NIEBUHR, Barthold Georg, preußischer Staatsbeamter, außerordentlicher
Gesandter beim Heiligen Stuhl, Historiker, insbesondere Altertumsforscher,
* 27.8. 1776 in Kopenhagen als Sohn des berühmten Forschungsreisenden
Carsten N. und seiner Frau Christiane Sophie, geb. Blumenberg, + 2.1.
1831 in Bonn. - Zwei Jahre nach N.s Geburt übersiedelten seine
Eltern nach Meldorf, weil der Vater eine Stelle als Landschreiber
(Steuereinnehmer) von Süderdithmarschen antrat. In der ländlichen
Abgeschiedenheit des westlichen Schleswig-Holstein eignete sich N.
sein Wissen weitgehend autodidaktisch an. Sein Vater, der ihm anfangs
Unterricht erteilte, und ein Hauslehrer erkannten schon früh die außerordentliche
Intelligenz des introvertierten Knaben, dessen Bildungshunger unstillbar
schien, wobei er ein ungewöhnliches Gedächtnis besaß. Obwohl er seiner
regen Phantasie gern freien Lauf ließ, war ihm auch die Fähigkeit
zu praktisch-analytischem Denken eigen. Aufgrund seiner erstaunlichen
Sprachbegabung lernte er im Laufe der Zeit 20 alte und neue Sprachen.
Nach dem kurzzeitigen Besuch des heimischen Gymnasiums (1789-1791)
und dem Aufenthalt in einer Hamburger Handelsakademie (1793) studierte
N. 1794-1796 an der Universität Kiel Jura, Naturwissenschaften, Philosophie
und Geschichte. Während dieser Zeit stand er in engem Kontakt mit
dem Eutiner gelehrten Zirkel um Johann Heinrich Voß und Friedrich
Heinrich Jacobi. Schon damals erkannte er klar seine Stärken, als
er am 16.11. 1794 schrieb: »wenn mein Name genannt werden sollte,
wird man mich als Geschichtsschreiber und politischen Schriftsteller,
als Alterthumsforscher und Philologen kennen«. Sein besonderes Interesse
galt der Alten Geschichte. In Kiel schloß N. Freundschaft mit der
verwitweten Dora Hensler, die ein Leben lang währen sollte. Dora Hensler
ist auch die Veröffentlichung der biographisch wertvollen »Lebensnachrichten
über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus Erinnerungen
einiger seiner nächsten Freunde« (3 Bde., 1838-1839) zu verdanken.
Diese Studienzeit wurde unterbrochen, als der Dänische Finanzminister
Graf Schimmelmann N. im Januar 1796 als Privatsekretär engagierte.
Es folgten eine vorübergehende Tätigkeit als Sekretär der Königlichen
Bibliothek in Kopenhagen (1797) und eine Kavalierstour durch England
und Schottland (1798/99), auf der N. seine Kenntnisse der englischen
Verfassung und Wirtschaft vertiefte sowie an der Universität Edinburgh
Natur- und Agrarwissenschaften studierte. Im Frühjahr 1800 trat er
in die dänische Finanzverwaltung ein als Assessor im Ostindischen
Büro des »Ökonomie- und Kommerzkollegiums« sowie Sekretär für die
barbaresken Angelegenheiten. Am 22.5. 1800 heiratete er Amalie Behrens,
die Tochter des Landvogts von Norderdithmarschen und Schwester Dora
Henslers. 1804 stieg er zum Direktor der Dänischen Staatsbank, Direktor
des Ostindischen Büros und Mitglied der »Permanenten Kommission für
die barbaresken Angelegenheiten« auf. N.s Ruf als Finanzexperte drang
bald über die Grenzen Dänemarks hinaus. So gewann ihn Freiherr vom
Stein, der 1805 die Leitung der Preußischen Finanzverwaltung übernommen
hatte, 1806 für die Mitarbeit in der Preußischen Bank und Seehandlung.
In den schwierigen Jahren nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt
und dem Frieden von Tilsit gelang es N., die preußischen Staatsfinanzen
einigermaßen zu ordnen, u.a. durch Aufnahme einer Staatsanleihe in
Holland 1809, in deren Folge er zum Geheimen Staatsrat und Sektionschef
für das Staatsschuldenwesen und die Geldinstitute ernannt wurde (11.12.
