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Band IX (1995)Spalten 1470-1479 Autor: Helmut Feld

SERVET, Michael; Theologe, Naturphilosoph, Arzt; * 1511 in Villanueva de Sijena; † 27.10. 1553 in Genf. - Zu Beginn des Prozesses, den die Inquisition in Vienne gegen ihn anstrengte (April 1553) hat S. angegeben, er sei 1511 in Tudela im Königreich Navarra geboren. In dem späteren Prozeß in Genf gab er das Geburtsjahr 1509 und als Geburtsort Villanueva in Aragon (Villanueva de Sijena) an. Das gelegentlich zu lesende Geburtsdatum 29.9. ist wohl aus dem Vornamen S.s erschlossen. Sein Vater, Antonio Serveto alias Reves, war Notar in Villanueva, und dort ist S. auch aufgewachsen. Er gebrauchte später das Pseudonym »Villanovanus« oder »de Villeneuve«. S.s Mutter hieß Catalina Conesa; ein Bruder, Mosen Juan, war Priester. Im Alter von etwa fünf Jahren erlitt S. eine schwere Verletzung an seinen Geschlechtsteilen. Ein Hoden wurde entfernt, der zweite blieb in seiner Funktion beeinträchtigt. An die näheren Umstände des Ereignisses kann oder will sich S. später nicht mehr erinnern (d.h. er hat sie wohl verdrängt). Die Folgen waren eine lebenslängliche Impotenz sowie schwere psychische und somatische Leiden. Wo S. seine erste Ausbildung erhielt, ist nicht bekannt. Keineswegs sicher ist auch, daß er sein Studium an der Universität von Saragossa begann. Mit vierzehn Jahren trat er in den Dienst des Franziskaners Juan de Quintana (+ 28.6. 1547), der Doktor der Sorbonne und Mitglied der Ständeversammlung (Cortes) von Aragon war. Quintana war in seiner Geistes- und Denkrichtung stark durch den erasmianischen Humanismus beeinflußt. Er ermöglichte S. ein zweijähriges juristisches Studium in Toulouse (1528/1529). S. zeigte jedoch wenig Interesse an der Jurisprudenz und wandte sich alsbald einer intensiven Beschäftigung mit der Bibel zu. Im Verlauf dieser Studien kam er zu der Erkenntnis, daß die traditionelle kirchliche Trinitätslehre kein überzeugendes Fundament in der Schrift habe. In Begleitung Quintanas, der mittlerweile Beichtvater Kaiser Karls V. geworden war, reiste S. im Herbst 1529 nach Italien. Er war bei der durch den Papst Clemens VII. vollzogenen Kaiserkrönung in Bologna (24.2. 1530) anwesend. Entweder über Deutschland oder über Lyon und Genf (seine Angaben hierüber sind widersprüchlich) kam er im Juli 1530 nach Basel, wo er mit J. Oekolampad in Verbindung trat und längere Zeit dessen Gast war. Von Basel begab sich S. nach Straßburg. Dort lernte er M. Bucer und W. Capito kennen. 1531 erschien bei Johann Setzer in Hagenau sein erstes Werk: »De Trinitatis erroribus libri septem«. Darin vertritt S. u.a. die Anschauung, daß Christus sowohl als präexistenter Logos wie auch als Mensch mit Gott eins ist; Christus ist jedoch nicht, wie in der traditionellen Trinitätslehre, mit Gott wesensgleich. Nachdem Bucer das Buch öffentlich widerlegt hatte, verbot der Rat der Stadt den Verkauf in Straßburg. S. kehrte darauf nach Basel zurück, wo der dortige Rat ebenfalls, auf Anraten Oekolampads, den öffentlichen Verkauf des Werkes verboten hatte. 1532 veröffentlichte S. in Hagenau »Dialogorum de Trinitate libri duo«, in welchem er mehrere von seinen früheren Formulierungen abmilderte, in der Sache aber bei seinem Standpunkt blieb. In diesem Werk entwickelte er auch eine eigene Abendmahlslehre, von der sich nicht nur alle oberdeutschen und schweizerischen Reformatoren, sondern auch Kaspar Schwenckfeld distanzierten. Einerseits läßt er nur eine Kommunion im Geist allein gelten; »Leib Christi« ist nur bildlich zu verstehen. Andererseits ist das Fleisch Christi von göttlicher Substanz. Nachdem S.s