Ein auf Konventionen basierendes Schriftsystem weist immer eine relativ große Uneinheitlichkeit der Schreibungen auf, was ab einem bestimmten Niveau der schriftlichen Kommunikation in einer Gesellschaft zu Verständigungsproblemen führt.
Dann kann es zu schriftlichen Kodifizierungen dieser Konventionen kommen, wobei zwischen unterschiedlichen Varianten entschieden wird. Unter bestimmten politischen Voraussetzungen können diese Normen dann durch eine staatliche Instanz verordnet und durchgesetzt werden (Schulen, Verwaltung, Rechtswesen). In diesem Fall wird von einer Orthographie gesprochen: der bewussten Normierung eines Schriftsystems.
Orthographische Kodices bestehen häufig aus zwei Teilen: Einem Regelverzeichnis und einem Wörterverzeichnis. Im Regelverzeichnis stehen generalisierte Aussagen über Schreibungen. Im Wörterverzeichnis können diese exemplifiziert werden und insbesondere stehen hier solche Schreibungen, die nicht von den Regeln erfasst werden (man kann auch sagen: die Ausnahmen)
Orthographische Regelungen können aber die Schreibungen nicht für alle Personen und Zeiten festschreibenden, vielmehr ändert sich häufig im Laufe der Zeit der Schreibusus. Dies hängt mit der Eigendynamik von Schriftsystemen zusammen.
Wird der "Abstand" zwischen Schreibusus (also dem tatsächlichen Schriftsystem) und den kodifizierten Regeln (der Orthographie) zu groß, empfiehlt sich eine Orthographiereform. Im Idealfall folgt eine Reform dann den Wandlungen des Schreibusus und "erfindet" nicht selbst neue Regeln.
In der Schriftlinguistik konkurrieren zwei unterschiedliche Einschätzungen zum Status von Schriftsystemen:
Dependenzhypothese: Schriftsysteme sind sekundäre Zeichensysteme, die von einem System der gesprochenen Sprache willentlich abgeleitet sind. Daher sind sie auch als linguistische Untersuchungsgegenstände relativ uninteressant, sondern nur im Zusammenhang von Pädagogik und Bildungspolitik.Einschätzung dieser Kontroverse: Im Falle von Schrifterfindungen oder neuverschrifteten Sprachen ist die Dependenzhypothese sicherlich richtig. Bei altverschrifteten Sprachen mit einer ausgeprägten Schriftpraxis ist jedoch die Autonomiehypothese plausibler. Hier entsteht durch den Schreibusus eine eigenständige Systembildung. Lediglich im Falle systemwidriger Orthographiereformen mag es zu Einschränkungen des Autonomiecharakters kommen.Autonomiehypothese: Schriftsysteme sind zwar historisch und (im Normalfall) ontogenetisch Systemen der gesprochenen Sprache nachgeordnet, sie folgen jedoch eigenen Prinzipien der Systembildung
Gibt es eine Evolution
der Schrift?
Da es kein für alle Sprachen und
alle historischen Umstände optimales Schriftsystem gibt, kann es auch
nicht eine einfache evolutionäre Rangfolge bzw. Höherentwicklung
der Schriftsysteme geben. Zurückzuweisen ist daher z.B. die folgende
Auffassung:
Zu völliger Reinheit und Eindeutigkeit, sowohl Konsonanten wie Vokale bezeichnend, ist die Buchstabenschrift erst unter der Hand der Indoeuropäer gelangt, ansatzweise bei den alten Indern und Persern (wo wir es mit einer Mischung von Silben- und Buchstabenschrift zu tun haben), endgültig bei den Griechen.
Damit ist dem Prinzip nach die Entwicklung der Schrift abgeschlossen. Eine Weiterbildung ist nur noch nach zwei Richtungen hin denkbar: in der Richtung größerer Genauigkeit in der Wiedergabe der verschiedenen Sprachlaute (wissenschaftliche Lautschriften, /.../), 2. in der Richtung einer größeren Vereinfachung der Buchstabenschrift selber (Kurzschrift, /.../).
()
2.1 Abgrenzungen: Vorläufer der
Schrift, Protoschriften
Die Schrift geht historisch aus verschiedenen
Zeichensystemen hervor. Solche protoschriftlichen Zeichensysteme unterscheiden
sich von Schriftsystemen dadurch, dass sie
sich nicht auf sprachliche Einheiten beziehen wie Piktographien
oder Ideographien.
