Juden und Homosexualität
Das Thema ist konfliktgeladen. Denn es gibt homosexuelle Jüdinnen und Juden-
aber die Normen, auf denen das Judentum gründet, schließen homosexuelle
Menschen anscheinend aus. Wenn ich also als Jüdin oder Jude und zugleich als
homosexueller Mensch auf die Welt gekommen bin, muß ich mich diesem Konflikt
stellen. Ich kann versuchen, ihm auszuweichen, indem ich mich um die Normen
meiner Kultur oder Religion nicht kümmere und meine Homosexualität auslebe,
als gäbe es diese Normen nicht. Aber was für ein Jude, was für eine Jüdin
bin ich dann? Auf welcher Basis beruht dann noch mein Jüdischsein? Oder ich
kann versuchen, mich den Forderungen dieser Normen und der jüdischen
Gesellschaft, die sie vertritt, zu beugen, indem ich meine Homosexualität
verstecke oder gar unterdrücke. Aber was für ein Mensch bin ich dann noch,
so im Mittelpunkt meines biologischen, sozialen und kulturellen Daseins
amputiert? Das ist der Konflikt. Wir müssen die Lösung finden, beiden
Anteilen unserer Person gerecht zu werden.
Homosexualität in der hebräischen
Bibel und im Talmud
Die Normen finden wir in der
Heiligen Schrift und, mehr beiläufig, im Talmud, den für das Judentum
grundlegenden beiden Büchern. In der Bibel steht das strikte Verbot:
„Du sollst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau
schläft; ein Greuel ist das." (Wajjikra/Lev 18, 22). Und,
zwei Kapitel weiter, noch schärfer: „Wenn ein Mann mit einem
Mann schläft wie mit einer Frau- ein Greuel haben beide verübt, sterben,
ja sterben sollen sie, ihr Blut über sie!" (ebd 20, 13).
Beide Verbote stehen nicht für sich; sie sind jeweils eingebettet in
eine ganze Reihe von Verboten der verschiedensten sexuellen Praktiken.
Die Mischna (mSanhedrin 7, 4)
bekräftigt die biblische Androhung der Todesstrafe für den sexuellen
Verkehr zwischen zwei Männern). Auch wenn dies unter veränderten
Verhältnissen nur noch symbolische Bedeutung hat, zeigt es doch deutlich
die anhaltende Schärfe der Verurteilung.
Der Talmud (bSanhedrin 54a)
bekräftigt diese Einstellung. Wenn es sich um zwei erwachsene Partner
handelt und sie beide einvernehmlich handeln, müssen beide sterben,
andernfalls nur der erwachsene Partner oder der Vergewaltiger. An einer
anderen Stelle allerdings erklärt der Talmud kurzerhand, dieses Problem
existiere für das Judentum nicht, da es keine jüdischen Homosexuellen
gebe. Ein prominenter Lehrer hatte einst verboten, daß ein
unverheirateter Mann männliche Kinder unterrichte, oder daß zwei
unverheiratete Männer unter einer Decke schliefen (mKidduschin IV, 13,
15). Aber die Mehrheit hatte das Verbot nicht akzeptiert. Denn, so
verekündet der Talmud lapidar, „in Israel gibt es niemand, der schwule
Praktiken (mischkáv sachúr) betreibt" (bKidduschin 82a. Mit anderen
Worten: wer Jude ist, tut so etwas nicht. Wer es tut, ist kein Jude.
Weibliche Homosexualität wird in
der Bibel nicht erwähnt. Im Talmud wird sie ebenfalls verworfen, wenn
auch nicht so schroff wie die männliche. Ein rabbinischer Kommentar aus
der Mischnazeit (2./3. Jahrhundert u.Z.) bezieht das biblische Verbot in
Lev 18 und 20 ausdrücklich auch auf lesbische Praktiken (Sifra 9, 8). Da
die Bibel lesbische Liebe nicht erwähnt, wird ersatzweise, unter
Bezugnahme auf Lev 18, 3, auf die „Sittenlosigkeit" in Ägypten und
Kanaan hingewiesen, zu der auch die sexuelle Liebe zwischen Frauen
gehöre; diese dürfe Israel nicht nachahmen. Der Talmud sieht in
Liebesakten zwischen Frauen zwar kein „Greuel", aber doch eine
„Obszönität" (perizút, bJevamot 76a).
