Zeitbombe Asbest: Von der Wunderfaser zum tödlichen Staub

Feb 11th, 2011 | By | Category: Sozialstaat

Die Geschichte von Asbest ist ein unrühmliches Kapitel der schweizerischen Industriegeschichte, mit Verbindungen zu Nazideutschland und zum Apartheid-Regime in Südafrika. Asbest hat die Gesundheit unzähliger Menschen ruiniert und ihnen den vorzeitigen Tod gebracht. Und die Verantwortlichen tun sich schwer mit der Aufarbeitung. Asbest ist aber nicht nur Geschichte. In China und anderen asiatischen Ländern wird es nach wie vor gebraucht und gefährdet Gesundheit und Leben von ArbeiterInnen.

von Alex Schwank (erschienen in Soziale Medizin im November 2008 in Soziale Medizin 4.08)

Alle fünf Minuten stirbt ein Mensch auf der Welt an einem Asbest bedingten Leiden. Allein in Europa werden  an  die 500’000 Menschen bis zum Jahre 2030  an Asbest bedingten Tumoren sterben. Asbest ist zum Inbegriff einer Industriekatastrophe geworden. Der unter dem Namen Eternit bekannte Asbestzement ist eng mit der Rheintaler Unternehmerdynastie Schmidheiny verknüpft, welche mit Asbest Milliarden verdiente und in den letzen Jahren eine wenig rühmliche Rolle bei der Frage der Entschädigung von Asbestopfern spielte. Kürzlich wurden Stephan und Thomas Schmidheiny wegen Verjährung in einem Strafprozess freigesprochen. Leider ist das Thema Asbest nicht Geschichte. Weltweit ist ein Anstieg des Asbestkonsums zu verzeichnen, vor allem in Russland, Asien, Afrika und Lateinamerika. Die Zeitbombe Asbest wird auch in Zukunft noch viele Opfer fordern.

Die Unternehmerdynastie der Schmidheinys : Profitgier und Schmidheiligkeit

Die Wunder- später Killerfaser Asbest ist eng mit dem Rheintaler Geschlecht der Schmidheinys verbunden. 1865 machte sich der Seidenweber Schmidheiny selbständig. Es war der Beginn des Aufstiegs dieser Familie zu einer der mächtigsten Unternehmerdynastien. 1920 beteiligte sich Ernst Schmidheiny senior an der Eternit-Fabrikationsanlage in Niederurnen im Kanton Glarus. Asbestzement und andere Asbestprodukte verwandelten sich in den Händen der Schmidheinys zu Gold. Auf dem Höhepunkt der Asbesteuphorie kontrollierten die Schmidheinys über die Holding Amiantus AG von Niederurnen aus ein weltweites Asbestimperium mit Werken in l6 Ländern und 23’000 Mitarbeitern und erwirtschafteten Milliardenumsätze.  Auch das Kartell der Asbestzement-Produzenten hatte ab 1929 seinen Sitz in den Büros der Eternit-AG in Niederturnen. Erster Präsident war der Eternit-Baron Ernst Schmidheiny.

Kooperation mit den Nazis

Auch der zweite Weltkrieg konnte die Expansion der Schmidheinys nicht bremsen. Führender Kopf in der Familie war damals Max Schmidheiny, der sich sowohl mit den Nazis als auch mit den Allierten arrangierte und beide Kriegsparteien mit dem als strategischem Gut eingestuftem Asbest belieferte. Ein unrühmliches, bisher wenig bekanntes Kapitel der Eternit-Firmengeschichte wurde in Nazi-Deutschland geschrieben. Maria Roselli hat in ihrem Buch «Asbestlüge» (vgl. Box) die Beschäftigung von Zwangsarbeiterinnen in Berlin durch die Deutsche Asbestzement AG (DAZAG) erstmals ausführlich dokumentiert. Im Aufsichtrat der DAZAG sassen Max und Ernst Schmidheiny. Die «deutschfreundliche Einstellung» von Max Schmidheiny war in St. Gallen bekannt  So lobte er gemäss einem Polizeibericht aus St. Gallen 1940  «die vorbildliche Organsiation etc. im deutschen Reich». In einem Bericht des US-Geheimdienstes von 1945 ist zu lesen : «Max Schmidheiny maintained excellent relations with the Wehrmacht and the SS during the war. He believed until the end in the ultimate German victory, and in 1945 signed contracts with the Germans in Brussels… ».

