Allgäuklettergeschichte

Dass das Klettern im Allgäu eine lange Tradition hat wollen wir mit dieser Chronik zeigen.

Stefan Meineke Autor des Allgäukletterführer hat uns netterweise seine Allgäu Kletterchronik für unsere Seiten zur Verfügung gestellt. 

Allgäu Kletterführer von Stefan Meineke
ISBN 3-931 982-08-4
Neuauflage für 2004 geplant.

Kletterführer von Stefan Meinecke

Rückblick von Stefan Meineke auf ein Jahrhundert Allgäuer Klettergeschichte. Stand 1999/2000

So bekannt die Allgäuer Alpen als ein Wanderparadies „par excellence" sind, so weitgehend unbekannt sind die Klettermöglichkeiten geblieben, die die größte deutsche Hochgebirgsgruppe mit ihren 225 selbständigen Berggipfeln zu bieten hat. „Allgäu - ach was, Grasberge, Mugel" - dieses Vorurteil, gegen das der Pionier des Allgäuer Sportklettern, Josef Enzensperger, schon um die Jahrhundertwende zu Felde gezogen ist, markiert eine einst wie jetzt weitverbreitete Auffassung. Mit den Klettertouren sind auch deren Begeher in Vergessenheit geraten. Unter dem Stichwort „Erschließungsgeschichte" findet sich in dem zuständigen Alpenvereinsführer allein ein knapper Hinweis auf Hermann von Barth und Anton Waltenberger - zwei Persönlichkeiten, deren Wirkungszeit nun schon fast 150 Jahre zurückliegt. Von der klettersportlichen Erschließung des Allgäus erfährt man dagegen nichts - so als ob seit den seligen Tagen Hermann von Barths die Zeit in den Bergen rund um Oberstdorf stehengeblieben wäre.

Fast alle bedeutenden Allgäuer Hochgipfel waren bis 1870 von den Trupps der bayerischen Landesvermessung sowie von naturkundlich interessierten Geologen, Botanikern und Heimatforschern betreten worden. Wissenschaftliche Zwecke standen bei diesen frühen Unternehmen im Vordergrund. Mehr als in anderen Gebirgen beteiligten sich im Allgäu aber auch einheimische Hirten und Jäger an der Erschließung. So war der schwierigste Gipfel im Allgäuer Hauptkamm, die schon auf ihrem Normalweg leichte Kletterei erfordernde Trettachspitze, bereits 1855 durch die drei Gebrüder Jochum aus Birgsau über ihren Nordostgrat (II) erstbestiegen worden. Mehr als dreißig Jahre sollten vergehen, bis sich 1886 die ersten „führerlosen" Touristen an die kühne Felsnadel wagten.

Frühe Pioniere des Klettersports: Josef Enzensperger, Adolf Schulze und Hermann Rädler

In den 1890er Jahren vollzogen sich im Allgäu zwei Entwicklungen, die insgesamt das moderne Bergsteigen prägen sollten. Mit der Einweihung von Kemptner Hütte (1892) und Heilbronner Weg (1899) kam der vom Alpenverein betriebene Hütten- und Wegebau zu seinem vorläufigen Abschluß. Bald schon entwickelte sich das Allgäu zum bevorzugten Ziel eines rasant zunehmenden alpinen Wandertourismus. Während nun auch die unschwierigen Hochgipfel einen immer stärkeren Besuch erhielten, wandte sich das Interesse der Kletterer den großen Graten und Wänden des Gebirges zu. Vor allem dem publizistischen Wirken des in Sonthofen beheimateten Josef Enzensperger (1873-1903) war es zu verdanken, wenn das Allgäu um die Jahrhundertwende einen stetigen Zustrom von Münchner Spitzenkletterer zu verzeichnen hatte. Der charismatische Enzensperger, Mitbegründer des seit 1892 bestehenden Akademischen Alpenvereins München und schon 1903 als Dreißigjähriger auf der ersten deutschen Antarktisexpedition verstorben, warb in zahlreichen Aufsätzen für einen Besuch der Allgäuer Kletterberge. Höhepunkt von Enzenspergers Tätigkeit als Kletterer bildete das Jahr 1894: Am 16. September gelang ihm zusammen mit seinem Bruder Ernst und Karl Neumann die Erstbegehung der Südwand der Trettach (IV+). „Der Aufstieg - so beschrieb Josef Enzensperger später in der Zeitschrift „Alpenfreund" die Kletterei - vollzieht sich durch einen Kamin auf einen schmalen Felspfeiler, der weit in die furchtbare, wohl 600m unvermittelt in die Wilden Gräben abstürzende Wand hinausgebaut ist. Die über diesen Felspfeiler sich erhebende Plattenwand ist von äußerster Schwierigkeit und bietet erst nach 38 bis 40 Metern Höhe den ersten kleinen Ausruh- und Versicherungspunkt." Enzensperger zählte seine Neutour zu den schwierigsten Klettereien im gesamten Alpenraum.