Begründungen der Ablehnung
von Homosexualität im Judentum
Die beiden zitierten Bibelstellen,
die männliche homosexuelle Handlungen aufs schärfste verbieten,
begründen das Verbot nicht. Diese werden lediglich als toevá
gebrandmarkt, als abscheuliches Verhalten, zumindest als ein Verhalten,
das „in die Irre führt" (bNedarim 51a).
In der späteren jüdischen Tradition
lassen sich jedoch vor allem drei Begründungen finden.
Erstens: homosexuelle Praxis sei ein Verstoß gegen die
menschliche Natur. Die intime Vereinigung von Körperteilen, die auf
Grund ihrer anatomischen Beschaffenheit dafür nicht geeignet oder nicht
für diesen Zweck geschaffen sind, sei „widernatürlich". Und schon bei
der Erschaffung der ersten Menschen sei festgelegt worden, daß der Mann
„an seinem Weibe haften" werde (Gen 2, 24). Somit sei eine sexuelle
Beziehung zwischen Männern Mann „widernatürlich" (bSanhedrin 58a).
Zweitens:
Homosexualität sei verwerflich, weil diese Praxis die Zeugung von
Kindern ausschließe und somit gegen das erste Gebot verstoße, das die
Bibel anordnet: „Seid fruchtbar und vermehrt euch!" (Gen 1, 28). Darum
sagt die Mischna lapidar: „Kein Mann darf sich der Erfüllung dieses
Gebotes entziehen, es sei denn, er habe schon Kinder" (mJevamot VI, 6).
Der Talmud verschärft die Warnung: „Wer die Zeugungspflicht nicht
erfüllt, ist mit einem Mörder zu vergleichen. Denn es heißt: ‚Wer
Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden.‘
(Bereschit/Genesis 9, 6) Aber gleich darauf folgt: ‚Seid fruchtbar und
vermehrt euch‘" (ebd Vers 7; die Sätze stehen in bJevamot 63b). Dieses
biblische Gebot schließe, so wird gefolgert, nicht nur den Analverkehr
zwischen Männern aus- Eheleuten ist dieser nicht grundsätzlich verboten,
wenn sie mit ihm sexuelle Befriedigung erreichen und nicht lediglich die
Zeugung von Kindern verhindern wollen (bNed 20a) Es untersdage darüber
hinaus jede sexuelle Handlung, ob allein oder mit anderen ausgeübt, bei
der Samen verlorengeht, der doch für die Zeugung bestimmt sei. Diesem
Argument gibt die traditionelle Auseinandersetzung mit der männlichen
Homosexualität das größte Gewicht. Vermutlich wird weibliche
Homosexualität auch deshalb milder beurteilt, weil Frauen ja nicht
zeugen, und weil Frauen diese „widernatürlichen" Praktiken ohnehin nicht
ausüben können.
Drittens
wird Homosexualität in der jüdischen Tradition verworfen, weil sie die
normale, intakte Familie zerstöre, denn der schwule Mann verlasse Frau
und Kinder, um sich mit einem Mann zu verbinden (bNed 51a und
mittelalterliche Kommentare dazu).
Umgang mit Homosexualität in den
unterschiedlichen Richtungen des Judentums
Ein Judentum, das an diesen
Traditionen festhält, kann demnach Homosexualität nicht akzeptieren.