1809). Im Kreise der Reformer um Stein und Schön entfaltete N., der
eher
konservativ gesinnte Befürworter gewisser Reformen von oben,
rege Aktivitäten. Als jedoch 1810 Hardenberg zum Staatskanzler berufen
wurde, gegen den N. eine persönliche Abneigung hegte und dessen Politik
er offen kritisierte, zog er sich aus den Staatsgeschäften zurück.
Am 25.1. 1810 in die preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen,
begann er im Wintersemester 1810/11 an der neu gegründeten Berliner
Universität Vorlesungen über römische Geschichte zu halten, die großes
Aufsehen erregten und auch von Prinzen, Offizieren, Gelehrten und
Regierungsbeamten besucht wurden. Aus diesen Vorlesungen ging N.s
Hauptwerk, die »Römische Geschichte«, hervor, die in zwei Bänden 1811/12
erschien. Mit dieser Schrift, worin er die Überlieferung zu den Anfängen
Roms kritisch untersuchte, wurde N. zum Begründer der historischen
Quellenkritik und somit der modernen Geschichtsschreibung. Sein methodischer
Ansatz beeinflußte u.a. Ranke und Savigny. Auch bemühte sich N. um
eine Gesamtschau der geschichtlichen Entwicklung und Zusammenhänge.
Sein Versuch, die römische Geschichte mit den politisch-gesellschaftlichen
Verhältnissen seiner Zeit zu vergleichen, z.B. die lex agraria mit
der Bauernbefreiung in Bezug zu setzen, war allerdings zum Scheitern
verurteilt. Die Jahre seiner Berliner Lehrtätigkeit bezeichnete N.
als die glücklichsten seines Lebens. Während der Befreiungskriege
betätigte er sich publizistisch als Herausgeber des »Preußischen Correspondenten«
und Verfasser einer Denkschrift über »Preußens Recht wider den sächsischen
Hof« (Januar 1815), worin er für eine Annexion Sachsens durch Preußen
wie überhaupt für die führende Rolle Preußens bei der Einigung Deutschlands
plädierte. 1815 trafen ihn auch persönliche Schicksalsschläge: der
Tod des verehrten Vaters und seiner geliebten Frau. Nachdem seine
erste Ehe kinderlos geblieben war, heiratete er 1816 Margarethe Lucie
Hensler, eine Nichte seiner Freundin Dora, die ihm noch vier Kinder
schenkte. Im gleichen Jahr wandte er sich, vom König gerufen, wieder
der Politik zu. Als außerordentlicher Gesandter führte er in Rom die
Verhandlungen Preußens mit dem Heiligen Stuhl über die Reorganisation
der katholischen Kirche, die in der Bulle »De salute animarum« vom
16.7. 1821 ihren Abschluß fanden. Dabei bewies N., den auch Papst
Pius VII. und Kardinalstaatssekretär Consalvi schätzten, diplomatisches
Geschick. König Friedrich Wilhelm III. erwies ihm seine Anerkennung
durch Verleihung des Roten Adlerordens zweiter Klasse. 1819 richtete
N. in seiner römischen Residenz den ersten deutschen evangelischen
Gottesdienst ein, 1822 sorgte er für die Erhaltung des protestantischen
Friedhofes an der Cestius-Pyramide, so daß Ranke ihn als »Fürsprecher
aller Deutschen und Protestanten in Rom« bezeichnete. Abgesehen von
der Entdeckung einer Rechtshandschrift des Gaius in Verona verlief
der Italienaufenthalt für den Althistoriker N., der die Römische Republik
bewunderte, die Kaiserzeit hingegen abfällig beurteilte, enttäuschend.
1823 gab er den Gesandtschaftsposten auf. Seine letzten Lebensjahre
verbrachte er in Bonn, wo er an der Friedrich-Wilhelms-Universität
wieder über Alte Geschichte und Zeitgeschichte dozierte und seine
»Römische Geschichte« überarbeitete. In jener Zeit war er als Altertumsforscher
und Universalhistoriker in ganz Europa berühmt, blieb aber persönlich
bescheiden. Schon immer von schwacher Gesundheit und hypersensibel,
erregte ihn die Französische Julirevolution 1830 derart, daß er ernstlich
erkrankte und am 2.1. 1831 einer Lungenentzündung erlag. Neun Tage
später starb seine Frau. - N.s Leistung als Politiker und Historiker
wird von der Nachwelt ambivalent beurteilt. Einerseits setzte er sich
für Reformen zugunsten der benachteiligten Schichten, wie beispielsweise
der Bauern, ein, andererseits blieb er dem Ideal des aufgeklärten
Absolutismus verhaftet, lehnte Volksbewegungen ab und fand auch keinen
Zugang zum politischen Liberalismus des Vormärz. Letztlich betrieb
er Politik mehr auf der akademischen denn auf der praktischen Ebene.