Erst im Frühjahr 2007 bequemte sich die deutsche Eternit-AG unter dem Druck der Fakten dazu, die Beschäftigung von Zwangsarbeitern nicht mehr zu bestreiten. Ein Nazi war Max Schmidheiny nicht, aber eine «Aufarbeitung der jüngeren Geschichte ist dringend, ohne Zweifel auch bei den Schmidheinys», erklärte 2003 der Berner Historiker Peter Hug (Mitglied der Bergier-Kommission), der den « Willen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte vermisst ». Stephan Schmidheiny ist gegenüber Maria Roselli  zu einer  persönlichen Stellungnahme nicht bereit. Sein Pressesprecher Peter Schürmann vermeidet wortreich ein Schuldbekenntnis und betont, Max Schmidheiny müsse sich für seine Rolle im Aufsichtsrat der Deutschen Asbestzement AG nicht schämen.

Katastrophale Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt

Waren schon die Arbeitsbedingungen in Europa in den Eternitwerken gesundheitsschädlich, waren sie in der Dritten Welt schlicht katastrophal. Jörg Becher hat dies in seinem Bilanz-Artikel im Mai 2003 unter dem Titel «Gewinne ohne Gewissen» eindrücklich beschrieben. «Auch in der Dritten Welt erzielten die Schmidheinys Superrenditen. Heerscharen geschädigter Werkmitarbeiter sowie Berge von Industriemüll blieben zurück». In Brasilien betrug die Eigenkapitalrendite 1988 sagenhafte 43 Prozent. In Südafrika wurden Hungerlöhne bezahlt und die «Arbeitsbedingungen waren ein direkter Effekt der Apartheidpolitik» (Advokat Richard Spoor, Johannesburg). In Nicaragua unterhielten die Schmidheinys enge Verbindungen zum Diktator Somoza und überliessen im zeitweise sogar die Aktienmehrheit der Tochtergesellschaft Nicalit. 2002 wehrten sich ehemalige Arbeiter der Fabrik und verlangten Entschädigungen. «Wir arbeiteten ohne den geringsten Schutz. Weder das Firmenpersonal noch die Gesundheits- und Arbeitsministerien informierten uns über das Risiko», erklärte ihr Anführer Francisca Navarro.

Stephan Schmidheiny war gerade 29 Jahre alt, als er als Nachfolger seines Vaters Max Chef der Eternit-Gruppe wurde. Er erkannte schon 1976, dass ein Ausstieg aus dem Asbest das Gebot der Stunde war, und diesen auch gegen den Widerstand des Vaters und der Anleger vorangetrieben. Er veräusserte später seine zahlreichen Beteiligungen an Eternitfabriken. Im Jahre 1989 verkaufte er auch das Stammwerk in Niederurnen seinem Bruder Thomas.

Stephan Schmidheiny als ökokapitalistischer Vordenker?

Stephan Schmidheiny versuchte sich später  als ökokapitalistischer Vordenker zu profilieren, unter anderem mit seinem 1992 erschienenen Buch «Kurswechsel». In Lateinamerika gründete er 2003 die Stiftung Viva, der er ingesamt eine Milliarde Franken schenkte. Stephan Schmidheiny verfügte damals über ein geschätztes Vermörgen von 5 Milliarden Franken.  Diese karitative Tat von Stephan Schmidheiny kann Maria Rosseli nicht ernst nehmen : «Ich staune über Stephan Schmidheinys Philanthropie, kümmert er sich doch kaum um Asbestopfer. Dabei ist er zumindest moralisch mitverantwortlich».