Denn es muß ja auf der grundsätzlichen Voraussetzung bestehen, daß
alles, was in der Bibel steht, unmittelbar verbindliches Gotteswort ist,
und daß auch die mündliche Lehre im Talmud nicht irren kann. Darum leben
homosexuelle Juden und Jüdinnen nach dieser „orthodoxen" Auffassung
ständig in Sünde. Allerdings unterscheidet auch das „orthodoxe" Judentum
zwischen homosexueller Veranlagung und gelebter Homosexualität. Schon
die antiken Texte verbieten ja ausdrücklich nur homosexuelle Praktiken;
von der Homosexualität als solcher, die in Menschen angelegt ist, konnte
man damals nichts wissen. Homosexualität als Veranlagung wird heute auch
von manchen „orthodoxen" jüdischen Autoren akzeptiert. Diese Autoren
deuten diese Veranlagung allerdings als krankhaft. Sie fordern, daß die
Homosexuellen sich ärztlich behandeln lassen. Vor allem verlangen sie
aber, daß diese auf jede sexuelle Handlung mit gleichgeschlechtlichen
Partnern verzichten. Denn krank zu sein, ist keine Sünde. Sünde wäre es
jedoch, nichts gegen sie zu tun oder gar, wie immer wieder befürchtet
wird, andere mit ihr anzustecken.
Zeitgenössische „orthodoxe"
Autoren,
die sich in den letzten Jahrzehnten auf der Grundlage der Tradition
ausführlich zu dem Thema geäußert haben und sich bemühen, dem
homosexuellen jüdischen Menschen gerecht zu werden, ohne allerdings
Konzessionen auf Kosten der Tradition zu machen, gestehen auch zu, daß
man die „Sündhaftigkeit" homosexueller Praktiken nicht schärfer bewerten
dürfe als andere Sünden gegen die überlieferten Gebote auch, etwa den
Bruch der Sabbatruhe, die Mißachtung der Speisegesetze oder soziales
Fehlverhalten. Diese Beurteilung ist ein Fortschritt gegenüber der
früher herrschenden, unreflektierten Homophobie, denn sie relativiert
die „Sündhaftigkeit" der praktizierten Homosexualität, indem sie diese
nicht mehr als schlechthin „abscheulich" hinstellt, vielmehr in ihr eine
Sünde unter anderen sieht, von Juden und Jüdinnen die weit häufiger
begangen werden und die die jüdische Gemeinschaft womöglich weit mehr
belasten. Doch eine generelle Akzeptanz der Homosexualität bleibt auch
für diese „orthodoxen" Autoren ausgeschlossen. Der homosexuelle Jude,
die lesbische Jüdin gehören weiterhin zur Gemeinde, gewiß, sie werden
nicht ausgeschlossen. Doch als Homosexuelle stehen sie dennoch, solange
sie ihre Homosexualität auch leben, unter dem Verdikt der Sünde.
Die ungelehrten Mitglieder
„orthodoxer" jüdischer Gemeinden, also die große Mehrheit, werden diese
Unterscheidungen kaum zur Kenntnis nehmen. Schwule Juden und lesbische
Jüdinnen werden in solchen Gemeinden weiter unter dem schweren Druck der
traditionellen Homophobie leben müssen. Sich offen zu seiner
Homosexualität zu bekennen, wird hier niemand wagen, der Ausschluß wäre
unvermeidlich. Die Ängste, Selbstzweifel und neurotischen Störungen bei
den jüdischen Schwulen und Lesben, die auf Grund ihrer Lebensgeschichte
dennoch in einer „orthodoxen" Gemeinde ihre Heimat sehen, kann man nur
ahnen.
Die zweite große Gruppe im heutigen
religiös definierten Judentum, die vor allem in den USA großen Einfluß
hat, die „konservative", urteilt in ihren Worten
milder, kaum jedoch in der Sache. Auch sie empfiehlt ihren jüdischen
homosexuellen Mitgliedern den Verzicht auf ein sexuelles Leben als
einzig legitime Lösung. Allerdings sind sich die Autoritäten dieser
Gruppe nicht ganz einig. Einer von ihnen, Rabbi Elliott Dorff, nennt die
Aufforderung an Schwule und Lesben zu sexueller Enthaltsamkeit sogar
„unglaublich grausam".
