach Gottes Recht des Todes würdig sind; aber sie tun es nicht allein, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun.' (Brief des PAULUS an die Römer, Kapitel 1, Verse 26 - 32). Und im 1. Korintherbrief finden sich die als „Weichlinge" apostrophierten Homosexuellen in einem Atemzug genannt mit Gesetzesbrechern, die tatsächlichen Schaden gegenüber ihren Mitbürgern verursacht haben: „Wisset ihr nicht, dass die Unrechten werden das Reich Gottes nicht ererben? Lasset euch nicht irreführen! Weder die Unzüchtigen, noch die Götzendiener noch die Ehebrecher noch die Weichlinge noch die Knabenschänder noch die Diebe noch die Geizigen noch die Trunkenbolde noch die Lästerer noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben." (1. Brief des PAULUS an die Korinther, Kapitel6, Verse 9-10). Ein überzeugter und bibeltreuer Christ, der sich diesen Vorschriften unterwirft, weil sie ja vom höchsten Theologen der Christenheit stammen, muss seine Homophobie als fromm und gottgewollt ansehen.

Nun findet sich im Römerbrief, der eine wichtige Grundlage christlicher Ächtung von Homosexualität ist, auch eine bekannte Stelle über das Verhältnis eines Christen zu seiner Obrigkeit: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet:" (Brief des PAULUS an die Römer, Kapitel 13, Vers 1). Wenden wir dieses Gebot auf die historische Realität an. Die Männer des 20. Juli haben ihrer Obrigkeit mit Gewalt widerstrebt. Nach der Paulusstelle sind sie zu verurteilen. Sind entsprechend die Massenmörder HITLER, HIMMLER, GÖRING usw. von Gott verordnet gewesen? STALIN und anderen totalitären Politikverbrechern sollen tatsächlich alle gläubigen Christen gehorchen, weil der stattliche Terror „von Gott ist"?

Jeder ideologisch nicht verbogene Mensch muss die paulinische Regel, die einem Kadavergehorsam gegenüber jeder Obrigkeit vorschreibt, verwerfen. Man führe sich einmal den nicht so seltenen Fall vor Augen, in dem Deutsche unter Einsatz ihres eigenen Lebens ihre jüdischen Mitbürger vor den Nazischergen versteckt haben -nach Römer 13, 1 waren die mutigen deutschen Familien Verbrecher und der nationalsozialistische Antisemitismus unterstützenswert! Wenn man das Homosexuellen oft angeheftete Prädikat „pervers" sinnvoll anbringen kann, dann bei dieser Paulusforderung.

Im 1. Korintherbrief findet sich eine befremdliche, aber klare Gottesdienstordnung zu beiden Geschlechtern: Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde; den es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht der Frau übel an, in der Gemeinde zu reden." (1. Brief des PAULUS an die Korinther, Kapitel 14, Verse 34 - 35). In meiner Heimatstadt Hamburg haben wir in vielen lutherischen Gemeinden Pastorinnen, die bei konsequenter Paulusnachfolge eigentlich aus dem Amt entfernt werden müssten.

Dem konsequenten Denken drängt sich an dieser Stelle eine Überlegung auf: Wenn die Gehorsamsformel gegenüber der Obrigkeit im Römerbrief und der Sexismus des Korintherbriefes als Irrlehren einer vergangenen Zeit abgetan werden, warum bleiben die homophoben Behauptungen in der Katholischen Kirche und bei fundamentalistischen Freikirchen (mit selbsternannten seelsorgerischen Homoheilungstherapeuten) in Kraft und werden als normbildende Macht heute noch befolgt? Inzwischen gibt es eine Fülle von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Psychologie, der Medizin, der Rechtswissenschaft, der Soziologie usw., die mindestens feststellen: Homosexualität ist weder Krankheit, noch Verbrechen; niemand kann zur Homosexualität verführt werden; Homosexualität hat keinen Bezug zu schlechten Charaktereigenschaften; eine homosexuelle Partnerschaft ist der heterosexuellen Liebe vollkommen äquivalent; und Kinder, die in einer gleichgeschlechtlichen Familie aufwachsen, erleiden in ihrer Entwicklung keinen Schaden. Darüberhinaus haben Betriebssoziologen ermittelt, dass offen homosexuelle Mitarbeiter in vielen Berufen eine Bereicherung darstellen, wobei besonders lesbische Kolleginnen geschätzt werden. Dieser „Diversity-Ansatz", nach den positiven Beiträgen schwullesbischer Menschen zu fragen, sieht Homosexualität als kreative Bereicherung unserer Gesellschaft an.