Noch härter urteilt Max Klingler, Facharzt für Lungenkrankheiten aus Zürich, der sich engagiert für Asbestopfer einsetzt : «Stephan Schmidheiny lässt sich rund um den Globus als ökologischer und sozialer Vordenker feiern. Dabei wurde sein Reichtum auf dem Rücken von Zehntausenden von Toten erarbeitet.» Roselli und Klingler hatten wohl keine Kenntnis vom Essay «Marketing und Ethik», den Stephan Schmidheiny  1975 in der «Asbest Cement Revue» veröffentlicht hat: «Es liegt von vornherein im Wesen des sittlich Guten, dass der einzelne Mensch sein Glückstreben nicht auf seine Person beschränkt, sondern auch seine weitere gesellschaftliche Umwelt mit einbezieht.»

Res Strehle charakterisiert im « Magazin » vom 23.7. 2004 Stephan Schmidheiny als «stillen Protestanten»  und schreibt : «Fazit : Schmidheiny/Fuchs sind ein vernünftiges, kluges Gespann, ihre aus Industriegewinnen gespiesene Stiftung für Lateinamerika eine gute Sache. Es bleibt das Flick-Problem. Soll man eine Schenkung annehmen, wenn die Opfer nie richtig entschädigt wurden. Hätte Zürich Friedrich Christian Flicks attraktive Kunstsammlung annehmen sollen, obwohl die ehemaligen Zwangsarbeiter der grossväterlichen Fabrik noch immer auf eine private Entschädigung warten… Eine Schenkung in Lateinamerika gut finden, mitfinanziert aus gesundheitsschädigender Produktion ? Halb voll ?  Halb leer ?»

Die Problematik der Verjährung

Massimo Aliotta hat im Auftrag von Asbestopfern aus Niederurnen im Kanton Glarus eine Strafanzeige gegen die beiden Brüder Schmidheiny eingereicht, u.a. wegen fahrlässiger Tötung.

Im August dieses Jahres hat das Bundesgericht entschieden, dass das Strafverfahren gegen die Brüder Thomas und Stephan Schmidheiny zu Recht eingestellt worden sei. Das Bundesgericht begründet seinen Entscheid – juristisch sicher korrekt – mit dem schweizerischen Strafrecht. Die Verjährungsfrist beginne mit dem Zeitpunkt der Tathandlung, nicht mit dem Zeitpunkt, in dem der Schaden auftritt. Asbestkrebse treten oft erst 20-40 Jahre nach Exposition auf. Damit kann fahrlässige Tötung verjähren, bevor sie strafbar ist. Im Nationalrat  hat SP-Nationalrätin Bea Heim  vor zwei Jahren längere Verjährungsfristen für Spätschäden nach Baufehlern und unsorgfältigem Umgang mit Asbest gefordert. Schon vorher hatte eine von Prof. Pierre Widmer präsidierte Expertenkommission eine Revision des Haftpflichtrechtes vorgeschlagen mit einer dreissigjährigen statt zehnjährigen Verjährungsfrist. Bundesrat Blocher schubladisierte aber gleich nach seinem Amtsantritt diese Revision. Eine Chance weniger für die Asbestopfer. «Wenn das Gesetz im Sinne der Expertengruppe geändert worden wäre, hätte für Tausende von Opfern eine reelle Chance bestanden, entschädigt zu werden», erklärt Massimo Aliotta in einem Gespräch mit Maria Roselli.

Die Schmidheinys sind  wie so oft ungeschoren davongekommen. Das Wesen des sittlich Guten bleibt unergründbar. Immerhin ist uns erspart geblieben, dass Stephan Schmidheiny Pfarrer oder Missionar geworden ist, Berufsziele, die er sich auch hätte vorstellen können, wie er in der 2003 verfassten autobiographischen Schrift « Mein Weg – meine Perspektive » bekennt.