Mit der fünften Begehung der Trettach Südwand startete 1899 ein Vereinskamerad von Enzensperger eine an spektakulären Erfolgen reiche Kletterkarriere. Der heute selbst bei Kennern der Alpingeschichte in Vergessenheit geratene Adolf „Lolo" Schulze, der 1903 als Erstbesteiger des zuvor von den besten Seilschaften Europas vergeblich versuchten Uschba-Südgipfels (Kaukasus) zu internationalem Ruhm gelangte, führte in allen Teilen der Alpen überaus schwierige Klettertouren durch. Sein Lieblingsgebiet aber bildeten die Allgäuer Alpen, in denen er - oft in Begleitung seines Bruders Gustav - mehr Erstbegehungen realisieren konnte als jeder andere nach ihm in diesem Gebiet tätig gewordene Kletterer. Bereits bei der Wiederholung der Trettach Südwand gab Schulze sein außergewöhnliches Talent zu erkennen. Es gelang ihm, zu der gefürchteten Einstiegseillänge der Enzenspergerführe eine wesentlich sichere Variante zu finden, die auch noch heute üblich ist. 1900 vollbrachte Schulze an der Trettachspitze ein neues Husarenstück. Nach der ersten Wiederholung der Westwand (III) führte er noch am selben Tag zusammen mit seinem Bruder Gustav die erste Abstiegsbegehung der Südwand (IV-) mit anschließender Besteigung der Mädelegabel über ihren Nordgrat durch. Dieses Kunststück wiederholte Schulze zwei Jahre später. Sein Klettertempo muß beachtlich gewesen sein, denn von der Mädelegabel stieg Schulze nicht etwa über den Normalweg zum Waltenberger Haus ab, sondern er blieb der Grathöhe treu und überschritt in östlicher Richtung den höchsten Teil des Allgäuer Hauptkammes bis zum Hohen Licht. Neben diesen und anderen Wiederholungen führte Schulze allein im Sommer des Jahres 1900 zwölf Erstbegehungen im Allgäu aus; davon besonders viele rund um die Hermann von Barth-Hütte. Der Haus- und Kletterberg der Hütte, die Wolfebenerspitze, war von Schulze sogar im Alleingang erstbestiegen worden. Die Krönung des Klettersommers erfolgte aber am 5. September. Mit der Erstbegehung des düsteren Südkamins der Südlichen Wolfebnerspitze führte Schulze zusammen mit seinem Gefährten Felix von Cube den V. Grad im Allgäu ein. Dabei hatte sich der Kamin vom Einstieg alles andere als einladend präsentiert: „Senkrecht, mit glatten Wänden, oben durch einen mächtigen, gelben Überhang abgesperrt, spaltet er die ganze Wand von oben bis unten." Trotzdem gelang die „Lösung des vornehmsten Problems an den Wolfebnerspitzen". Ein 1989 von Achim Groh erstellter „Kletterführer Hermann von Barth-Hütte" spricht mit Recht von einer oft „unterschätzten Tour", die eine „äußerst umsichtige Kletterei" erfordert und gibt als Schwierigkeitsgrad eine Stelle V+, vielfach V an. 1902 wiederholte Schulze nicht nur den Südkamin, sondern ging die beiden letzten großen Probleme der Allgäuer Alpen an. Zusammen mit seinen Gefährten Karl Beindl (*1884-?) und Julius Engelhardt (1883-1964) erkletterte er am 8. September in gut sieben Stunden die 450m hohe, von Enzensperger noch für unmöglich gehaltenen Ostwand der Trettach (IV+). Damit nicht genug, überkletterte er schon eine Woche später den wildzerissenen und türmereichen NNW-Grat der Krottenspitze (IV-). Trotz der kürzer werdenden Tage brauchte Schulze auf dem über einen Kilometer langen Grat kein Biwak zu beziehen. Für die Erstbegehung der mit fast 30 Seillängen längsten Allgäuer Klettertour benötigte er lediglich fünf Stunden - eine Zeit, die heute von den meisten Wiederholern überschritten wird. Mit diesen beiden letzten großen Erstbegehungen war Schulze, der 1912 als Goldsucher nach Bolivien auswanderte, dort die höchsten Gipfel der Cordillera Real (erst-)bestieg und 1971 im gesegneten Alter von 91 Jahren in der Hauptstadt des alten Inkareiches Cusco (Peru) verstarb, endgültig zum erfolgreichsten Erschließer der Allgäuer Bergwelt avanciert.