Auch die dritte große Gruppe, die
der „reformierten"
Juden und Jüdinnen, hat zur Homosexualität- diese immer
ganzheitlich, also auch als gelebte Praxis verstanden!- keine
einheitliche Meinung. Sie teilt jedoch überwiegend nicht den rigiden
Standpunkt der „Orthodoxen" und auch der meisten „Konservativen". Denn
sie akzeptiert schon deren Voraussetzung nicht, daß Bibel und Tradition
unveränderbar und darum auch von heutigen Menschen gehorsam so
hinzunehmen seien, wie sie überliefert wurden. Man müsse vielmehr, so
die Überzeugung im „reformierten" Judentum, beide, Bibel und Tradition,
zunächst geschichtlich sehen, das heißt: im Licht der Zeit, in der sie
entstanden sind. Und man müsse, wenn sich neue Erkenntnisse ergeben,
auch den Mut haben, alte Urteile zu revidieren. Ferner müsse man auch im
Judentum die eigenen religiösen Traditionen und Überzeugungen mit den
Informationen und Einsichten moderner Wissenschaft in Einklang bringen
und dürfe sich der Realität, die sie frei legt, nicht in dogmatischer
Starre verschließen. Diese Prinzipien ermöglichten vielen
Reformgemeinden auch eine offenere Einstellung gegenüber schwulen wie
lesbischen jüdischen Menschen. Im spontanen Umgang miteinander stoßen
Schwule wie Lesben allerdings auch in solchen Gemeinde gelegentlich auf
heftige Äußerungen von Homophobie.
Argumente für einen anderen
Umgang mit Homosexualität
Im Einzelnen finden wir heute im
Umkreis eines „reformierten" Judentums- und erst recht bei den
Vertretern eines säkularen oder „humanistischen"- vor allem folgende
Argumente für einen freieren Umgang mit Homosexualität:
Zunächst habe die neuere
Bibelerforschung gezeigt, daß die beiden Bibelverse, die vor allem eine
jüdische Verurteilung der Homosexualität begründen sollen, keineswegs
eindeutig sind, sondern viele Probleme aufwerfen, die der Diskussion
bedürfen. So lege der Zusammenhang, in dem diese Verse stehen, die
Vermutung nahe, es handle sich hier um ein Verbot der einst in der
Umwelt blühenden männlichen Tempelprostitution zu deuten, von der
Israels Männer sich, um der „Heiligkeit" des Volkes willen, fernzuhalten
hatten. Die Honmosexualität im heutigen Sinn sei in diesen Versen gar
nicht gemeint.
Weiter: was man heute
„Homosexualität" nennt, ist mehr als nur eine sexuelle Praxis; es ist
sexuelle Praxis, eingebettet in einen viel größeren anthropologischen,
psychosozialen und kulturellen Zusammenhang und kann nur in diesem
gesamten Kontext beurteilt werden.
Schließlich und vor allem: man
müsse auch die homosexuellen Menschen im Licht der übergeordneten
biblischen Aussage sehen, daß jeder Mann und jede Frau nach dem Bild und
Entwurf Gottes geschaffen wurde (Bereschit/Genesis 1, 27). Daß dies die
zentrale Aussage der Tora sei, das zentrale Gebot, von der her alle
anderen interpretiert werden müßten, hat schon ein antiker rabbinischer
Lehrer, Ben Azzai, bekräftigt (Sifra Kedoschim II, 4, 12). Das müsse
auch für den homosexuellen Menschen gelten, Mann wie Frau. Daraus folge,
daß man Homosexualität nicht mehr als „widernatürlich" diffamieren
dürfe. Diese sei vielmehr eine gleichwertige Variante der menschlichen
Sexualität, die dieselbe Akzeptanz fordern dürfe wie die heterosexuelle.