Apartheidprofiteure in Südafrika  – Hans-Rudolf Merz als Gehilfe

Die Schmidheinys erzielten unter dem Apartheid-Regime in Südafrika Superrenditen. Noch während des 2. Weltkrieges gründete Max Schmidheiny 1941 in Südafrika die Everite Limited. Das Astbestgeschäft florierte. Beteiligungen an Asbestminen und Asbestfabriken machten die Everite bald zu einem führenden Unternehmen in Südafrika. Ingesamt 55’000 meist rechtlose Schwarze arbeiteten ab 1942 in Südafrika für die Schmidheinys. Jörg Becher hat in der « Bilanz » (Mai 2003) unter dem Titel «Gewinne ohne Gewisse» die miserablen Arbeitsbedingungen in den Schmidheiny-Betrieben beschrieben : « Insbesondere in den Asbestminen Südafrikas, wo der besonders gefährliche blaue Asbest (Krokydolith) abgebaut wurde, spotteten die gesundheitlichen und arbeitshygienischen Umstände bis Anfang der  achtziger Jahre jeglicher Beschreibung …Arbeiter, die ohne Schutzvorkehrungen knöcheltief im Asbest wateten; offene vom Wind verwehte Schutthalden, Berge von Produktionsrückständen in unmittelbarer Nachbarschaft von menschlichen Behausungen und Wasserstellen ». Die Mehrheit der Belegschaft waren Schwarze, denen viel geringere Löhne als den Weissen bezahlt wurden.Wurde ein Schwarzer krank, spedierte ihn die Firma in sein Homeland zurück, meist ohne Entschädigung. Zur Zeit der Apartheid 1985 erhielt  ein Asbest geschädigter invalider Schwarzer wenn überhaupt nur eine einmalige Entschädigung von 1800 Rand und keine Rente. Ein weisser Minenarbeiter erhielt im gleichen Fall 24’000 Rand Entschädigung und eine monatliche Rente von 400 Rand.

Pathologische Untersuchungen behindert

Der südafrikanische Pathologe Chris Wagner hatte 1961 herausgefunden, dass bei den Asbestminen von Kuruman Asbest bedingte Krankheiten nicht nur bei den Minenarbeitern, sondern auch bei den BewohnerInnen der Umgebung weit verbreitet waren. Seine Forschungsarbeiten konnte er dann nicht weiterführen, weil die Minengesellschaften seine  Arbeit behinderten und ihm den Zutritt zu den Minen verweigerten. Jahrelang wurden die Forschungsergebnisse von Wagner unterdrückt, bis 1982 das Wissenschaftsmagazin «New Scientist » die Geschichte publik machte. Auch die Schmidheiny-Gruppe besass Anteile an Blauasbestminen in Kuruman. Ende der achtziger Jahre verkaufte Stephan Schmidheiny seine Anteile an Asbestminen in Südafrika und 1992, nach dem Fall des Apartheidregimes, trennte er sich auch von Everite.