Schriften auch die Aufmerksamkeit katholischer Theologen auf sich gelenkt hatten, begann die Inquisition nach ihm zu fahnden. Sein ehemaliger Protektor Quintana wurde durch Johann Cochlaeus unterrichtet. Die Inquisition von Saragossa schickte S.s Bruder Juan nach Deutschland, um ihn zu fangen. S. suchte darauf Zuflucht in Paris. Er nahm eine neue Identität an und nannte sich von nun an Michel de Villeneuve. Eine geplante Begegnung mit Calvin, der sich damals ebenfalls in Paris aufhielt, scheint nicht zustandegekommen zu sein. Vielleicht hat S. schon damals mit dem Studium der Medizin begonnen. 1534 verließ er, ebenso wie Calvin, die für Häretiker gefährlich gewordene Stadt und ging nach Lyon. Er fand Arbeit als Editor und Korrektor in dem Verlagshaus der Brüder Melchior und Gaspard Trechsel. Er brachte dort zwei Auflagen der Geographie des Ptolemäus (1535. 1541) heraus; sodann eine Edition der von Santes Pagninus übersetzten Bibel (1542). Drei Jahre später (1545) brachte er eine Neuausgabe der mittelalterlichen Glossenbibel in sieben Bänden heraus. Zu dieser Zeit wird er bereits als »Doktor der Medizin« bezeichnet. Vermutlich hat er den Grad in Paris erworben. Zwischenzeitlich veröffentlichte S. auch eigene naturwissenschaftliche Werke, so die Apologie gegen den Tübinger Botaniker und Arzt Leonhard Fuchs (1536), in welcher er die Partei seines Freundes Symphorien Champier (1472-1539) ergreift und Fuchs als Häretiker diskriminiert. S. war inzwischen zur Fortsetzung seines Medizinstudiums nach Paris zurückgekehrt. 1537 erschien in Paris seine Abhandlung über die Syrupe; er referiert darin die unterschiedlichen Meinungen griechischer und arabischer Autoren über die eingedickten Säfte, die als Basisstoffe verschiedener Medikamente dienten (weitere Auflagen: Venedig 1545. 1548; Lyon 1546. 1547. 1548). Ebenfalls in Paris kam 1538 die erste Auflage seiner »Apologetica disceptatio pro Astrologia« heraus. Mit dieser Schrift verteidigte sich S. gegen eine Klage, die bei der medizinischen Fakultät der Pariser Universität gegen ihn wegen Scharlatanerie erhoben worden war. Nach Erscheinen des Werkes verhandelte das Parlament von Paris unter dem Vorsitz von Pierre Lizet gegen S. Das Urteil lautete auf Konfiszierung der im Handel befindlichen Exemplare. S. hielt auch Vorlesungen über Geographie und Astrologie. Unter den Zuhörern befand sich Pierre Palmier, Erzbischof von Vienne, der in der Folgezeit sein Gönner wurde. Wenn man den Angaben trauen darf, die er später (5./6.4. 1553) in dem Verhör des Inquisitors in Vienne machte, dann begab er sich von Paris zunächst nach Lyon, von dort nach Avignon, wieder nach Lyon, dann nach Charlieu, wo er drei Jahre als Arzt praktizierte. 1540 berief ihn der Erzbischof Palmier nach Vienne. Dort verbrachte er zwölf ruhige Jahre als Arzt und Herausgeber. Er hatte eine vornehme Klientel. Die Ärzteschaft wählte ihn zum Prior der St.-Lukas-Bruderschaft. Daneben gehörte er einer städtischen Kommission zur Errichtung einer neuen Rhônebrücke an, wo er sachkundigen Rat zu geben wußte. In dieser Zeit verfaßte er sein Hauptwerk »Christianismi Restitutio«. Darin ist Wesen und Wirken Gottes in einer stark platonistisch geprägten Emanationstheorie beschrieben: Gott gibt allen Dingen Sein und Erhaltung; Christus ist nur eine der Formen, in denen das ewige Wort und das Licht Gottes zum Ausdruck kommen. In dem Werk befindet sich auch eine genaue Beschreibung des sogenannten kleinen Blutkreislaufs, oder genauer: des Durchlaufs des Blutes durch die Lunge, den S. vermutlich in seiner Pariser Zeit beim Sezieren von Leichen entdeckt hatte. Das Wort »Restitutio« im Titel sollte die