Auch die von den heutigen
Verfechtern der Tradition vorgebrachten drei Hauptargumente gegen die
Homosexualität, die ich genannt habe, können leicht widerlegt werden,
ohne daß man dabei den Boden des Judentums verlassen muß.
Der erste Einwand, Homosexualität
sei „gegen die menschliche Natur", hält einer Prüfung im Licht heutiger
sexualkundlicher Erkenntnisse ebensowenig stand wie die Behauptung, es
handle sich um eine Krankheit. Diese letztere Ansicht wurde gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts (von Krafft- Ebing 1893) zuerst vertreten
worden und war seitdem weit verbreitet, bis sie von der modernen
Sexualforschung widerlegt wurde. Wir wissen heute, daß es eine einzige,
„natürliche" Form menschlicher Sexualität nicht gibt und nie gegeben
hat. Immer hat es nicht nur viele Varianten sexuellen Verhaltens
gegeben, sondern auch fließende Übergänge von einer Variante zur anderen
in ein und demselben Menschen, nacheinander wie nebeneinander.
Die erwähnte Auffassung
„orthodoxer" Autoren von der Homosexualität als einer krankhaften
Abirrung der Geschlechtlichkeit, die vermutlich dem jüdischen Schwulen
und der jüdischen Lesbe entgegenkommen soll, stellt uns auf eine Stufe
mit tatsächlich kranken Triebtätern und anderen psychisch schwer
gestörten Sexualneurotikern. Sie hilft niemand, sie beleidigt nur. Nicht
die Homosexuellen bedürfen der Heilung, sondern die Homophoben, hinter
deren starren, tief verwurzelten Vorurteilen, sich auch viele
Verdrängungen eigener lustvoller Wünsche verbergen.
Daß homosexuelle Paare gegen eigene
Nachkommenschaft eingestellt seien, wird von vielen Schwulen und Lesben
widerlegt, die miteinander Kinder aus einer früheren Ehe eines Partners
oder einer Partnerin aufziehen oder solche adoptiert haben oder gern
adoptieren würden, wenn die Gesetze dies erlaubten.
Und daß ein Mensch, der seine Homosexualität erst nach der Eheschließung
entdeckt, manchmal erst Jahre später, und deshalb meint, seine Ehe
aufgeben zu müssen, ist nicht typisch für Schwule oder Lesben. Denn in
heterosexuellen Beziehungen kommt es aus ganz anderem Grund
unvergleichlich häufiger zum Bruch, etwa infolge einer langsamen
Entfremdung, einer plötzlich eintretenden Orientierung auf einen anderen
Partner oder infolge der Krankheit eines Partners, die vom anderen nicht
mehr ertragen wird.
Plädoyer für eine schwule und
lesbische Spiritualität
In der Literatur, die ich unten
angebe, finden wir noch andere Erwägungen und Argumente, die die
traditionellen, „orthodoxen" und ihr verwandten Positionen relativieren
oder zurechtrücken und jüdischen homosexuellen Menschen zeigen können,
wie sie zugleich mit ihrem Judesein und mit ihrem Schwul- oder
Lesbischsein zurechtkommen und beides in der eigenen Person integrieren
können. Wir müssen, wenn wir seelisch gesund und ganz sein wollen, zur
Einheit von beidem finden, und wir können es auch. Wir können uns aber
nicht ohne Schaden dazu bereit finden, als jüdische Schwule und Lesben
nur die eine Seite unserer menschlichen Existenz zu leben und die andere
zu verdrängen oder uns ganz unnötig mit einem schlechten Gewissen zu
quälen. Die jüdische Tradition gibt uns, bei Licht besehen, durchaus die
Möglichkeit einer selbstbewußten schwul- jüdischen oder lesbisch-
jüdischen Existenz.