Nicht die schwierigste, wohl aber die spektakulärste Erstbegehung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gelang einem Einheimischen, dem Langenwanger Lehrer Hans Rädler (1876-1974). Im Sommer 1910 erkletterte er den eleganten, fast 1000m hohen Südwestgrat des Himmelhornes, der seitdem seinen Namen trägt. Bis heute steht der Rädlergrat in dem Ruf eine besonders ernsthafte Kletterfahrt zu sein. Dazu hat sicherlich auch der steile Gras- und Schrofenvorbau beigetragen, mit dem der Grat im Oytal ansetzt. Noch vor dem Beginn der eigentlichen Schwierigkeiten werden hier jedem Begeher bergsteigerische Fähigkeiten abverlangt, die sich nicht antrainieren, sondern nur in vielen alpinen Lehrjahren erwerben lassen. Als Rädler seine Erstbegehung wagte, ließ er sich auf ein wirklich verrücktes Abenteuer ein, denn die senkrechte 60m-Felswand, die nach 450 Metern teilweise extrem ausgesetzter Gratkletterei den Aufstieg zum Gipfel sperrt und heute mit V/A0 bewertet wird, war für den Alleingänger nicht kletterbar. Rädler schien in eine tödliche Falle geraten zu sein. Er konnte sich nur aus ihr befreien, indem er die 60m-Wand durch eine kriminell brüchige und steile Grasrinne umging.

Die zwanziger und dreißiger Jahre: Klassische Freikletterei in „großen Wänden"

 

Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte auch in den Allgäuer Alpen der Durchbruch zum VI. Grad. Mit nur wenigen Haken, dafür aber um so mehr Mut wandte sich eine neue Klettergeneration nun vorzugsweise jenen Wänden zu, die man bislang aufgrund ihrer Geschlossenheit gemieden hatte. Eine Glanztat des heroischen Alpinismus stellte die Erstbegehung der rot-gelben Ostwand des Schnecks dar, die 1922 dem noch jungen Oberstdorfer Philipp Risch gelang. Er soll mit nur drei Haken ausgekommen sein - eine unglaubliche Zahl, denn heute steckt ungefähr das Zehnfache, ohne daß man eine „Übernagelung" beklagen müßte. Nachdem Wiederholungsversuche einheimischer Kletterer scheiterten und sich sogar ein tödlicher Unfall ereignet hatte, traten immer mehr Zweifler auf, die Risch seinen Erfolg nicht glauben wollten. Insgesamt 14 Jahre sollten vergehen bis endlich im Sommer 1936 der Oberstdorfer Seilschaft Ignaz Vogler und Otto Niederacher die Zweitbegehung glückte, weitere zehn Jahre gingen ins Land bis 1946 die Drittbegehung folgte. Aufgrund ihrer kompromißlosen Freikletterstellen in nicht immer vollkommen festem Gestein blieb die Route bis in die siebziger Jahre gefürchtet. Erst mit der Einführung der Klemmkeiltechnik trat eine Wende ein. Jetzt konnten auch Passagen abgesichert werden, in denen man früher auf Gedeih und Verderb hatte weiterklettern müssen.

