NIKOLAUS von Myra, Hl. (4. Jahrhundert), Bischof (Fest 6. Dezember),
beliebter Volksheiliger in der griechischen und lateinischen Kirche.
Translation: 9. Mai. - Obwohl er zu den Heiligen gehört, die in
Ost und West universal verehrt werden, ist sein Leben historisch schwer
zu erfassen. Myra in Lykien war sein Bischofssitz. Der Ort heißt heute
Mugla. Die Hagiographie verbindet mit seiner Gestalt historische Einzelheiten
aus dem Leben gleichnamiger Heiliger, so des Abtes Nikolaus vom Kloster
Sion bei Myra, später Bischof von Pinara, gest. 564 n.Chr., und erweitert
die Vita auf Grund der engen Verbindung des Heiligen mit dem Volksleben
durch legendenhafte und mirakulöse Begebenheiten. Über den frühen
Kult besteht kein Zweifel. Seit dem 6. Jahrhundert wird dieser in
der Ostkirche ausgeübt (Myra, Konstantinopel) und breitete sich mit
Hilfe griechischer und lateinischer Kompilationen seiner Vita im ganzen
Morgen- und Abendland aus. Stufen dieser Entwicklung verdeutlichen
die Lebensbeschreibungen in griechischer und lateinischer Sprache:
- Vita per Michaelem (anfangs des 9. Jahrhunderts entstanden); sie
blieb die kanonische Lebensbeschreibung des hl. Nikolaus von Myra
und Grundlage für alle folgenden. - Methodius ad Theodorum (eine
Kompilation des Patriarchen Methodius von Konstantinopel, gest. 847).
Dieses Werk ist Lebensbeschreibung und Lobrede zugleich. - Encomium
Methodii (eine unter dem Namen des gleichen Methodius überlieferte
Festpredigt, um 860 entstanden). Der Festpredigt liegt das Schema
der »Vita per Michaelem« zugrunde. - Synaxarienvita (eine Erweiterung
der »vita per Michaelem« und zugleich eine neue Überlieferungsstufe:
es ist der Text, der um 900 f.ür die liturgische Feier verfaßt wurde
und bis heute im orthodoxen Gottesdienst Gültigkeit besitzt). Die
Vita erhält neue Motive durch die Verknüpfung der Lebensbeschreibung
des Abtes Nikolaus vom Sionskloster mit der des Bischofs von Myra.
Dieser historisch nachweisbare Abt des Klosters Sion rückt später
in das Amt des Bischofs von Pinara bei Myra nach; er starb am 10.12.
564. - Vita Compilata (sie gehört als umfangreichste Lebensbeschreibung
dieser neuen Entwicklungsstufe an und stammt von einem unbekannten
Verfasser). 5 verschiedene Quellen der Nikolaustradition werden mit
dem Stoff der Lebensgeschichte des Abtes Nikolaus von Sion verquickt.
Die Vita war nicht allzu weit verbreitet. - Vita per Metaphrasten
(sie erweitert die Lebensbeschreibung des Mönches Michael; Symeon
Metaphrastes, auch Logoteta genannt, gest. um 1000, ist ihr Verfasser).
Als Normaltext der Vita ist sie in zahlreichen Handschriften des Morgen-
und Abendlandes überliefert. Die ältesten stammen aus dem 11. Jahrhundert.
Durch Übertragung der Vita ins Lateinische, die der venezianische
Kaufmann und Patrizier Leonardo Giustiniani Anfang des 15. Jahrhunderts
besorgte (gest. 1446), erhielt diese Nikolaus-Vita weite literarische
Verbreitung. Der lateinischen Übersetzung aus Venedig ging bereits
eine ältere lateinische Übersetzung voraus. Es war die - Vita beati
Nicolai episcopi (des Diakon Johannes aus Neapel, der sie auf Grund
griechischer Quellen um 880 verfaßt hatte). Sie steht in der Abfolge
der Viten-Entwicklung an 2. Stelle (s. Vita per Michaelem, Vita beati
Nicolai episcopi, Synaxarien-Vita/Vita per Metaphrasten). Universale
Verbreitung erfuhr die Vita per Metaphrasten durch das im Jahr 1568
neu edierte Brevier der römischen Kirche. Der revidierten Ausgabe
des Breviers von 1602 ist der Bericht über die Überführung der Gebeine
des Heiligen nach Bari beigefügt. Die umfangreichste Biographie des
Heiligen verfaßte der aus Bari stammende Gelehrte Antonio Beatillo.