Wichtig ist, daß wir als jüdische
Schwule und Lesben nicht allein bleiben. Wir dürfen uns, wenn wir uns
nicht selbst beschädigen wollen, nicht isolieren. Andernfalls verlieren
wir den Zusammenhang mit allem, was unser Jüdischsein tragen, stärken
und befruchten kann, das heißt: mit den unaufgebbaren Werten unserer
jüdischen Tradition. Wir dürfen aber auch deshalb nicht allein bleiben,
weil wir als jüdische Schwule und Lesben einander brauchen, um dem
Druck, der von außen auf uns lastet, standhalten und um uns gemeinsam in
der jüdischen Gemeinschaft als Gleichberechtigte und Willkommene
durchsetzen zu können.
In den USA gibt es heute, in
einigen Städten, eigene Synagogen für Schwule und Lesben. Das ist in
Deutschland undenkbar, und ich weiß auch nicht, ob es wünschenswert
wäre, weil es zu einer neuen Art von Ghetto führen kann. Aber Gruppen
jüdischer Schwulen und Lesben sollten wir überall bilden, in denen wir
uns als jüdische Lesben und Schwule zusammentun, um miteinander zu
lernen, einander zu ermutigen und Freude zu schenken, und um als Gruppe
gestärkt auch in den Gemeinden unser Daseinsrecht einzufordern. Das
können wir nur, wenn wir viele werden und aus der Anonymität
herauskommen. Die Anfänge sind da und dort schon gemacht.
Literatur:
Es gibt derzeit kein Buch in deutscher Sprache zu unserem Thema. Arthur
Hertzberg, Judaismus. Die Grundlagen der jüdischen Religion, Reinbek
1996, S. 165ff. bietet immerhin eine kurze, informative Übersicht über
die verschiedenen jüdischen Standpunkte. Für eine eingehende
Beschäftigung mit unserem Thema kann ich aber nur englischsprachige
Bücher nennen. Dabei beschränke ich mich auf wenige, besonders wichtige
Werke. In jedem von ihnen findet man weitere Literatur.
Einen guten sachlichen Überblick ohne ideologische Wertungen gibt:
Lewis John Eron, Homosexuality and Judaism, in: Arlene Swidler
(ed): Homosexuality and World Religions, Valley Forge/Pennsylvania 1993,
S. 103-134; interessant auch wegen des Darstellung der Konzepte in den
anderen Religionen.
Der „orthodoxe" Standpunkt wird knapp und klar dargestellt in:
Norman Lamm, Judaism and the Modern Attitude to Homosexuality,
in: Encyclopaedia Judaica Yearbook 1974, S. 194-205
Für die Behandlung der Sexualität im Talmud ist lehrreich: Daniel
Boyarin, Carnal Israel. Reading Sex in Talmudic Culture,
California University Press 1993
Rachel Biale, Women in Jewish Law, The Essential Texts,
their History and their Relevance for Today, New York 1995, enthält auch
das gesamte rabbinische Material zur weiblichen Homosexualität.
Eine ausführliche Darstellung der Rolle von Sexualität im Judentum von der
Bibel bis zur Gegenwart mit knappen Hinweisen zur Homosexualität gibt
David Biale, Eros and the Jews. New York 1997.
Ausführliche Aufsätze zur Homosexualität von Männern und Frauen, sowohl
vom traditionellen wie vom reformierten Standpunkt aus und auch aus dem
Selbstverständnis von jüdischen Schwulen und Lesben enthält der wichtige
Sammelband: Jonathan Magonet
(ed): Jewish Exploring of Sexuality. Providence/USA 1995
Für unser Nachdenken über uns selbst als jüdische Schwule und Lesben
schwer entbehrlich ist schließlich der Sammelband: Christie
Balka/ Andy Rose (ed): Twice blessed. On Being Lesbian or Gay
and Jewish. Boston/Beacon Press 1989
zum Verfasser:
Prof. Dr. Felice-Judith Ansohn (Medizin,
Geschichte), lebt in Berlin und ist Mitglied von
Yachad, einer Gruppe für schwule, lesbische und transsexuelle Juden
und Jüdinnen sowie des
egalitären Minjan.
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