In der Regel geht man weiterhin davon aus, dass Schriftsysteme aus graphischen Zeichen gebildet sind (im Unterschied zu sog. Gegenstands“schriften“).
Allerdings gibt es auch nicht-graphische Zeichensysteme, wie die sog. Braille ("Blindenschrift") oder Fingeralphabete, die man aus funktionalen Gründen als (Sonder-)Schriften bezeichnen muss.
Andere graphische Zeichensysteme, wie die Notenschrift oder mathematische Zeichen, fallen aus dem Gegenstandsbereich der Schriftsysteme heraus, weil sie sich nicht auf Sprache beziehen.
2.2. Typologie
Schriftsysteme sind keine Abbilder von
Sprachsystemen, vielmehr sollen sie in einer optimalen Weise eine Rekonstruktion
eines sprachlichen Ausdrucks aus einer Folge von schriftlichen Zeichen
ermöglichen. Dazu können sie verschiedene Aspekte eines Sprachsystems
repräsentieren.
Ein Schrifttypologie unterscheidet nun
Möglichkeiten, wie sich ein Schriftsystem auf das System einer Sprache
beziehen kann. Wie für die meisten Typologien gilt auch hier: Reale
Schriftsysteme verkörpern fast nie einen idealen Typ, sondern sind
Mischungen, wobei aber ein typologisches Merkmal dominieren kann.
Bezug | Beispiele | Zeichenumfang | |
Inhaltsseite | Konzepte | 1 (eins, uno, satu, ...), Han-Schriftzeichen | extrem hoch |
Ausdrucksseite | |||
|
|||
|
Phoneme | /a, b/ | gering |
|
Silben,
Tonhöhen |
se - h
- en,
Algonkin-Schriftzeichen, Vietnamesische Schriftzeichen |
mittel |
|
|||
|
z.B.Flexionsparadigma | der Wald
- des Waldes,
backen - Bäcker |
|
|
Wort-Wortgruppe
nominale Funktion
|
gutschreiben
- gut schreiben
Die Trägen, die zu Hause liegen, erquicket nicht das Morgenrot, |
Üblicherweise unterscheidet man bei Sprachen eine Formseite und eine Inhaltsseite. Diese lassen sich wiederum in vielfältiger Weise differenzieren.
Ein Bezug auf die Inhaltsseite
hat den Vorteil, dass ein solches Schriftzeichen in unterschiedlichen Sprachen
gleich verstanden werden kann. So wird z.B. das arabische Zeichen "1" in
den meisten Schriften der Welt zwar unterschiedlich ausgesprochen, aber
in gleicher Weise verstanden. Die korrespondierenden lautsprachlichen Wörter
für dieses Zeichen werden hingegen nur in den jeweiligen Einzelsprachen
verstanden. Ähnliches gilt für viele Han-Schriftzeichen:
Aus: The Unicode Standard
Version 3.0 2000: 261. Die Superskripte in der chinesischen Spalte stehen
für Töne.
Ein und dasselbe Schriftzeichen kann in allen drei Sprachen verwandt werden. Die jeweiligen Aussprachen unterscheiden sich, aber die Bedeutung bleibt gleich, so dass die einzelnen Schriftzeichen wechselseitig verstanden werden. Dies ist natürlich ein großer Vorteil für die schriftliche Kommunikation.
Der Bezug auf die Inhaltsseite bringt allerdings auch erheblich Kosten mit sich: Der Zeichenbestand ist extrem hoch, im (nicht existierenden) Idealfall eines reinen Typs wäre die Menge der Schriftzeichen gleich der Menge der Konzepte. Dieses quantitative Problem mag ein Grund gewesen sein, weswegen sich in der Schriftgeschichte der Bezug auf die Ausdrucksseite der Sprache herausgebildet hat. Hier steht dem Gewinn eines erheblich geringeren Zeichenumfangs dann der Preis gegenüber, dass die geschriebenen Zeichen nur noch innerhalb eines Sprachsystems verstanden werden können. Die meisten dominant logographischen Systeme enthalten auch Hinweise auf die Aussprache (Chinesisch, Altägyptisch, Majaschriften).