Seine methodischen Ansätze zur Altertumswissenschaft (Quellenkritik,
Einbeziehung der Philologie und Soziologie sowie die Gesamtschau einer
Epoche) waren seinerzeit bahnbrechend. Aber sie überdauerten sein
Leben nur kurze Zeit, ehe sie von anderen Historikern wie Theodor
Mommsen teils weiterentwickelt, teils revidiert wurden. So ist N.s
Werk, zu Lebzeiten hoch geschätzt, für die moderne Forschung nurmehr
von historischem Interesse.
Werke: Bibliogr.: ADB XXIII, 660 f.; Barthold C. Witte,
Der preußische Tacitus (s.u.), 211 f.; Briefe. Neue Folge. 1816-1830,
hrsg. v. Eduard Vischer, 4 Bde., 1981-1984.
Bibliographie: Bibliogr. d. wichtigsten Darstellungen
bis 1977: Barthold C. Witte, Der preußische Tacitus (s.u.), 212-214.
Lit.: Dora Hensler, Lebensnachrichten über B.G.N. aus
Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nächsten Freunde,
3 Bde., 1838-1839; - Otto Mejer, Zur Geschichte der römisch-deutschen
Frage, 3 Bde., 1871-1885; - Heinz Berthold, B.G.N. und J.W. Goethe
über die Geschichte Altroms, in: Klio 60, 1978, H. 2, 569-579; -
Corinna Gaedeke, Geschichte und Revolution bei N., Droysen und Mommsen,
1978; - Hein Herz, N. im preußischen Staatsdienst, in: Klio 60,
1978, H. 2, 553-568; - Liselot Huchthausen, B.G.N., Garlieb Merkel
und die Entdeckung der Gaius-Handschrift, in: Klio, ebd., 581-587;
- Johannes Irmscher, B.G.N. als Byzantinist, in: Klio, ebd., 589-592;
- Heinz Warnecke, Leben und Wirken B.G.N.s, in: Klio, ebd., 541-552;
- Zvi Yavetz, Zeitgeist und deutsche Althistoriker in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jb. d. Inst. f. dt. Gesch. 7, 1978,
256-276; - Barthold C. Witte, Der preußische Tacitus. Aufstieg,
Ruhm und Ende des Historikers B.G.N. 1776-1831, 1979; - Karl Christ,
B.G.N., in: Deutsche Historiker, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Bd.
6, 1980, 23-36; - Christian Degn, Der junge B.G.N. als Sozialkritiker,
in: Geschichte und Gegenwart. Festschr. für Karl Dietrich Erdmann,
hrsg. v. Hartmut Boockmann/Kurt Jürgensen/Gerhard Stoltenberg, 1980,
577-593; - Alfred Heuß, B.G.N.s wissenschaftliche Anfänge. Untersuchungen
und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuscripte und zur europäischen
Tradition der lex agraria (loi agraire), 1981; - Ders., Näheres
zu N., in: Antike und Abendland 27, 1981, Nr. 1/2, 1-33; - Gerhard
Wirth (Hrsg.), B.G.N. Historiker und Staatsmann. Vorträge bei dem
anläßlich seines 150. Todestages in Bonn veranstalteten Kolloquium.
10.-12. November 1981, 1984; - Uwe Meves, B.G.N.s Vorschläge zur
Begründung einer wissenschaftlichen Disziplin »Deutsche Philologie«
(1812-1816), in: ZdPh 104, 1985, Nr. 3, 321-356; - Horst W. Blanke,
Die Kritik der Alexanderhistoriker bei Heyne, Heeren, N. und Droysen.
eine Fallstudie zur Entwicklung der historisch-philologischen Methode
in der Aufklärung und im Historismus, in: Storia della Storiografia
13, 1988, 106-127; - Marlis Oehme, Die römische Villenwirtschaft.
Untersuchungen zu den Agrarschriften Catos und Columellas und ihrer
Darstellung bei N. und Mommsen (Diss. Marburg 1987), 1988; - Neuer
Nekrolog der Deutschen 9, 1831, Tl. 1, 19-35; - ADB XXIII, 646-661;
- GG VI, 333 f.; - RGG IV, 1458; - LThK VII, 950.