Verlag Traugott Bautz
www.bautz.de/bbkl
Zur Hauptseite
Bestellmöglichkeiten
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographische Angaben für das Zitieren
Suche in den Texten des BBKL
Infobriefe des aktuellen Jahres

NEU: Unser E-News Service
Wir informieren Sie vierzehntägig über Neuigkeiten und Änderungen per E-Mail.

Helfen Sie uns, das BBKL aktuell zu halten!



Band VI (1993)Spalte 717-721 Autor: Barbara Wolf-Dahm

NIEBUHR, Barthold Georg, preußischer Staatsbeamter, außerordentlicher Gesandter beim Heiligen Stuhl, Historiker, insbesondere Altertumsforscher, * 27.8. 1776 in Kopenhagen als Sohn des berühmten Forschungsreisenden Carsten N. und seiner Frau Christiane Sophie, geb. Blumenberg, + 2.1. 1831 in Bonn. - Zwei Jahre nach N.s Geburt übersiedelten seine Eltern nach Meldorf, weil der Vater eine Stelle als Landschreiber (Steuereinnehmer) von Süderdithmarschen antrat. In der ländlichen Abgeschiedenheit des westlichen Schleswig-Holstein eignete sich N. sein Wissen weitgehend autodidaktisch an. Sein Vater, der ihm anfangs Unterricht erteilte, und ein Hauslehrer erkannten schon früh die außerordentliche Intelligenz des introvertierten Knaben, dessen Bildungshunger unstillbar schien, wobei er ein ungewöhnliches Gedächtnis besaß. Obwohl er seiner regen Phantasie gern freien Lauf ließ, war ihm auch die Fähigkeit zu praktisch-analytischem Denken eigen. Aufgrund seiner erstaunlichen Sprachbegabung lernte er im Laufe der Zeit 20 alte und neue Sprachen. Nach dem kurzzeitigen Besuch des heimischen Gymnasiums (1789-1791) und dem Aufenthalt in einer Hamburger Handelsakademie (1793) studierte N. 1794-1796 an der Universität Kiel Jura, Naturwissenschaften, Philosophie und Geschichte. Während dieser Zeit stand er in engem Kontakt mit dem Eutiner gelehrten Zirkel um Johann Heinrich Voß und Friedrich Heinrich Jacobi. Schon damals erkannte er klar seine Stärken, als er am 16.11. 1794 schrieb: »wenn mein Name genannt werden sollte, wird man mich als Geschichtsschreiber und politischen Schriftsteller, als Alterthumsforscher und Philologen kennen«. Sein besonderes Interesse galt der Alten Geschichte. In Kiel schloß N. Freundschaft mit der verwitweten Dora Hensler, die ein Leben lang währen sollte. Dora Hensler ist auch die Veröffentlichung der biographisch wertvollen »Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde« (3 Bde., 1838-1839) zu verdanken. Diese Studienzeit wurde unterbrochen, als der Dänische Finanzminister Graf Schimmelmann N. im Januar 1796 als Privatsekretär engagierte. Es folgten eine vorübergehende Tätigkeit als Sekretär der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen (1797) und eine Kavalierstour durch England und Schottland (1798/99), auf der N. seine Kenntnisse der englischen Verfassung und Wirtschaft vertiefte sowie an der Universität Edinburgh Natur- und Agrarwissenschaften studierte. Im Frühjahr 1800 trat er in die dänische Finanzverwaltung ein als Assessor im Ostindischen Büro des »Ökonomie- und Kommerzkollegiums« sowie Sekretär für die barbaresken Angelegenheiten. Am 22.5. 1800 heiratete er Amalie Behrens, die Tochter des Landvogts von Norderdithmarschen und Schwester Dora Henslers. 1804 stieg er zum Direktor der Dänischen Staatsbank, Direktor des Ostindischen Büros und Mitglied der »Permanenten Kommission für die barbaresken Angelegenheiten« auf. N.s Ruf als Finanzexperte drang bald über die Grenzen Dänemarks hinaus. So gewann ihn Freiherr vom Stein, der 1805 die Leitung der Preußischen Finanzverwaltung übernommen hatte, 1806 für die Mitarbeit in der Preußischen Bank und Seehandlung. In den schwierigen Jahren nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt und dem Frieden von Tilsit gelang es N., die preußischen Staatsfinanzen einigermaßen zu ordnen, u.a. durch Aufnahme einer Staatsanleihe in Holland 1809, in deren Folge er zum Geheimen Staatsrat und Sektionschef für das Staatsschuldenwesen und die Geldinstitute ernannt wurde (11.12. 1809). Im Kreise der Reformer um Stein und Schön entfaltete N., der eher konservativ gesinnte Befürworter gewisser Reformen von oben, rege Aktivitäten. Als jedoch 1810 Hardenberg zum Staatskanzler berufen wurde, gegen den N. eine persönliche Abneigung hegte und dessen Politik er offen kritisierte, zog er sich aus den Staatsgeschäften zurück. Am 25.1. 