Apartheid „unter dem Aspekt der Erziehung“

2002 holte Stephan Schmidheiny die Vergangenheit ein. Im Auftrage eines an einem Mesotheliom erkrankten weissen Managers verklagte der südafrikanische Advokat Richard Spoor die Everite und damit Schmidheiny auf Schadenersatz. Schmidheiny war klar, dass Spoor kein leichtgewichtiger Gegner war, hatte er doch kurz vorher einen britischen Konzern gezwungen,  an 7’500 Asbestopfer in Südafrika eine Entschädigung von 70 Millionen Franken zu zahlen. Adressat der Klage gegen Schmidheiny war die Anova-Holding AG, welche die Auslandinteressen der Asbestzementfirmen von Schmidheiny vertrat. « Seit den sechziger Jahren war den Everite-Betreibern klar, dass Arbeiter in erheblicher Zahl sterben würden», kritisierte  Spoor und bezeichnete die Hinterlassenschaft der Asbestkonzerne als menschliche und ökologische Katastrophe, vergleichbar mit Tschernobyl oder Bhopal : « In Europa würden Asbest verseuchte Gebiete, wie sie es in Südafrika gibt, unverzüglich evakuiert ». Im August demissionierte Schmidheiny als VR-Präsident der Anova. Nachfolger wurde der Schmidheiny-Intimus Hans-Rudolf Merz, damals noch Ständerat und heute Bundesrat. «Schmidheiny macht sich aus dem Asbeststaub»,  charakterisierte Maria Roselli in der Gewerkschaftszeitung «work» vom 13.9.02 das Verhalten von Schmidheiny. Seit Jahren schon hatte Merz die Schmidheinys in Kaderpersonalfragen beraten. Als selbständiger Berater für die Schmidheinys und andere Baufirmen lebte und arbeitete Merz in den frühren achtziger Jahren im Apartheidstaat.  Gegenüber dem « Tagesanzeiger » vom 8.11.2002 behauptete er: «Damals war die Apartheid in der Schweiz kein Thema und niemand hat sie verurteilt ». Auf den Einwand des Journalisten, der Bundesrat habe auch damals schon das rassistische Regime längst verurteilt, versuchte Merz zu relativieren : «Es gab auch viele Leute, die die Apartheid unter dem Aspekt der Erziehung sahen und nicht der Rasse. Man sagte, man muss die Leute ausbilden, die in die Industrie kommen. Man hat die Rassentrennung als solche gesehen». 2002 sass Merz auch noch im Verwaltungsrat des Herisauers Unternehmen Huber+Suhner, das legal Schutzmasken an das Apartheid-Regime geliefert hatte. Allerdings lag die Vermutung nahe, die Gasmasken seien  in Wirklichkeit für das geheime Chemiewaffenprogramm Südafrikas bestimmt gewesen. «Apartheid und Asbest  haben die Schwarzen nicht erzogen, sondern umgebracht », kommentierte Spoor die Merz ‘schen Verlautbarungen zur Apartheid.

Sammelklage vermeiden

Der Auftrag an Merz war, eine Sammelklage mit einer gütlichen Einigung zu vermeiden. Dies ist der Anova schlussendlich auch gelungen. Die südafrikanische Regierung wollte Auseinandersetzungen mit westlichen Investoren vermeiden. Der Kgaladi Relief Trust wurde gegründet, der erkrankte Minenarbeiter der Schmidheiny-Asbestminen entschädigen soll. Nicht bekannt ist, mit wie viel Geld der Trust ausgestattet wurde. Aufgrund von Indiskretionen wird von 10 bis 20 Millionen Dollar ausgegangen. Wer Geld als Entschädigung bekommt, muss eine Verzichtserklärung auf gerichtliche Schritte unterschreiben. Gegenüber der Schweizer Presse kommentierte die Südafrikaexpertin Mascha Madörin : «Wenn die über den Deal bekannt gewordenen Zahlen stimmen, dann ist er wirklich billig. Schwarze sind in den Augen der Weisse noch immer weniger wert ».

Auseinandersetzung mit der SUVA: Asbestopfer grosszügiger entschädigen !

Bis heute hat nur eine kleine Minderheit von Asbestopfern eine Integritätsentschädigung der öffentlich-rechtlichen Unfallversicherung SUVA erhalten. Dies ist ungerecht. Gerade bei Asbestopfern, welche 20-40 Jahre nach Asbestexposition mit einer tödlich verlaufenden Berufskrankheit konfrontiert werden, hat der Genugtuungscharakter einer Integritätsentschädigung eine enorm wichtige Bedeutung.

In den letzten Jahren fand vor allem um die Integrationsentschädigungen von Asbest bedingten Pleuramesotheliomen eine heftige Debatte statt. Das Pleuramesotheliom ist ein bösartiger Brust- oder Bauchfellkrebs, welcher auch erst nach eine Latenz von bis zu 40 Jahren noch auftreten kann und dann mit ganz seltenen Ausnahmen innert durchschnittlich vier bis achtzehn Monaten  zum Tod des Patienten führt, wenn eine Behandlung stattfindet. Ohne Behandlung beträgt die mediane Überlebensdauer nur vier bis zwölf Monate. Früher verlangte die SUVA auch beim Pleuromesotheliom eine Stabilisierung des Gesundheitszustands von mindestens zwei Jahren, bevor sie eine Integritätsentschädigung zusprach. Konkret hatte das zur Folge, das kaum ein Asbestopfer mit Pleuromesotheliom eine solche Entschädigung erhielt.  2003 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) festgehalten, dass diese damalige Praxis der SUVA nicht mehr zulässig ist. Das EVG hat in anderen Entscheiden aber  an einer Mindestdauer eine pallliativen Behandlung von 12 Monaten und damit  an einer längeren Krankheitsdauer als Voraussetzung für eine Integritätsentschädigung festgehalten.