Absicht des Verfassers zum Ausdruck bringen, der »Institutio« Calvins ein Gegenbuch gegenüberzustellen. S. kam nun zu der verhängnisvollen Meinung, er könne in Calvin einen geeigneten Gesprächspartner über seine theologischen Ideen finden. In zahlreichen Briefen suchte er ihn von seinen Auffassungen zu überzeugen und sandte ihm auch eine Abschrift seines neuen Werkes. Aber er erregte nur den Widerwillen des Genfer Reformators, dessen theologisches Gedankengebäude längst abgeschlossen war und der der Meinung war, in seiner »Institutio« sei alles Wissenswerte über Gott und die Welt gesagt. S. machte zunächst den Versuch, die »Christianismi Restitutio« in Basel drucken zu lassen, und sandte das Manuskript an den ihm bekannten Martin Keller (Cellarius) gen. Borrhaus (1499-1564), erhielt aber eine abschlägige Antwort. Er ließ darauf das Werk auf eigene Kosten anonym in einer geheimen Werkstatt der Schwäger Balthazard Arnoullet und Guillaume Guéroult in Vienne drucken (22.9.1552 - 3.1.1553). Die Auflage betrug 1000 Exemplare, die umgehend nach Frankfurt, Genf und Lyon versandt wurden. In Genf geriet ein Exemplar in die Hände eines französischen Flüchtlings namens Guillaume Trie, Seigneur de Varennes, der mit Calvin gut bekannt war. (Er war der Schwiegersohn des berühmten Humanisten Guillaume Budé, dessen Tochter Marguerite er geheiratet hatte). Trie hatte in Lyon einen katholischen Vetter, Antoine Arneys. Diesem teilte er mit, daß das Buch mit den ketzerischen Lehren über die Trinität, die von den Papisten ebenso verabscheut werden müßten wie von den Evangelischen, in Vienne gedruckt worden sei; ferner, daß dessen Verfasser, der Arzt Villeneuve, mit dem Spanier Michael Servet identisch sei. Arneys legte den Brief sogleich dem zuständigen Generalinquisitor Matthieu Ory, einem Dominikaner, vor. Der unterrichtete den Kardinal François de Tournon, Erzbischof von Lyon, der sich in seinem Schloß Roussillon in der Nähe von Vienne aufhielt. Am 15.3. 1553 beauftragte der Kardinal den königlichen Lieutenant Général in der Dauphiné, Maugiron, die Angelegenheit zu untersuchen. Verhöre Servets, Géroults, Arnoullets und deren Angestellten sowie Hausdurchsuchungen (16./17.3.) ergaben nichts Verdächtiges. Der Erzbischof Pierre Palmier von Vienne, der S. schützen wollte, verwies auf die Unzulänglichkeit der Beweise. Auf Veranlassung des Inquisitors Ory schrieb Arneys von Lyon aus erneut an Trie mit der Bitte um weitere Informationen und Zusendung eines vollständigen Exemplars der »Christianismi Restitutio«. Trie antwortete am 26.3.; außer dem Druckwerk fügte er seinem Brief »zwei Dutzend handgeschriebene Stücke« bei. Es handelte sich um die Briefe, die S. in früheren Jahren an Calvin geschrieben hatte. Angeblich hatte Calvin diese Beweisstücke, mit deren Hilfe S. eindeutig als Häretiker überführt werden konnte, nur widerwillig herausgerückt. Am 4.4. fand auf dem Schloß Roussillon in Gegenwart des Kardinals Tournon, des Erzbischofs Palmier und des Generalinquisitors Ory eine Beratung zahlreicher kirchlicher Amtsträger und Theologen über das Vorgehen gegen S. und Arnoullet statt. S. wurde von dem Krankenbett des Lieutenant Général Maugiron, den er gerade behandelte, unter dem Vorwand, er solle kranken Gefangenen beistehen, in das Gefängnis des Palais Delphinal gelockt und dort verhaftet. Am 5. und 6. April wurde er durch den Inquisitor Ory, den Generalvikar des Erzbischofs und den Vibailli von Vienne dreimal verhört. Dabei gab »Michel de Villeneufve« seine Identität nicht preis. Seine unzulängliche Bewachung ausnutzend floh S. am frühen Morgen des 7. April aus dem Gefängnis. Wo er Zuflucht fand, ist nicht bekannt. Das weltliche Tribunal von Vienne verurteilte ihn am 17.6. 