All diese wissenschaftlichen Erkenntnisse haben zur Lebenszeit von PAULUS im 1. Jahrhundert nach Christi Geburt nicht vorgelegen. In den homophoben damaligen Ächtungen zeigen sich allein Vorurteile, Unwissenheit, sowie diskriminierender Ausgrenzungs- und Machtwille. In unserer zusammenwachsenden Welt haben derartige Ächtungen ex cathedra nichts zu suchen. Sie gehören auf den Müllhaufen der Geschichte wie das mittelalterliche Weltbild, das die Sonne um die Erde kreisen ließ. Zur Entscheidung, ob Homosexualität „gut" oder „böse" seien, taugen biblische Gesetze, Normen oder Anweisungen deswegen nicht, weil ihnen kein wahres Wissen zugrunde liegt.

Ob ich damit dem Konservatismus als politischer Kraft bei uns den Boden entziehen wolle? Sofern dieser eine Regel oder ein Gesetz damit rechtfertigen will, dass sie oder es altehrwürdig ist, ja! In meinem politischen Leben habe ich insbesondere von CDU- (aber auch SPD-)Mitgliedern oft den Spruch gehört „Man soll nicht etwas verändern, das sich bewährt hat." Wenn es sich lange Zeit als Inhumanität oder Ungerechtigkeit „bewährt" (gemeint ist „lange bestanden") hat, muss man es verändern. Der Antisemitismus hatte bis 1933 eine tausendjährige Geschichte mit einer Fülle von pseudowissenschaftlichen (meist theologischen, später auch rassehygienischen) Begründungen. Und er hatte sich bewährt als Sündenbockfunktion, welche die christliche Mehrheitsgesellschaft zusammengekittet hat. Zu welchem Preis? Man sieht: „altehrwürdig" oder "lange praktiziert" sind nie und nimmer als Rechtfertigung für Antisemitismus oder Homophobie zu akzeptieren.

Zum Schluss dieses Abschnitts sei ein kleiner Blick über den großen Teich geworfen. 1986 gab es in den USA ein im Vorfeld der Entscheidung heiß diskutiertes Verfassungsgerichtsurteil, das die Verfolgung von Homosexuellen in den Einzelstaaten als verfassungskonform erklärte. In der Begründung fußten die Richter letztlich darauf, dass der englische König HEINRICH VIII. in seinem Rechtskorpus Sex zwischen zwei Männern als unnatürlich ansah. Der betroffene Kläger Michael HARDWICK, dessen Klage abgewiesen wurde, war entsetzt und auch erstaunt, dass sein sexuelles Verhalten nach „bewährten" mittelalterlichen Normen verurteilt wurde.

Eine ähnliche Mischung aus Entsetzen und Erstaunen hat mich erfasst, als mir klar wurde, nach welchen Regeln ich beurteilt werde, wenn unsere Verfassung mit dem Begriff „ Sittengesetz" meine Rechte einschränkt. Sie sind nicht nur bis über 2000 Jahre als und ohne wahres Wissen. Sondern andere unbequeme und unmenschliche Normen werden ohne jede Diskussion einfach fallengelassen. Niemand würde heute aus der „Jephta"-Geschichte ableiten, dass es bei uns Menschenopfer geben solle, wo sie doch in der Heiligen Schrift als gottwohlgefällig dargestellt werden. Merkwürdigerweise wurde die Homophobie beibehalten, die anderen Normen (z. B. das Holzsammeln am Sonntag) dem Vergessen anheimgegeben. Nach welchem Kriterium?

Und dann beschleicht mich ein Verdacht, wenn ich nach rechtssystematischer Konsequenz frage: Könnte es sein, dass die „Sittengesetz'-Regelung im Grundgesetz unter dem Deckmantel der KANTischen Interpretation und unter dem Deckmantel der Allgemeingültigkeit eine allein Homosexuelle diskriminierende Sonderregel darstellt? Könnten Sie bitte einmal ermitteln lassen, ob die „Sittengesetz"-Formel außerhalb des Homosexuellenurteils jemals in anderen Rechtsentscheidungen eine Rolle gespielt hat? Ich fände es eine Schande für unsere Verfassung, wenn das Grundgesetz einen Paragraphen in verschleierter Form exklusiv für Homosexuelle bereit hält!