1810 in die preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, begann er im Wintersemester 1810/11 an der neu gegründeten Berliner Universität Vorlesungen über römische Geschichte zu halten, die großes Aufsehen erregten und auch von Prinzen, Offizieren, Gelehrten und Regierungsbeamten besucht wurden. Aus diesen Vorlesungen ging N.s Hauptwerk, die »Römische Geschichte«, hervor, die in zwei Bänden 1811/12 erschien. Mit dieser Schrift, worin er die Überlieferung zu den Anfängen Roms kritisch untersuchte, wurde N. zum Begründer der historischen Quellenkritik und somit der modernen Geschichtsschreibung. Sein methodischer Ansatz beeinflußte u.a. Ranke und Savigny. Auch bemühte sich N. um eine Gesamtschau der geschichtlichen Entwicklung und Zusammenhänge. Sein Versuch, die römische Geschichte mit den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit zu vergleichen, z.B. die lex agraria mit der Bauernbefreiung in Bezug zu setzen, war allerdings zum Scheitern verurteilt. Die Jahre seiner Berliner Lehrtätigkeit bezeichnete N. als die glücklichsten seines Lebens. Während der Befreiungskriege betätigte er sich publizistisch als Herausgeber des »Preußischen Correspondenten« und Verfasser einer Denkschrift über »Preußens Recht wider den sächsischen Hof« (Januar 1815), worin er für eine Annexion Sachsens durch Preußen wie überhaupt für die führende Rolle Preußens bei der Einigung Deutschlands plädierte. 1815 trafen ihn auch persönliche Schicksalsschläge: der Tod des verehrten Vaters und seiner geliebten Frau. Nachdem seine erste Ehe kinderlos geblieben war, heiratete er 1816 Margarethe Lucie Hensler, eine Nichte seiner Freundin Dora, die ihm noch vier Kinder schenkte. Im gleichen Jahr wandte er sich, vom König gerufen, wieder der Politik zu. Als außerordentlicher Gesandter führte er in Rom die Verhandlungen Preußens mit dem Heiligen Stuhl über die Reorganisation der katholischen Kirche, die in der Bulle »De salute animarum« vom 16.7. 1821 ihren Abschluß fanden. Dabei bewies N., den auch Papst Pius VII. und Kardinalstaatssekretär Consalvi schätzten, diplomatisches Geschick. König Friedrich Wilhelm III. erwies ihm seine Anerkennung durch Verleihung des Roten Adlerordens zweiter Klasse. 1819 richtete N. in seiner römischen Residenz den ersten deutschen evangelischen Gottesdienst ein, 1822 sorgte er für die Erhaltung des protestantischen Friedhofes an der Cestius-Pyramide, so daß Ranke ihn als »Fürsprecher aller Deutschen und Protestanten in Rom« bezeichnete. Abgesehen von der Entdeckung einer Rechtshandschrift des Gaius in Verona verlief der Italienaufenthalt für den Althistoriker N., der die Römische Republik bewunderte, die Kaiserzeit hingegen abfällig beurteilte, enttäuschend. 1823 gab er den Gesandtschaftsposten auf. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Bonn, wo er an der Friedrich-Wilhelms-Universität wieder über Alte Geschichte und Zeitgeschichte dozierte und seine »Römische Geschichte« überarbeitete. In jener Zeit war er als Altertumsforscher und Universalhistoriker in ganz Europa berühmt, blieb aber persönlich bescheiden. Schon immer von schwacher Gesundheit und hypersensibel, erregte ihn die Französische Julirevolution 1830 derart, daß er ernstlich erkrankte und am 2.1. 1831 einer Lungenentzündung erlag. Neun Tage später starb seine Frau. - N.s Leistung als Politiker und Historiker wird von der Nachwelt ambivalent beurteilt. Einerseits setzte er sich für Reformen zugunsten der benachteiligten Schichten, wie beispielsweise der Bauern, ein, andererseits blieb er dem Ideal des aufgeklärten Absolutismus verhaftet, lehnte Volksbewegungen ab und fand auch keinen Zugang zum politischen Liberalismus des Vormärz. Letztlich betrieb er Politik mehr auf der akademischen denn auf der praktischen Ebene. Seine methodischen Ansätze zur Altertumswissenschaft (Quellenkritik, Einbeziehung der Philologie und Soziologie sowie die Gesamtschau einer Epoche) waren seinerzeit bahnbrechend. Aber sie überdauerten sein Leben nur kurze Zeit, ehe sie von anderen Historikern wie Theodor Mommsen teils weiterentwickelt, teils revidiert wurden. So ist N.s Werk, zu Lebzeiten hoch geschätzt, für die moderne Forschung nurmehr von historischem Interesse.