Ende 2004 hatten Rechtsvertreter von  Asbestopfern eine Strafanzeige gegen die ABB und BLS Lötschbergbahn AG eingereicht. Die stossende Praxis der SUVA bei der Zusprechung von Integritätsentschädigungen wurde damals öffentlich breit diskutiert und stiess auf harte Kritik und Ablehnung. Als Reaktion auf diese Kritik gab die SUVA per l. Juli 2005 eine Praxisänderung bekannt. Neu zahlt sie jetzt bereits sechs Monate nach Ausbruch der Krankheit eine Entschädigung von 40% (Fr. 42’720.- Franken). Überlebt der Kranke zwei Jahre, erhält er die zweite Tranche von 40%. Auch bei dieser Regelung wird nur ein kleiner Teil der Pleuromesotheliomopfer die volle Integritätsentschädigung von 80% erhalten. Zudem stellt sich die SUVA auf den Standpunkt, dass die neuen Richtlinien nur für Erkrankte nach dem l.7.2005 gelten bzew. für Asbestopfer, die den l.7.05 überlebt haben.

Gericht korrigiert SUVA

Das EVG hat zwar in einem Urteil vom 24.l0.2005 festgehalten, dass den Erben eines bereits 1998 verstorbenen Asbestopfers eine Integritätsentschädigung zusteht. Das Urteil gegen die SUVA hatte der Anwalt des Asbestopfervereins Massimo Aliotta erstritten. Der Italiener M. war von 1969 bis 1983 in der Eternit-AG in Niederurnen beschäftigt gewesen. 1998 verstarb er in Italien an den Folgen eines Pleuromesothelioms. 1999 wies die SUVA das Begehren der Erben ab, im Jahre 2000 sprach ihnen das Verwaltungsgericht Glarus aber eine Integritätsentschädigung von 80% (Fr. 85’440) zu. Dagegen erhob die SUVA erneut Einspruch und erst nach längerem Hin- und Her entschied das EVG 2005 zugunsten der Erben. Offen liess das Gericht leider die Frage, ob dieses Urteil auch für andere Asbestopfer Regel bildend sein soll. Nur in 59 von 1086 anerkannten Fällen hat die SUVA zwischen 1984 und 2002 eine Integritätsentschädigung an Asbestopfer bezahlt.

Der Zürcher Anwalt Massimo Aliotta hat sich seit Jahren mit der Entschädigung von Asbestopfern beschäftigt. Für ihn ist klar, dass schon aus Gründen der Rechtsgleichheit vor dem l. Juli 2005 verstorbene Asbestopfer auch Anspruch auf eine Integritätsentschädigung haben müssen. In einer gemeinsamen Arbeit kritisieren die beiden Opferanwälte Massimo Aliotta und David Husmann die bisherige SUVA- und Bundesgerichtspraxis hart : «Erst die allzu restriktive Rechtssprechung des Bundesgerichtes führt dazu, dass nur eine kleine Minderheit der an einem tödlich verlaufenden Pleuramesotheliom Anspruch auf eine Integritätsentschädigung hat. Dies vermag aus Gründen der Rechtsgleichheit nicht zu befriedigen. Es ist in der Tat nicht einsehbar, weshalb ein Asbestopfer mit einer Überlebensdaurer von beispielsweise fünfzehn Monaten eine Integritätsentschädigung erhalten soll, falls er nachweislich zwölf Monate lang eine rein palliative Behandlung erhalten hat, während dem ein anderes Opfer mit der genau gleichen Diagnose und Überlebensdauer keine Integritätsentschädigung erhalten soll, weil es rein zufälligerweise eine rein palliative Behandlung von lediglich elf Monaten erhalten hat. Eine solche Differenzierung wird von keinem Rechtsuchenden mehr verstanden und trägt auch nicht zur Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit bei.(‚Die Zusprechung von Integritätsentschädigungen gemäss Unfallversicherungsgesetz bei durch Asbeststaub verursachten Berufskrankheiten’ in Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung Heft 2, 2008). » Beide Anwälte fordern daher eine Praxisänderung beim Bundesgericht, damit nicht nur eine Minderheit der Asbestopfer eine Integritätsentschädigung erhält. Im Rahmen einer allfälligen UVG-Revision sollte eine spezielle Regelung bei Berufskrankheiten wie Asbest verankert werden, um eine grosszügigere Zusprechung von Integritätsentschädigungen zu ermöglichen.