14. - Was können Sie tun?

Allgemein könnten Sie eine Perspektive einnehmen, die Rechtsnormen nicht mehr als sakrosanktes Reinheitsideal begreift, dem sich Menschen zu unterwerfen haben. Eine Ideologie, welcher Herkunft auch immer, darf kein Menschenbild für unseren Staat rechtlich verbindlich machen in dem Sinne, dass ihm Menschen einheitlich zu entsprechen hätten. Außerdem darf eine Norm nicht dadurch gerechtfertigt werden, da sie besonders lange gilt.

Stattdessen muss allen Menschen, solange sie niemandem schaden, die freie Ausgestaltung ihres Lebens nicht nur erlaubt sein - wer dürfte sich hier anmaßen zu „erlauben"? -, sondern ihre individuelle, kreative, phantasievolle Ausgestaltung muss geschützt sein. Und weil sich ausreichend Mitbürger anmaßen, homosexuelle Menschen in der Nachbarschaft, auf der Straße, im Betrieb oder sonstwo zu ächten, zu mobben, zu beleidigen und/oder mit Gewalt zu verletzen, ist es dringend geboten, dass unser Grundgesetz in Artikel 3 den Passus einbaut „wegen seiner sexuellen Identität". Warum „Identität" und nicht „Orientierung"? Weil unter „Identität" auch Transgenderpersönlichkeiten gefasst werden, die als Männer in Frauenkleidung oder Frauen in betont männlicher Stilisierung leicht in der Öffentlichkeit sichtbar sind und so häufiger Gewaltattacken zum Opfer fallen.

Gerne würde ich wissen, was Sie bei einem Zusammentreffen mit italienischen Spitzenpolitikern im Zuge des vereinten Europas fühlen, wo Sie wissen, dass ein italienischer Crossdresser (Mann in Frauenkleidung) mit einer Gefängnisstrafe allein für seinen ästhetischen Selbstausdruck bedroht wird...

Es geht hierbei um Privatleben und Selbstinszenierung. Nach utilitaristischer Rechtsauffassung ist beides nicht straffähig, da keine Rechte anderer berührt werden.

Dieses Kriterium „Wird jemand geschädigt? Wird jemandem etwas weggenommen?" wünsche ich mir von Ihnen konsequent bei der Prüfung von Rechtsnormen in Anschlag gebracht, so dass auch die Würde eines/einer Transvestiten/Transvestitin „unantastbar sein soll". Dafür muss Artikel 1, Abs. 1 unbedingt immer normativ („darf nicht") interpretiert werden. Und niemals darf „Mensch" verstanden werden als „Menschenbiöd im Sinne der Gottesebenbildlichkeit", denn von solcher idealen Gestalt weichen die meisten wenn nicht alle Menschen ab, insbesondere sichtbar aber Transgenderpersönlichkeiten. Im völlig unutilitaristischen Alten Testament ist Crossdressing ja ein Gräuel und ein todeswürdiges Verbrechen, unabhängig davon, dass kein Crossdresser einem Mitbürger etwas nimmt, schon gar nicht ihm schadet. 



15 - Die Rehabilitierung der bundesrepublikanischen Opfer des § 175.

Kommen wir jetzt zur zweiten Agenda für Sie als Bundespräsident

Ich will Ihnen dabei nicht zumuten, sich für die Streichung des doppelsinnigen Ausdrucks „Sittengesetz" (KANT vs. Die beiden großen Konfessionen) einzusetzen. Vermutlich würde von Seiten der Kirchen ein Sturm der Entrüstung losbrechen, wenn diese m.E. zu Recht ihre ideologische bestimmende Macht verlören auf alle Menschen, die sich unter dem Grundgesetz geschützt wähnen. Allerdings könnten Sie darauf hinweisen, dass durch das Verfassungsgerichtsurteil von 1957 hunderten von homosexuellen Mitbürgern schweres Unrecht zugefügt worden ist und dass der verschwommene Ausdruck „Sittengesetz" dabei eine unheilvolle Rolle gespielt hat. Und wenn Sie als Bundespräsident, der oberhalb von Parteien, Interessenverbänden, Kirchen, Gewerkschaften, Industrie usw. steht, die Rechts- und Lebenssicherheit von homosexuellen Mitbürgern sichern wollen, dann wäre eine stetige Betonung im entsprechenden Rahmen, der Ausdruck „Sittengesetz" sei im Sinne KANTs zu verstehen mit einer Geltung für jedermann/jederfrau, so wäre für die Integration aller Menschen unseres Landes mit ihren je eignen Lebensentwürfen viel getan.