Der Übergang von der Inhaltsseite auf die Ausdrucksseite:Ein Bezug auf die Ausdrucksseite der Sprache eröffnet zwei Möglichkeiten: die Lautstruktur und die grammatische Struktur. Da die Codierung der gesamten grammatischen Information eines Wortes aber noch keinen Zugang zu seiner Bedeutung ermöglicht - es werden damit zu große Klassen gebildet -, basieren ausdrucksseitige Schriftsysteme überwiegend auf der Lautstruktur. Grammatische Merkmale werden dann als Ergänzungen zur Lautcodierung berücksichtigt.
Die kognitve Brücke zwischen der Logographie und der Phonographie wird in dem Rebusprinzip gesehen: Ein Logogramm wird hier nicht verwendet, um ein Wort zu bezeichnen, sondern der Anlaut dieses Wortes dient als phonetisches Determinativ für ein anderes Logogramm.
Segmentale Einheiten
der Lautstruktur
Die meisten segmentbezogenen Schriftsysteme
repräsentieren nicht konkrete Laute, sondern Lautklassen (Phoneme).
In Konsonantenschriften sind dies nur Ausschnitte
aus dem Phoneminventar (Beispiel: Hebräisch, Arabisch). Ein deutscher
Text in Konsonantenschrift:
D Ddn-Grmtk stt n nr lngn Trdtn: 1850 rschnn d "Grndzg dr nhch-dtschn Grmtk fr hr Bldngsnstltn nd zr Slbstblrng fr Gbldt" vn Frdrch Br.In sog. Alphabetschriften werden idealtypisch alle Phoneme repräsentiert.Die Duden-Grammatik steht in einer langen Tradition: 1850 erschienen die "Grundzüge der neuhochdeutschen Grammatik für höhere Bildungsanstalten und zur Selbstbelehrung für Gebildete" von Friedrich Bauer.
Suprasegmentale Aspekte
der Lautstruktur
Eine Silbenschrift
enthält idealtypisch ein Schriftzeichen pro Silbe. Ihre dominante
Bezugsebene ist daher nicht mehr die Inhaltsseite der Sprache, sondern
ein Aspekt der Formseite, nämlich die Lautstruktur einer Sprache.
Beispiel: Japanische katakana- und hiragana-Schrift, Silbenschrift der
Cree (Canadian Aboriginal Symbols). Sie wurden um 1830 von James Evans
für die Algonkin-Sprachen entwickelt. Außerdem werden sie für
die Inuktitut- und die athapaskischen Sprachen benutzt. Beispiel:
Im Deutschen gibt es keine syllabographischen Schriftzeichen. Allerdings werden Aspekte der Silbenstruktur wie Silbengelenke, in bestimmten Fällen Silbengrenzen und Länge des Nukleus markiert.
In anderen Schriftsystemen werden suprasegmentale
Merkmale wie Tonhöhen codiert werden. Z.B. das Vietnamesische hat
12 Vokale und 5 Tonhöhen. Die Vokale haben Basiszeichen:
Tonhöhen werden durch diakritische
Zeichen codiert:
Vokalzeichen und diakritisches Tonhöhenzeichen
werden dann wie folgt kombiniert:
+
=
Grammatische Struktur
Der morphophonemische
Schrifttyp wird durch Sprachen begünstigt, die eine komplexe
Flexionsmorphologie viele Homophone haben. Er kommt wohl nicht isoliert
vor sondern nur als Erweiterung des alphabetischen Schrifttyps. Beispiel
aus dem Französischen zur Markierung grammatischer Endungen, die nicht
gesprochen werden:
<un bon coq> <deux bons
coq>
Einen syntaktischen
Schrifttyp gibt es auch nicht als isolierte
Form, sondern nur als Erweiterung anderer Schrifttypen. In Sprachen mit
eher freier Wortstellung dienen entsprechende Schriftzeichen zur Verdeutllichung
der grammatischen Struktur eines Satzes. Auch die Interpunktionszeichen
sind überwiegend diesem Strukturtyp zuzuordnen.
Die Struktur der Sprache, die das Schriftsystem repräsentiert
Entwickelte Schriftsysteme repräsentieren eine Sprache. Sie sind keine Abbildungen der gesprochenen Sprache, sondern sie stellen verschiedene Aspekte der Sprache systematisch so dar, dass ein Leser aus einer schriftlichen Information eine intendierte sprachliche Information optimal rekonstruieren kann. Dabei ist ein günstiges Verhältnis zwischen der Struktur der Sprache (Sprachtyp) und dem der Schrift (Schrifttyp) förderlich:Interessen des Lesers und des SchreibersDer logographische Schrifttyp ist eher für den isolierenden Sprachtyp (z.B. Chinesisch) förderlich, da die Wurzel des Wortes weitgehend unverändert bleibt, bzw. keine Wortformvarianten vorhanden sind, die graphisch gekennzeichnet werden müssten.