Die großartige Leistung Rischs fand in der deutschen Kletterszene so gut wie keine Beachtung. Nachdem sich die Münchner Kletterelite zu Beginn der zwanziger Jahre weitgehend aus dem Allgäu zurückgezogen hatte und sich immer mehr auf den Wilden Kaiser konzentrierte, wurde die extreme Kletterei in den Bergen rund um Oberstdorf fast nur noch von Einheimischen betrieben. Deren Neigung, über die eigenen Taten in schriftlicher Form zu berichten, war nicht besonders ausgeprägt. So fand die weitere Erschließung der Allgäuer Alpen unter Ausschluß der breiten Öffentlichkeit statt. Auch die Schneck-Ostwand wurde erst bekannt, als Anderl Heckmair, dem 1947 die Viertbegehung gelungen war, 1949 im „Bergsteiger" einen Aufsatz veröffentlichte, in dem er den Anstieg mit der berühmten Nordwand der Großen Zinne verglich.

Seit Beginn der dreißiger Jahren erlebte das Klettern im Allgäu einen regelrechten Boom. In Oberstdorf, Immenstadt, Sonthofen und Hindelang waren verschiedene schlagkräftige Seilschaften herangewachsen. Durch die zwischen 1933-1936 von Hitler gegenüber Österreich verfügte „Grenzsperre" musste sich das klettersportliche Interesse zwangsläufig auf die Heimatberge konzentrieren. Mit dem Ausbau der Gebirgsjägertruppen sowie der Gründung einer „Bergsteigergruppe" an der Eliteschule der NSDAP in Sonthofen („Ordensburg") kamen zusätzlich auch wieder hervorragende auswärtige Kletterer ins Allgäu. Der Bamberger Hans Lobenhoffer, der aus Bonndorf im Schwarzwald stammende Franz Tröndle sowie der in München geborene Anderl Heckmair stehen für diesen neuen Trend. So wurden in den dreißiger Jahren gleich reihenweise neue Routen durch die „großen Wände" des Allgäus gelegt. Im Sommer 1935 verzeichnete man mit sieben bedeutenden Erstbegehungen einen Höhepunkt. Aufgrund der Größe des Gebirges kam es dabei zu einer Art Arbeitsteilung: An der Trettachspitze und in den grasdurchsetzten Wänden der Höfatsgruppe waren vor allem die Oberstdorfer (Ignaz Vogler, Kaspar Schwarz, Franz Faschingleitner, Ludwig Zint) und Immenstädter Kletterer (Anton Stolze, Sepp Prinz) unterwegs, während sich die aus dem Ostrachtal und seiner Umgebung stammenden oder dort ansässig gewordenen Bergführer (Willy Wechs, Franz Tröndle, Hans Lanig, Luis Blanz) vorwiegend in der Hochvogel- und Daumengruppe betätigten. Klettertechnisch erreichte wohl Franz Tröndle mit seiner 1934 im Kamm der Fuchskarspitzen erschlossenen Madonna-Ostwand (VI/A0) das höchste Niveau. Für die nur 120 Meter hohe Plattenwand benötigte Tröndle einen vollen Tag Vorbereitung. In der teilweise überhängenden Ausstiegsseillänge wurden erstmals im Allgäu auch mehrere Haken zur Fortbewegung eingesetzt – ein erster Vorgeschmack auf den Kletterstil der fünfziger Jahre. Technisches Klettern blieb aber ansonsten im Allgäu so gut wie unbekannt. Die Erstbegehungen jener Zeit folgten ausnahmslos dem Ideal klassischer Freikletterei. Zum Abschluß kam diese Erschließungsperiode mit den im Juli 1940 im Abstand von nur wenigen Tagen durch Hans Lanig bzw. Willy Wechs realisierten Erstbegehungen der Südwest- und Nordostwand des Hochvogels. Auch das Winterbergsteigen erlebte Ende der dreißiger Jahre eine kurze Blüte. Im März 1941 wurden die letzten und zugleich größten Unternehmungen durchgeführt. Expeditionscharakter besaß die von Willy Wechs geleitete erste Winterdurchquerung der Hornbachkette, bei der in fünfeinhalb Tagen zwölf Gipfel bestiegen wurden; die Kemptener Martin Recher und Karl Gaulhofer durchstiegen im gleichen Monat die 450 Meter hohe Gerade Ostwand der Trettach (VI-/A0) - eine durchweg anspruchsvolle Kletterei, die 1934 von Hans Lobenhoffer erstbegangen worden war.