Weltweites Verbot in weiter Ferne : Der weisse Staub tötet weiter

In den westlichen Industriestaaten (mit Ausnahme von Kanada) und in Japan ist die Produktion und Verwendung von Asbest weitgehend verboten. Die ursprünglich viel versprechende Faser wurde zum Inbegriff einer Industriekatastrophe. Mehr als 100’000 ArbeiterInnen sterben jährlich weltweit an Asbest bedingten Krankheiten. Dennoch ist ein weltweites Verbot in weiter Ferne. Von den 193 Mitgliedstaaten der WHO haben sich nur 40 für ein Verbot ausgesprochen. In Russland und vielen asiatischen Staaten, vor allem auch in China, ist Asbest weiterhin im Vormarsch. Im Februar 2008 tagten in Wien Delegierte des ‚Gewerkschaftsbundes Bau und Holzarbeiter Internationale’ (BHI), um eine Kampagne für ein weltweites Asbestverbot zu konzipieren. Im gleichen Kongresszentum versammelten sich  zum gleichen Zeitpunkt GewerkschafterInnen der internationalen Asbestarbeitergewerkscharft Chrysotil, um sich für Asbest und gegen ein Verbot einzusetzen. Weissasbest (Chrysotil) soll viel weniger gefährlich sein, als die übrigen vier Asbestarten, wird nicht nur in Kanada, sondern auch in China behauptet. Verbreitet wird dabei die Mär, Chrysotilfasern würden in der Lunge abgebaut und seien daher ungefährlich, wenn der Weissasbest «richtig» gehandhabt werde. Namhafte Gesundheitsexperten vor allem der WHO halten das für eine gefährliche, verharmlosende Aussage. Es gelang der Chrysotilasbest-Lobby 2006 auch zu verhindern, dass der Weissasbest in der Rotterdamer-Konvention auf die sog. PIC-Liste von gefährlichen chemischen Substanzen gesetzt wurde, für die eine Deklarations- und Informationspflicht besteht. Von den 110 Mitgliedstaaten der Konvention stimmten sechs dagegen: Kanada, Iran, Kirgisistan, Peru, Indien und die Ukraine. Diese sechs Stimmten reichten für ein Veto.

China ist heute einer der weltweit grössten Produzenten und der grösste Konsument von Chrysotilasbest. Die ‚China Building Material’ schätzt, dass in Chinas Asbestminen 24’000 Personenen beschäftigt sind und über eine Million Menschen in Asbest verarbeitenden Firmen tätig sind. Auch in China wird heute aber kontrovers diskutiert. Professor Yuxin Zheng, Leiter des nationalen Instituts für Arbeitsmedizin und Schadstoffkontrolle, fordert ein Verbot von Asbestproduktion und – konsum. Yuxin bestätigt , dass in China Asbest bedingte Lungenkrankheiten und Pleuramesotheliome auftreten. Es fehlten aber landesweite Statistiken. Und auch in China ist es für Asbestopfer sehr schwierig, ihre Rechte geltend zu machen. Im Jahre 2003 verbrauchten die asiatischen Staaten nahezu fünzig Prozent des weltweit geförderten Asbests.