1553 als überführten Häretiker zur Zahlung einer Geldstrafe von 1000 Livres; sodann sollte er zusammen mit seinen Büchern auf der Place du Charnève bei kleiner Flamme verbrannt werden. Da der Delinquent nicht mehr habhaft zu machen war, wurde das Urteil »in effigie«, d.h. an einem eigens zu diesem Zweck gemalten Bild, vollstreckt. Das kirchliche Tribunal des Erzbistums Vienne verurteilte am 23.12. 1553 alle theologischen Werke S.s und erklärte ihn zum »maximus haereticus«. Am 13. August, einem Sonntag, war S. in Genf, wo er an der Nachmittagspredigt (wahrscheinlich in der Kathedrale St-Pierre) teilnahm. Einige Bürger erkannten ihn und unterrichteten sofort Calvin. Calvin suchte einen der Bürgermeister auf und veranlaßte die Verhaftung S.s. Sogleich am nächsten Tag begann der sich über zweieinhalb Monate hinziehende Prozeß vor den Bürgermeistern und dem Kleinen Rat von Genf, in dem S. der Häresie und Störung der kirchlichen Ordnung angeklagt war. Die Rolle des Anklägers hatte Calvins Sekretär Nicolas de la Fontaine übernommen. S., dem die Genfer Behörden einen Verteidiger verweigerten, setzte sich sehr geschickt zur Wehr. Auch gab es unter seinen Richtern geheime Gegner Calvins, die sein Leben zu retten suchten. Letztlich waren jedoch alle Bemühungen, auch eine Gegenklage, die er in seiner Verzweiflung gegen Calvin anstrengte, vergeblich. Die Bedingungen seiner Haft waren, auch für damalige Verhältnisse, erniedrigend und menschenunwürdig: man ließ ihn in Kälte und Dreck regelrecht verkommen. Seine verzweifelten Bitten um Besserung seiner Lage gingen ins Leere. In der ersten Oktoberhälfte, als der Prozeß in sein letztes Stadium eingetreten war, gingen Gutachten der Räte und der »Diener des Wortes« der Städte Zürich, Schaffhausen, Bern und Basel ein, um die die Behörden von Genf gebeten hatten. Sie laufen alle auf den Rat hinaus, den für die gesamte Christenheit gefährlichen Häretiker unschädlich zu machen. Am 27.10. 1553 verurteilten die Bürgermeister von Genf Michel Servet »in dem Wunsch, die Kirche Gottes von solcher Ansteckung zu reinigen und von ihr dieses verfaulte Glied abzuschneiden... im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes... gebunden zu werden und an den Ort Champel geführt zu werden, und ebendort an einen Pfahl gebunden und lebendig verbrannt zu werden, zusammen mit deinem von deiner Hand geschriebenen und dem gedruckten Buch, solange bis dein Körper in Asche verwandelt ist.« Das Urteil wurde am gleichen Tag vollstreckt. - Eine gerechte und nüchterne Beurteilung S.s scheint auch nach über vier Jahrhunderten kaum möglich zu sein. Die Einschätzung seiner Persönlichkeit und seines Werkes ist durch mancherlei ideologische, konfessionelle und emotionale Vorurteile belastet. Das hängt vor allem mit der Rolle zusammen, die Calvin im Prozeß und bei der Verurteilung S.s gespielt hat. Es geht nicht an (wie es N. Weiss und andere reformierte Theologen und Historiker versucht haben), die Schuld an S.s Tod auf die Intoleranz des Jahrhunderts abzuwälzen oder in dem mittelalterlichen Katholizismus den »großen Schuldigen« zu sehen, »dessen Ideen und Häresie-Gesetzgebung die Reformatoren noch nicht ganz abgestoßen hatten.