Auf der Suche nach den „letzten Problemen" – die Ära von Albert Kleemaier und Michael Tauscher

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann im Allgäuer Bergsport wie auch im gesamten Alpinismus ein neues Zeitalter. Fast alle bedeutenden Wände hatten in den dreißiger Jahren einen Anstieg erhalten. Unberührt geblieben waren nur jene Wandabstürze, bei denen schon auf den ersten Blick zu erkennen war, daß sie aufgrund ihrer extremen Steilheit mit Freikletterei allein nicht zu bewingen waren. Im Allgäu waren solch schroffe Felsformationen eine Seltenheit, doch am Ende des Oytales gab es zwei dieser Wände: die aus einem riesigen Bergsturz entstandene Südwestwand des Kleinen Wilden und die Südwand des Himmelhornes. Die besten Allgäuer Kletterer der Nachkriegszeit fanden an diesen Wänden ihr Betätigungsfeld. Der Kemptner Albert „Ali" Kleemaier (1928-1992) war der unbestrittene „Star" jener Jahre. Mit frühen Wiederholungen der Dru-Westwand und der Direkten Nordwand der Großen Zinne festigte er seinen Ruf, einer der leistungsstärksten Kletterer Deutschlands zu sein. Im Allgäu und in den benachbarten Tannheimern war keine Wand vor ihm sicher. Neben einer ganzen Reihe von gewagten Alleingängen (u.a. Trettach, Gerade Ostwand) und ersten Winterbegehungen (u.a. Schneck, Ostwand) gelangen ihm an seinen Heimatbergen annähernd ein Dutzend Erstbegehungen im V. und VI. Grad. Dabei war das in den Nachkriegsjahren zur Verfügung stehende Material oft mehr als mangelhaft. Bei der Winterbegehung der Trettach-Südkante kletterte Kleemaier sogar barfuß, um dann beim Abstieg in die mitgeführten Skischuhe zu schlüpfen. Später bemühte er sich, die Sohlenfestigkeit seiner Kletterschuhe durch Feuerwehrschläuche zu erhöhen. Sein klettersportliches Meisterstück bildete zweifellos die 1955 zusammen mit Max Nieberle eröffnete Südwestverschneidung am Kleinen Wilden (A2, VI). Die eindrucksvolle, von zahlreichen Dächern gesperrte Verschneidung stellte sowohl in freier wie auch in technischer Kletterei den Vorstoß in eine im Allgäu bislang unbekannte Dimension des Kletterns dar. Denn anders als in den Extremrouten der dreißiger Jahre beschränkten sich die Höchstschwierigkeiten nicht auf wenige Schlüsselstellen, sondern hielten nahezu kontinuierlich an. Für die damalige Ausnahmestellung Kleemaiers war es bezeichnend, daß er im Mai 1957 auch die Zweitbegehung seiner Erstbegehung durchführen konnte - sämtliche Wiederholungsversuche anderer Kletterer waren zuvor gescheitert.

Dem Oberstdorfer Bergführer Michael Tauscher (* 1937) blieb es zusammen mit Willi Teufele vorbehalten, mit der Südwand des Himmelhorns (VI-/A2-A3) das letzte bedeutende Wandproblem in den Bergen rund um Oberstdorf zu lösen. Ein markanter, die Wand fast in ihrer Mitte teilender Riss gab die Wegführung zwingend vor. Doch um den Rissbeginn zu erreichen, war ein gewaltiger 8m-Überhang zu überwinden. Erst nach achttägigen Vorarbeiten, bei denen erstmals im Allgäu auch Bohrhaken zum Einsatz kamen, ergab sich das Ungetüm. Im Gegensatz zu vielen anderen Spitzenkletterern blieb Tauscher seinen Heimatbergen auf Dauer verbunden. Mit mehr als 200 Trettachbesteigungen und 30 Begehungen des Rädlergrates dürfte er heute der beste Kenner der Allgäuer Alpen sein. Noch als Fünfzigjähriger meisterte er Extremklassiker wie den Schwarzen Riß (V+) an der Trettach im seilfreien Alleingang - beeindruckende Leistungen, die nie bekannt geworden sind.