In 7 Büchern gab er 1620 die »Geschichte des Lebens, der Wunder, der
Überführung und der Verehrung des hochberühmten Bekenners Christi,
des heiligen Nikolaus, des Großen, des Erzbischofs von Myra« heraus.
Die Mehrzahl der genannten Nikolaus-Viten sind mit Wundersammlungen,
die legendäre Taten aneinander reihen, verbunden. - Der Nikolauskult
war seit dem 10. Jahrhundert im Abendland wohlbekannt. Durch die Translation
der hl. Gebeine von Myra nach Bari/ Unteritalien (1087), wo viele
Griechen lebten, erfuhr der Kult im Abendland eine ungeheuere Steigerung.
Auf Grund der Legenden und der Wundertaten wird Nikolaus der Patron
zahlreicher Landschaften, Städte und Stände. Länder wie Rußland, Griechenland
und Lothringen, Städte wie Bari, Venedig, Meran, Ancona, Sassari in
Italien oder La Rioja in Argentinien, verehren ihn als ihren Patron.
In den angelsächsischen Ländern bringt er braven Kindern am Vorabend
zum Hl. Christfest als »Santa Claus« Geschenke. - Einige seiner
Patronate sind mit Episoden aus den Legenden verbunden. Der Patronat
gilt zu Wasser und zu Land. Schüler, Kinder, heiratsfähige Mädchen,
Schiffer, Gefangene, Bäcker, Metzger, Küfer, Weinhändler, Getreidekaufleute,
Reisende, Kaufleute, Apotheker, Juristen u.a. stehen unter seinem
Schutz. Er zählt zu den 14 Nothelfern seit dem Spätmittelalter. Sein
Name wurde in gleicher Epoche als Taufname beliebt. Den Patronat der
raschen Hilfe begründen griechische Legenden: er befreit 3 zu Unrecht
eingekerkerte Offiziere; er ermögliche 3 verarmten adeligen Familien
die Verheiratung ihrer Töchter und rettet diese vor der
Prostitution; die drei verschenkten Goldklumpen werden künftig
zum Kennzeichen (Attribut) seiner »Gutheit«; er bewahrt 3 unschuldig
zum Tod verurteilte junge Männer vor der Hinrichtung, er schützt Seeleute
in Seenot u.v.a.m. Seine enge Verbindung zur Schule und Schülern entstammt
abendländischer Überlieferung. So entstand die berühmte Schülergeschichte
von den 3 Knaben im Salzfaß wohl in Nordfrankreich des 11./12. Jahrhunderts
und wird im mittelalterlichen Mirakelspiel dramatisiert. - Reliquien,
Patronat, Herrschaft und Kult stehen in Wechselbeziehung zueinander.
Das »Oleum San' Nicolai«, eine wasserklare Flüssigkeit, wird noch
heute im Rhythmus von 3 Monaten am Marmorsarkophag in Bari, der die
Überreste des Heiligen birgt, gesammelt und in sogenannten »Mannafläschchen«
an Verehrer weitergegeben. Seit der Translation der Gebeine des hl.
Nikolaus von Myra nach Bari durch Kaufleute von dort nahm der Kult
in Unter- und Norditalien rasch zu. Die vor den Sarazenen in Sizilien
geflüchteten Griechen wie die Seefahrerstädte Venedig, Genua oder
Pisa, die mit Byzanz regen Handel trieben, verehrten Nikolaus bereits
lange vor 1087. Im Reich wurde sein Kult bereits vor 1000 von Benediktinerklöstern
und durch Ottonen-Herrscher gefördert (s. Kaiserin Theophanou). Auch
in der Normandie genoß der Heilige im gleichen Zeitraum bereits hohes
Ansehen (s. Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica). Wilhelm der
Eroberer stellte sich unter seinen Schutz. Ein wirklich volkstümlicher
Heiliger jedoch war Nikolaus im Abendland des 11. Jahrhunderts noch
nicht. Erst die Kreuzzugsbewegung, Nikolaus-Wallfahrten und sein Nothelferpatronat
begründeten dessen universale Verehrung im Abendland. Mit dieser gingen
ein volkstümlicher Kult und volksfrommes Brauchtum einher (s. Brauchtum).