« Die Tötung von vermeintlichen Gottesfeinden (Häretikern und schweren Sündern) ist ein integraler Bestandteil von Calvins theologischem Denken, wie man nicht nur an seiner Schrift gegen S. (Defensio orthodoxae fidei de sacra Trinitate), sondern etwa auch an seiner Auslegung der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin (Joh 8,11: CO 47,190 f.) sehen kann. »Von dem Scheiterhaufen auf Champel hat auch Calvin ein Brandmal davongetragen, das bis heute keine Kunst der Apologetik von seinem Bild zu entfernen vermocht hat« (B. Riggenbach in: RE prot. 18,236). Andererseits kann man auch in S. nicht einfach den Heros eines neuen Zeitalters sehen. Auch sein Charakterbild ist nicht frei von fanatischen, weltverbesserischen Zügen; überdies litt er an maßloser Selbstüberschätzung. Seine Infragestellung der traditionellen Trinitätslehre und Christologie mag von heute aus gesehen nicht unbedingt als religionsgeschichtliche Katastrophe erscheinen. (Es beginnt damit die beachtliche Geschichte des Antitrinitarismus, die noch nicht ans Ende gekommen ist). S.s katholische und reformatorische Zeitgenossen mußten aber darin einen Angriff auf das Innerste der christlichen Lehre und eine Erneuerung längst überwunden geglaubter altkirchlicher Ketzereien sehen. Dies ändert jedoch nichts an der Tragik eines in seiner Weise bedeutenden und genialen Mannes. Zweifellos gehört er zu den großen Märtyrern, die für ihre persönliche Gewissensüberzeugung in den Tod gingen. Geschichtlich und moralisch gesehen richtet sich das Todesurteil von Genf (und natürlich auch das von Vienne!) nicht gegen ihn, sondern gegen weltliche und kirchliche Amtsträger, Richter und Theologen, die an seiner Auslöschung entweder in grausamen und eindeutigen oder in heuchlerischen und zweideutigen Formulierungen beteiligt waren. Seine aus dem Gefängnis in zierlicher, deutlicher Schrift geschriebenen Briefe, deren Originale im Staatsarchiv von Genf erhalten sind, kann man auch heute nicht ohne Bewegung lesen (»Die Flöhe fressen mich bei lebendigem Leibe«; »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit!«). Durch Errichtung von Denkmälern an seiner Hinrichtungsstätte in Genf (1903), in Annemasse (1908) und in Vienne (1912) hat man eine posthume Wiedergutmachung versucht. Wichtiger wäre eine eingehende historisch-psychologische Untersuchung der Persönlichkeit S.s, die noch aussteht. Zweifellos ist er als Kranker, körperlich und psychisch schwer Verletzter durchs Leben gegangen. Er gehört zu den »vaterlosen« Gestalten, die sich zeitlebens auf der Suche nach einer idealen Vaterfigur und der Anerkennung durch dieselbe befinden. Von daher könnten sowohl manche Züge seines theologischen Denkens als auch scheinbare Ungereimtheiten seiner Biographie, wie der Gang nach Genf und die letzte Unterredung, um die er Calvin zwei Stunden vor seiner Hinrichtung bat, um ihn um Verzeihung zu bitten (!), ihre Erklärung finden.

Werke: De Trinitatis erroribus libri septem, [Hagenau] 1531; Dialogorum de Trinitate libri duo, [Hagenau] 1532; Claudii Ptolemaei Alexandrini Geographicae Enarrationis libri octo, Lyon 1535. 1541; In Leonardum Fuchsium Apologia, [Lyon] 1536; Syruporum universa Ratio, ad Galeni censuram diligenter expolita, Paris 1537; Venedig 1545. 1548; Lyon 1546. 1547. 1548; Apologetica Disceptatio pro Astrologia, [Paris 1538]; Biblia sacra ex Santis Pagnini tralatione, sed ad Hebraicae linguae amussim novissime ita recognita, et scholiis illustrata, ut plane nova editio videri possit..., Lyon 1542; Biblia sacra, ex postremis Doctorum omnium vigiliis, ad Hebraicam veritatem, et probatissimorum exemplarium fidem..., Lyon 1542; Biblia sacra cum glossis, interlineari et ordinaria, Nicolai Lyrani postilla et moralitatibus, Burgensis additionibus, et Thoringi replicis..., 7 Bde., Lyon 1545; Christianismi Restitutio, [Vienne] 1553. - Briefe und Prozeßakten: Michaelis Serveti Epistolae triginta ad Ioannem Calvinum Gebennensium concionatorem (CO 8,645-720); Actes du Procès de Michel Servet 1553 (CO 8,721-872).