Jenseits des VI. Grades – die sportklettertechnische Nacherschließung seit Ende der achtziger Jahre

 

In den vergangenen zehn Jahren hat auch das sportliche Plaisirklettern im Allgäu Fuß gefaßt. Das Klettern in letzter Konsequenz ein steter Kampf ums Überleben ist, da jeder Sturz ein unkalkulierbares Risiko bedeutet - dieses Ideal des heroischen Alpinismus, dem von Preuß bis Messner gehuldigt worden ist, findet heute nur noch wenige Anhänger. Das Pendel ist auch im Allgäu in die andere Richtung ausgeschlagen. Klettern darf, ja soll Spaß bereiten und dazu kann nach überwiegender Auffassung mehr als alles andere eine zuverlässige Sicherung beitragen. Im Zuge dieses Einstellungswandels ist der früher verpönte Bohrhaken nicht nur salonfähig geworden, sondern er wird nun konsequent als Standardabsicherung eingesetzt. Seit Mitte der neunziger Jahre haben sich einheimische Kletterer wie Kristian Rath, Markus Berktold und Albert Schwarz jun. mit viel Idealismus um die Sanierung der alten Klassiker bemüht. Inzwischen sind fast alle lohnenden Kletterwege mit soliden Bolts ausgestattet worden. Ohne Übertreibung kann daher festgestellt werden, daß das Klettern im Allgäu noch nie so sicher gewesen ist wie heute.

Während die Sanierungsarbeit vor allem dem Liebhaber mittlerer Schwierigkeiten zu Gute kommt, wird sich der Sportkletterer vor allem für die in den letzten Jahren erschlossenen Neutouren interessieren. Durch ihre Eleganz und meist gute Absicherung strafen sie das Vorurteil Lügen, im Allgäu solle man das Klettern besser den Gemsen überlassen. Der Bad Oberdorfer Hartmut Wimmer entdeckte 1987 den wunderbaren Plattenkalk der Wiedemer Nordwand und kreierte in Sichtweite des Luitpold-Hauses drei schwierige Sportkletterwege (VII+ bis VIII). Der vor allem durch seine extrem schwierigen Eisklettereien bekannt gewordene Waldshuter Bergführer Robert Jasper führte zu Beginn der neunziger Jahre am Kleinen Wilden, an der Trettach und am Östlichen Wengenkopf in Begleitung von Stefan Meineke bemerkenswerte Neutouren durch. Alle Routen wurden ohne vorherige Erkundung von unten erstbegangen, so daß zwischen den einzelnen Haken oft längere Freikletterpassagen zu meistern sind. Trotz vieler schöner Kletterstellen stellen diese Routen keine leicht verdauliche Plaisirkost dar. Mit der inzwischen von einem Bergsturz zerstörten Führe „Jenseits von Gut und Böse" (um IX) am Kleinen Wilden und „La Traviata" (VIII+) am Wengenkopf gelang dem Duo auch die Erstbegehung von zwei Spitzenrouten. Moralisch anspruchsvoll ist auch die von den Gebrüdern Kopp 1992 mit nur einem Zwischenhaken ausgestattete Führe „Hey Joe" (VI-), die am weltenfernen Nordwestwandsockel des Hohen Lichts zu suchen ist. Anstehen am Einstieg muß man hier bestimmt nicht! Der aus Freiburg stammende, aber in der Nähe von Überlingen am Bodensee aufgewachsene Patrick Henrichs begann sich zur gleichen Zeit für die südlichen Vorposten des Allgäus, Biberkopf und Widderstein, zu interessieren. Kurze Zustiege und bombenfester Fels vermochten ihn so zu begeistern, daß er im Laufe der Jahre ein gutes halbes Dutzend Führen (V-/A0 bis VI+) realisierte, die auch den verwöhntesten Genußkletterer befriedigen werden. Erwähnt werden muß schließlich auch noch der Oberstdorfer Profi-Bergführer Matthias Robl. 1997 stieg er rechts des Schwarzen Risses über schwarze Platten gerade zum Nordwestgrat der Trettach empor („Spiel der Geister", VII+) und ein Jahr später fand er mit dem schon seit 20 Jahren mit extremen Allgäufels vertrauten Egbert Lehner eine technisch besonders schwierige Wand- und Plattenkletterei über den Pfeiler rechts der berühmten Wildenverschneidung, den „Wildenschreck" (VIII).

