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16.3.1999
Vor 85 Jahren: 16.3.1914
Die Frau des französischen Finanzministers Joseph Caillaux erschiesst den Chefredakteur des ‘Figaro’
Karena Lütge

Manuskript:

Sprecherin: Gaston Calmette, Generaldirektor und Chefredakteur der Pariser Tageszeitung "Le Figaro", staunte nicht schlecht, als sich die Besucherin per Visitenkarte anmeldete: 'Madame Joseph Caillaux!' Das war die Gattin des Finanzministers.

Zitator: "Wollen Sie sie wirklich empfangen?,"

Sprecherin: wurde Calmette von einem anwesenden Besucher gefragt. Schliesslich hatte der Chefredakteur seit Wochen gegen den Finanzminister Caillaux gewettert (um nicht zu sagen: gehetzt) - zumeist auf Seite eins.

Zitator: "Selbstverständlich. Ich kann einer Dame doch kein Gespräch verweigern!"

Sprecherin: Der 16. März 1914 war ein kühler Tag in Paris. Henriette Caillaux verbarg ihre Hände deshalb in einem Muff. Gegen 18 Uhr 30 betrat sie das Verlagsgebäude des "Figaro" in der rue Drouot 26 in Paris. Jean Cerclé, der diensthabende Pförtner, meldete die Dame an und wies ihr den Weg zum Büro des Chefredakteurs.

Zitator: "Plötzlich hörte ich kurz hintereinander mehrere Schüsse. Ich eilte hinauf zum Büro von Monsieur Calmette."

Sprecherin: Gaston Calmette lag in einem Sessel, noch bei Bewusstsein, aber tödlich getroffen: eine der Kugeln hatte eine innere Arterie zerfetzt. Er starb wenig später in einem Krankenhaus in Neuilly.

Zitator: "Es ist angebracht, ja unsere Pflicht, darauf hinzuweisen, dass Madame Caillaux nicht im Affekt gehandelt hat. Sie hat das Verbrechen kalt geplant und den Mord im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte begangen,"

Sprecherin: hiess es am nächsten Morgen im "Figaro",

Zitator: "Madame Caillaux hat absolut kaltblütig und hochmütig am Tatort auf die Polizei gewartet. Den Pförtner, der sie festhielt, fuhr sie an mit den Worten: 'Lassen Sie mich los! Ich bin eine Dame!'"

Sprecherin: Wie eine Dame benahm sich Henriette Caillaux auch im Gefängnis Saint Lazare:

Zitator: "Man sollte meinen, dass Madame Caillaux wie eine normale Gefangene behandelt würde, aber weit gefehlt. Das Essen bekommt sie aus einem benachbarten Restaurant. Heute gab es Lammrücken und Makkaroni à l'anglaise, danach Bratapfel. Sie hat ihre eigenen Decken und empfängt Besuch im Zimmer des Direktors."

Sprecherin: So schrieb missbilligend der "Figaro" in einem seiner zahlreichen Gefängnisbulletins. Und er versäumte es nie, auf die Gemütsruhe der Mörderin hinzuweisen:

Zitator: "Sie isst mit Appetit, schläft gut und bewahrt die gleiche Ruhe, die sie schon nach dem Verbrechen gezeigt hat."

Sprecherin: Dass die Gattin des französischen Finanzministers den "Figaro"-Chefredakteur tatsächlich kaltblütig erschossen hatte, ergaben auch die Ermittlungen. Die Tatwaffe, einen Revolver der Marke Browning, hatte Henriette Caillaux kurz zuvor gekauft. Am Vormittag des Tattages hatte sie auf dem Schiessstand der Waffenhandlung Gastinne-Renette den Umgang mit der Waffe geübt. Rätselhaft waren allerdings die Gründe für die Tat.

Zitator: "Ich habe gehört, wie sie sagte: 'Diese Kampagne muss aufhören, sonst töte ich Calmette und mein Mann bringt sich selbst um,'"

Sprecherin: so gab ein Zeuge zu Protokoll. Chefredakteur Calmette hatte in den Wochen vor seiner Ermordung eine ausführliche Kampagne gegen den Finanzminister Caillaux geführt und dabei einiges Unangenehme aufgedeckt. So warf er Caillaux Ämterhäufung und Insidergeschäfte vor:

Zitator: "Der demagogische Plutokrat Caillaux, dieser Verführer aus dem Geldadel, ist nicht nur Finanzminister Frankreichs, sondern auch Aufsichtsrat ausländischer Banken. Offiziell hat er seinen Rücktritt von dem fett bezahlten Posten bei der ägyptischen Grundkreditbank erklärt, dabei sitzt er dort noch immer."

Sprecherin: Der Minister war auch in die Geschäfte des inhaftierten Spekulanten Rochette im Jahr 1910 verwickelt. Generalstaatsanwalt Victor Fabre erklärte an Eides statt, dass er damals mit Druck von oben zu einer Verschiebung des Prozesses genötigt wurde:

Zitator: "Man bedeutete mir, dass die Regierung Wert darauf legt, dass die Affäre Rochette nicht wie seit langem geplant am 27. April vor Gericht kommt, weil das dem Finanzminister derzeit Unannehmlichkeiten bescheren könnte."

Sprecherin: Indes, Madame Caillaux durfte kaum erwarten, dass der öffentliche Mord an Calmette ihrem Mann helfen würde: Die Tat zwang den Finanzminister selbstverständlich zum Rücktritt. Sie nannte denn auch ein anderes Motiv, wie der Gerichtsreporter des "Figaro" berichtet:

Zitator: "Henriette Caillaux behauptete bei ihrer heutigen Vernehmung, dass unser verehrter Direktor Gaston Calmette die Absicht gehabt hätte, intime, an sie gerichtete Briefe ihres noch anderweitig verheirateten Mannes zu veröffentlichen. Dies hätten ihr Freunde gesagt, unter ihnen der Sänger Isidor de Lara und die Prinzessin von Monaco. Sie wollte ihre Ehre und die ihrer Familie retten."

Sprecherin: Die wirklichen Hintergründe der Tat wurden nie aufgeklärt. Nach einem einwöchigen Prozess wurde Henriette Caillaux am 28. Juli 1914 trotz eindeutiger Täterschaft von einem Geschworenengericht freigesprochen. Von den Anwälten Madame Caillaux' bearbeitet, mochten die Geschworenen die arme Frau nicht im Gefängnis sehen. Das Skandalurteil empörte ganz Frankreich. Zwei Tage später erhielt die Redaktion des "Figaro" unter anderem folgenden Brief:

Zitator: "Bitte setzen Sie all Ihre Kollegen von meinem Entsetzen über diesen skandalösen Freispruch in Kenntnis. Gezeichnet: Camille Saint-Saëns."
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