Lit.: J. Calvin, Defensio orthodoxae fidei de sacra Trinitate, contra prodigiosos errores Michaelis Serveti Hispani: ubi ostenditur haereticos iure gladii coercendos esse, et nominatim de homine hoc tam impio iuste et merito sumptum Genevae fuisse supplicium, 1554 (CO 8,453-644); - R. Willis, Servetus and Calvin. A Study of an important Epoch in the early History of the Reformation, 1877; - Auguste Dide, Michel Servet et Calvin, s.a. [1907]; - N. Weiss, Servet, G. de Trie et le Tribunal de Vienne. Bull. de la Soc. de l'Hist. du Prot. français 57 (1908), 387-404; - E. Choisy, Calvin et Servet, 1926; - Emile Doumergue, Jean Calvin. Les hommes et les choses de son temps, Bd. 6, 1926; - Roland H. Bainton, The present State of Servetus Studies. The Journal of Modern Hist. 4 (1932), 72-92; - ders., Hunted Heretic. The Life and Death of Michael Servetus 1511-1553, 1953; franz.: Michel Servet. Hérétique et Martyr. 1553-1953 (THR 6), 1953; deutsch: Michael Servet 1511-1553 (Schriften des Vereins für Reformationsgesch., 178), 1960; - Stefan Zweig, Ein Gewissen gegen die Gewalt. Castellio gegen Calvin, 1938. 1979; - S. Hernandez Ruiz, Miguel Servet (Una vida atormentada), 1945 - E.M. Wilbur, A Bibliography of the Pioneers of the Socinian-Unitarian Movement in modern Christianity in Italy, Switzerland, Germany, Holland, 1950; - John F. Fulton, Michael Servetus. Humanist and Martyr. With a Bibliography of his Works and Census of known Copies by Madeline E. Stanton, 1953; - B. Becker (Hrsg.), Autour de Michel Servet et de Sebastien Castellio, 1953; - Pierre Cavard, Le procès de Michel Servet à Vienne, 1953; - Charles D. O'Malley, Michael Servetus. A translation of his geographical, medical and astrological Writings with Introductions and Notes, 1953; - Willem F. Dankbaar, Calvin, sein Weg und sein Werk, 1959; - George Huntston Williams, The Radical Reformation (Sixteenth Century Essays and Studies, 15), 1962. 31992; - Michal Servet 1511-1553. Wybór pism i dokumentów (Polskie Towarzystwo Religioznawcze. Rozprawy i materialy, 9), 1967; - José Barón Fernández, Miguel Servet (Miguel Serveto). Su vida y su obra. Prólogo de Pedro Laín Entralgo, 1970; - Jerome Friedmann, Michael Servetus. The Theology of Optimism, 1971; - ders., Michael Servetus. A Case Study in total Heresy (THR, 163), 1978; - Claudio Manzoni, Umanesimo ed eresia: Michele Serveto (Esperienze, 26), 1974; - Georg J. E. Mautner Markhof, Verschwörung der Inquisitoren. Kriminalprozeß Miguel Serveto 1553, 1974; - Georges Haldas, Passion et Mort de Michel Servet. Chronique historique et dramatique, 1975; - T. H. L. Parker, John Calvin. A Biography, 1975; - Julio P. Arribas Salaberri, Fisiología y psiquis de Miguel Servet, 1975; - ders., En torno a Miguel Servet, 1976; - Fernando Martínez Laínez, Miguel Servet, 1976; - Luis Betés Palomo, Anotaciones al pensamiento teológico de Miguel Servet, 1977; - Francisco Vega Diaz, Propuesta para una interpretación antropobiográfica de Miguel Servet, 1977; - Francisco Sánchez-Blanco, Michael Servets Kritik an der Trinitätslehre. Philosophische Implikationen und historische Auswirkungen, 1977; - Angel Alcalá, Servet en su tiempo y en el nuestro. El nuevo florecer del servetismo, 1978; - Miguel Servet, Treinta cartas a Calvino. Sesenta signos del Anticristo. Apología de Melanchton, ed. Angel Alcalá (Biblioteca de pensamiento, 6), 1981; - RE prot. 18 (1906), 228-236; - Enc. Catt. 11 (1953), 408 f.; - RGG3 5 (1961), 1714; - LThK2 9 (1964), 693 f.; - Contemporaries of Erasmus 3 (1987), 241-243.

Helmut Feld

Literaturergänzung:

Valentine Zuber, Les conflits de la tolérance. Michel Servet entre mémoire et histoire. Paris 2004 (=Vie des Huguenots; 36); - Matthew J. Pereira, In the name of the three headed monster. The contours of the judicial process in S.'s trial, in: USQR 60.2007, S. 11-34.

Letzte Änderung: 10.10.2007