Natürlich - auch die Erstbegehungen der letzten zehn Jahre machen aus dem Allgäu noch keine Verdonschlucht. Wer daher auf der Suche nach den letzten klettersportlichen Superlativen bereits den halben Globus bereits hat, wird sich kaum in die Allgäuer Bergwelt locken lassen. Wer sich jedoch einen Blick für die Schönheit der Landschaft bewahrt hat, weder abgespeckten Fels noch überfüllte Standplätze mag, der wird staunen, was die größte deutsche Hochgebirgsgruppe für den Kletterer alles zu bieten hat.


Mit freundlicher Genehmigung von Stefan Meineke, Allgäu Kletterführer, 2. Auflage Leipzig 1999



Marksteine der Allgäuer Kletterchronik von Stefan Meineke

Anfänge der klettersportlichen Erschließung ( ab 1890)

 

1894 Trettach, Südwand* etwa IV+ Josef Enzensperger, Ernst Enzensperger
und Karl Neumann
1900 Wolfebnerspitze, Südgipfel, Südkamin V Adolf Schulze und Felix von Cube
(zu dieser Zeit vermutlich eine der schwersten Alpentouren überhaupt)
1902 Krottenspitzgrat IV- Adolf Schulze und Karl Beindl
1902 Trettach, Ostwand IV+ Adolf Schulze, Karl Beindl, Julius Engelhard
1910 Himmelhorn, SW-Grat* um IV+ Hans Rädler im Alleingang

Epoche der klassischen Freikletterei

1920 Wolfebnerspitze, Südgipfel,
Gerade Westwand VI- Herbert Kadner, Otto Metzger, Lutz Pistor
(sehr früher VI. Grad)
1922 Schneck, Ostwand VI Philipp Risch und Gef.
1933 Wolfebnerspitze, Südgipfel,
Südwestkante VI-/A0 Hans Lobenhoffer und Gef.
1934 Trettach, Gerade Ostwand VI-/A0 Hans Lobenhoffer und Xaver Dusch
1940 Hochvogel, Nordostwand VI- Willy Wechs, Franz Tröndle sowie 5 Gef.

Moderne Extremerschließung mit vermehrtem Hakeneinsatz

 

1955 Kleiner Wilder,
Große SW-Verschneidung A2/VI Albert Kleemaier und Franz Nieberle
1958 Himmelhorn, Südwand A3/VI- Michael Tauscher und Willi Teufele

Sportkletterära

 

1987 Wolfebnerspitze, Vorgipfel des
Südgipfels, Südwand, Schwabentanz VII- Achim Groh und Bernd Hlawatsch
1987 Wiedemerkopf, Nordwand, Geburtstag VIII Klement Anwander und Hartmut Wimmer
1991 Kleiner Wilder, Südwestwand,
Jenseits von Gut und Böse um IX Robert Jasper und Stefan Meineke
(Schlüsselseillänge durch gewaltigen Bergsturz im Winter 1992/93 zerstört; keine Wiederholung)
1994 Östl. Wengenkopf, Westschulter, VIII+ Robert Jasper und Stefan Meineke
Südwand, La Traviata
1998 Kleiner Wilder, Südwestwand VIII Matthias Robl und Egbert Lehner
Wildenschreck
2000 Schneck Ostwand VII Jürgen u. Michael Schafroth, Jürgen Thum und Werner Hones
SchneckgespenstI
2000 Schneck, Ostwand VIII Michael u. Jürgen Schafroth, Toni Steurer
Das Graue Element
2000 Himmelhorn, Südwand IX- Matthias Robl u. Alexandra Plattner Sky Ride

Der Schwierigkeitsbewertung wurde der Originalweg der Erstbegeher zugrundegelegt.

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