- Kunstdenkmäler und Architektur des hohen und späten Mittelalters
bestätigen des Heiligen Beliebtheit in der Christenheit. Sein Bild
trägt die einfache bischöfliche Tracht (Konstantinopel, Hagia Sophia,
10. Jh.; Venedig, S. Marco, 12. Jh.; Monreale, Sizilien; Rom, Lateran:
Sancta Sanctorum, 13. Jh.). Mit starker Zunahme der Darstellungen
im 15. Jh. häufen sich auch die Darstellungen mit Mitra und 3 goldenen
Kugeln (in Deutschland: auch 3 Äpfel oder Brote). Neben solchen Attributen
finden sich auch 3 Knaben, die aus einer Kufe aufsteigen, seltener
Anker oder Schiff. In den Glasfenstern zu Chartres, Le Mans und Tours
aus der Zeit der Gotik wird er ebenso dargestellt wie auf spätmittelalterlichen
Tafelbildern. Gerade diese bestätigen seine Beliebtheit als hl. Bischof
über viele Jahrhunderte (s. Bibliotheca SS, IX; LCI, VIII). Um 1500
waren ihm im Abendland weit über 2000 Kirchen und Kapellen geweiht.
- Legenden, Patronat und Brauchtum sind eng miteinander verknüpft.
Als Patron der Kinder und des Kindersegens, der Reisenden und der
Rechtskundigen genießt er bis heute Ansehen. Sein Festtag, bzw. der
Abend zuvor, ist Anlaß, Kinder zu beschenken. Vorläufer dieses Schenkbrauches
sind bei mittelalterlichen Bischofsspielen (13. Jh.) festzustellen.
In Erinnerung an die Legende von den 3 goldenen Äpfeln (Goldklumpen)
und an die Erzählung von den Schülern kehrte Nikolaus an mittelalterlichen
kirchlichen Schulen als Kinderbischof vor Weihnachten ein. Er befragte
und bescherte dann die Schüler (Kinder). Aus diesem älteren mittelalterlichen
Nikolausspiel (s. Mirakelspiel) in den Schulen entwickelte sich das
Nikolaus-Volksschauspiel; es war besonders in der Steiermark und in
Kärnten verbreitet. Der Schenkbrauch am Nikolaustag, verbunden mit
pädagogischen Elementen, hat seine Wurzeln im mittelalterlichen Regiment
des Kinderbischofs an den Schulen. Reformation und folgende Jahrhunderte
drängten den Heiligentag zurück und verlegten den Schenkbrauch in
bestimmten Regionen auf Weihnachten. In katholischen Gebieten wurde
und wird der Vorabend zum 6. Dezember als Rüge- und Schenktag bis
heute begangen. Lärmbräuche (s. Krampus, Gangerl, Knecht Ruprecht)
können diesen in seinem Ablauf begleiten. Der angelsächsische Sprachraum
hat dessen volkstümlichen Kult in der Benützung des Santa Claus (Weihnachtsmanns)
für den Kommerz der Vorweihnachtszeit und durch die Verlegung des
Schenkbrauches auf Weihnachten die Gestalt des Heiligen profanisiert.
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Die Urfassung des N.spiels von den 3 Jungfrauen: Zschr. für roman.
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Réau III, 2, 976-978; - RGG 3IV, Sp. 1489 f.; - Wimmer,
344 f.
Klaus Guth
Textergänzung
"Der Ort heißt heute Mugla." Das ist nicht richtig. Das griechische Myra heißt heute in der
türkischen Amtssprache "Kale", wird umgangssprachlich überwiegend "Demre" genannt.