Damit ist das Problem einer juristischen und staatlichen Rehabilitierung nicht gelöst und bleibt Aufgabe der Parteien des Bundestages. Dazu wäre ein aufmunterndes und ermahnendes Wort von Ihrer Seite sicher nützlich.

Darüber hinaus könnten Sie als Bundespräsident allerdings etwas tun, um die Justizopfer mit unserer gereiften Republik und unserer Verfassung zu versöhnen. Ich habe mit großer Freude gelesen, dass Sie die Berliner Obdachlosen zu einem Essen eingeladen und so ihr Mitgefühl und Ihre Achtung dieser Menschengruppe gegenüber ausgedrückt haben. Warum nicht entsprechend die Opfer des § 175 einladen, um Ihr Mitgefühl und Ihre Achtung auszudrücken? Ich bin davon überzeugt, dass diese seelisch beschädigten, entrechteten Menschen in ihrem hohen Alter auf eine derartige Geste seit Jahrzehnten warten.

Mit besten Wünschen für eine ertragreiche zweite Amtszeit,

Ihr C.-J. Schöder 



Literaturhinweise

Vor allem den Wert des utilitaristischen Rechtsansatzes habe ich aus einem Us-amerikanischen juristisch-historischen Standardwerk kennengelernt: William N. Eskhdge Jr.: Dishonorable Passions. Sodomy Laws in America 1861 -2003. New York: Viking. Penguin Group 2008

Über Details zur Schwulenverfolgung in der BRD (und vieles mehr) informiert zuverlässig das Forschungswerk:
Bernd Rosenkranz und Gottfried Lorenz: Hamburg auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt. Hamburg: Lamda 2005 



Antwort des Bundespräsidenten

BUNDESPRÄSIDIALAMT                                                                          BERLIN, 30. Juli 2009
                                                                                                             Spreeweg 1
                                                                                                             Geschäftszeichen: 16 - 220 00-1-1/07
                                                                                                             (bei Zuschriften bitte angeben)


Herrn
Christoph Joachim Schröder
Rellinger Straße 12

20257 Hamburg

Sehr geehrter Herr Schröder,

Bundespräsident Horst Köhler dankt, für Ihre Zuschrift vom 22. Juli 2009. Wegen der Vielzahl der ihn täglich erreichenden Post kann er Ihnen leider nicht persönlich antworten, wie er das gerne täte. Er hat mich gebeten, Ihnen zu schreiben.

Der Bundespräsident ist daran interessiert, durch Zuschriften wie die Ihre die Meinung der Bür-gerinnen und Bürger zu erfahren - auch und gerade, wenn es sich um kritische Ansichten zu aktuellen Themen oder zur allgemein-politischen Lage handelt.

Allerdings steht der Bundespräsident nicht in Regierungsverantwortung. Er hat auch keine gesetzgeberischen Befugnisse, wie etwa Gesetzesvorlagen im Parlament einzubringen oder sie zu ändern. Die Verwaltung kann er nicht kontrollieren. Gerichtliches und staatsanwaltliches Handeln kann er nicht abändern oder anweisen. Zu laufenden Vorgängen, die er überdies aus eigener Anschauung nicht kennt, äußert er sich grundsätzlich nicht.

Das Amt des Bundespräsidenten ist nach unserer Verfassung repräsentativer und staatsnotarieller Art. Es ist überparteilich und steht regelmäßig jenseits aktueller tagespolitischer Auseinandersetzung. Der Bundespräsident wirkt im Wesentlichen durch sein Wort, indem er wichtige Themen anspricht, auf Probleme und kritikwürdige Sachverhalte hinweist und für Lösungen wirbt.

Für diese verfassungsrechtlichen Grenzen seines Amtes bitte ich um Verständnis.

Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag

Dr. Seegmüller 

 
 

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