In ihrem Buch « Die Asbestlüge » schildert Maria Roselli,  wie die « richtige » Handhabung in Wirklichkeit aussieht : « Heute noch wird in den meisten Ländern Asiens Asbest ohne jegliche Schutzvorkehrung verarbeitet. In China sortieren Heimarbeiter zu Hause in ihren Wohnräumen die Asbestfibern nach der Länge und bringen diese zur Verarbeitung in die Fabrik zurück. Arbeiter in den Fabriken in Indien schlitzen die Asbestsäcke von Hand mit Messern auf und schlagen dann mit einem Holzhammer die kompakten Fasern in Stücke, um sie aufzulockern, bevor sie sie dem Zement beimengen. … Der einzige Schutz für Hundertausende von Asbestarbeitern in den Entwicklungsländern sind Taschentücher,  die sie sich vor Mund und Nase binden, um nicht so viel «Staub» zu schlucken. »

Der weisse Staub wird in den nächsten Jahrzehnten weiterhin Hunderttausende von Opfern fordern. Mario Roselli beendet ihr Buch mit der pessimistischen Feststellung : «  Die Asbestlüge hält sich hartnäckig am Leben – in eternum, unnzerstörbar, unvergänglich ».

Maria Roselli : Die Asbestlüge.

Geschichte und Gegenwart einer Industriekatastrophe, Rotpunktverlag, Zürich 2007

Nach sechs Jahren intensiver Arbeit mit Recherchen, Interviews und Gesprächen hat die Journalistin Maria Roselli vor einem Jahr ein brillantes Buch über die Asbestproblematik publiziert: «Die Asbestlüge, Geschichte und Gegenwart einer Katastrophe». Maria Roselli ist in Italien geboren, aber in der Schweiz aufgewachsen. Sie arbeitet heute als freie Journalistin in Zürich

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2001 hat der Arbeitsmediziner Enzo Merler aus Padua festgestellt, dass sich unter den an Mesotheliom erkrankten Patienten zwölf ehemalige MitarbeiterInnen der Eternit-AG in Niederurnen befanden, wo sie in den 60er- und 70er-Jahren gearbeitet hatten. Damals waren etwa 1000 Menschen in der Eternitfabrik in Niederurnen beschäftigt,  meistens MigrantInnen aus Italien. Der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guarinello hat in der Folge ein Verfahren wegen « mehrfacher fahrlässiger Tötung » gegen die Eternit-AG eröffnet, das bis heute nicht abgeschlossen ist. Über Jahre hat sich die  schweizerische öffentlich-rechtliche Unfallversicherung SUVA hartnäckig geweigert, die Akten der Betroffenen nach Turin zu liefern. Im November 2007 hat das Justizdepartement nach einem Bundesgerichtsentscheid die SUVA angewiesen, die Asbest-Akten herauszurücken.

Maria Roselli hat 200l als Journalistin in Italien recherchiert und war tief betroffen vom Leiden der Menschen : «Ich habe beispielsweise in Italien eine ältere Frau kennen gelernt, die ihren Mann, ihre Schwester, eine Cousine, einen Neffen und schliesslich die Tochter durch Asbestkrebs verloren hat ».  Roselli kommt das Verdienst zu, dass ab 2002 in der Schweiz wieder öffentlich über den tödlichen Asbeststaub debattiert wurde, über Versäumnisse in der Vergangenheit, über Entschädigungen für Betroffene und ihrer Hinterbliebenen.

Der engagierten Journalistin ist ein umfassendes Werk über die Asbestkatastrophe gelungen, präzis und immer gut dokumentiert. Vor allem kommen aber auch Asbestopfer selber zu Wort, Schweizer und Migrantinnen, eine Zwangsarbeiterin aus Weissrussland und ein schwarzer Gewerkschafter aus Südafrika. Dass sich die Industriekatastrophe jetzt in Asien, Lateinamerika und Afrika fortsetzt, die « Herren des weissen Staubes » weiterhin ihr Unwesen treiben, stimmt nicht nur die Autorin nachdenklich.

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