Werke: Bibliogr.: ADB XXIII, 660 f.; Barthold C. Witte, Der preußische Tacitus (s.u.), 211 f.; Briefe. Neue Folge. 1816-1830, hrsg. v. Eduard Vischer, 4 Bde., 1981-1984.

Bibliographie: Bibliogr. d. wichtigsten Darstellungen bis 1977: Barthold C. Witte, Der preußische Tacitus (s.u.), 212-214.

Lit.: Dora Hensler, Lebensnachrichten über B.G.N. aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde, 3 Bde., 1838-1839; - Otto Mejer, Zur Geschichte der römisch-deutschen Frage, 3 Bde., 1871-1885; - Heinz Berthold, B.G.N. und J.W. Goethe über die Geschichte Altroms, in: Klio 60, 1978, H. 2, 569-579; - Corinna Gaedeke, Geschichte und Revolution bei N., Droysen und Mommsen, 1978; - Hein Herz, N. im preußischen Staatsdienst, in: Klio 60, 1978, H. 2, 553-568; - Liselot Huchthausen, B.G.N., Garlieb Merkel und die Entdeckung der Gaius-Handschrift, in: Klio, ebd., 581-587; - Johannes Irmscher, B.G.N. als Byzantinist, in: Klio, ebd., 589-592; - Heinz Warnecke, Leben und Wirken B.G.N.s, in: Klio, ebd., 541-552; - Zvi Yavetz, Zeitgeist und deutsche Althistoriker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jb. d. Inst. f. dt. Gesch. 7, 1978, 256-276; - Barthold C. Witte, Der preußische Tacitus. Aufstieg, Ruhm und Ende des Historikers B.G.N. 1776-1831, 1979; - Karl Christ, B.G.N., in: Deutsche Historiker, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Bd. 6, 1980, 23-36; - Christian Degn, Der junge B.G.N. als Sozialkritiker, in: Geschichte und Gegenwart. Festschr. für Karl Dietrich Erdmann, hrsg. v. Hartmut Boockmann/Kurt Jürgensen/Gerhard Stoltenberg, 1980, 577-593; - Alfred Heuß, B.G.N.s wissenschaftliche Anfänge. Untersuchungen und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuscripte und zur europäischen Tradition der lex agraria (loi agraire), 1981; - Ders., Näheres zu N., in: Antike und Abendland 27, 1981, Nr. 1/2, 1-33; - Gerhard Wirth (Hrsg.), B.G.N. Historiker und Staatsmann. Vorträge bei dem anläßlich seines 150. Todestages in Bonn veranstalteten Kolloquium. 10.-12. November 1981, 1984; - Uwe Meves, B.G.N.s Vorschläge zur Begründung einer wissenschaftlichen Disziplin »Deutsche Philologie« (1812-1816), in: ZdPh 104, 1985, Nr. 3, 321-356; - Horst W. Blanke, Die Kritik der Alexanderhistoriker bei Heyne, Heeren, N. und Droysen. eine Fallstudie zur Entwicklung der historisch-philologischen Methode in der Aufklärung und im Historismus, in: Storia della Storiografia 13, 1988, 106-127; - Marlis Oehme, Die römische Villenwirtschaft. Untersuchungen zu den Agrarschriften Catos und Columellas und ihrer Darstellung bei N. und Mommsen (Diss. Marburg 1987), 1988; - Neuer Nekrolog der Deutschen 9, 1831, Tl. 1, 19-35; - ADB XXIII, 646-661; - GG VI, 333 f.; - RGG IV, 1458; - LThK VII, 950.

Barbara Wolf-Dahm

Letzte Änderung: 03.02.1999