Der syllabographische Schrifttyp wird durch agglutinierende bzw. stammflektierende Sprachen begünstigt; d.h. durch Sprachen mit nur äußerer Flexion (grammatischen Affixen). Weiterhin ist er gut geeignet für Sprachen mit einer einfachen Silbenstruktur (CV oder CVC), da sich dann aus kombinatorischen Gründen nur ein geringes Silbeninventar und damit ein überschaubares Schriftzeicheninventar ergibt. Da das Deutsche eine komplexe Silbenstruktur (z.B. CCCVVCCC - Du sträubst dich.).
Frage: Wie sähe eine reine Silbenschrift aus, mit der man die folgende deutsche Gedichtstrophe (Goethe: Gingo Biloba) schreiben könnte?Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie's den Wissenden erbaut.Das Gedicht besteht aus 31 Silben (wenn man wie´s auflöst, sonst 30) und man bräuchte zu seiner Verschriftung 29 unterschiedliche Silbenzeichen, da es zu viele unterschiedliche Silben gibt (nur ten kommt dreimal vor; für die beiden den bräuchte man unterschiedliche Zeichen wegen der unterschiedlichen Vokallänge). Eine Silbenschrift für das Deutsche wäre also äußerst unökonomisch.Der alphabetische Schrifttyp wird durch wurzelflektierende Sprachen mit komplexer Silbenstruktur begünstigt.
Aus der Sicht des Schreibers ist ein Schriftsystem optimal, das leicht zu lernen und schnell zu schreiben ist. Da der Schreiber ja den Text kennt, genügt eine weniger differenzierte Repräsentatin sprachlicher Sachverhalte.Die Verwendung des SchriftsystemsAus der Sicht des Lesers ist ein Schriftsystem optimal, das eine möglichst schnelle und genaue Rekonstruktion des Gemeinten ermöglicht.
Je mehr ein Schriftsystem zu kommunikativen Zwecken (und nicht als Gedächtnisstütze für den Schreiber) verwendet wird und je größer der Adressatenkreis ist, desto wichtiger werden die Interessen des Lesers.
Die Vielfalt der Zwecke, zu denen ein Schriftsystem eingesetzt wird und damit die Vielfalt der Textsorten, die zu verschriften sind, bestimmen, wie elaboriert das Schriftsystem sein muss.Die Medien der SchriftWenn das Schreiben und Lesen von einer kleinen Expertengruppe betrieben wird, ist ein weniger optimiertes Schriftsystem möglich (möglicherweise wird Kompliziertheit sogar kultiviert, um den privilegierten Status der Schreiber zu erhalten), als wenn breite Bevölkerungsschichten lesen und schreiben.
Im Laufe der Schriftgeschichte wurden die unterschiedlichsten Materialien verwendet: Tontäfelchen (Keilschrift), Steintafeln/ Epigraphie/ Lapidarschriften, Knochen, Holz, Papier: Handschrift - Druckschrift, Computer etc.Die Vorläufer eines SchriftsystemsDiese Medien wirkten sich aus auf die Geschwindigkeit des Schreibens, die Haltbarkeit der Schreibprodukte, die Kosten des Schreibens und auf Quantität und Qualität der Schreibprodukte. Je geringer die "Widerständigkeit" der Schreibmedien ist, um so besser kann ein Schriftsystem optimiert werden.
Die meisten Schriftsysteme basieren auf Entlehnungen von Schriftzeichen aus einem Schriftsystem für eine andere Sprache. Damit entsteht häufig das Problem, dass Lösungen, die für die Gebersprache angemessen waren, für die Nehmersprache Nachteile erbringen. Im Laufe der Schriftgeschichte der Nehmersprache müssen diese Probleme ausgeglichen werden. Beispiele:Die typologischen Unterschiede zwischen den Geber- und den Nehmersprachen führten zum Teil zu erheblichen Anpassungsproblemen auf der Seite der Nehmersprachen. So mussten z.B. für das Deutsche Lösungen für die Markierung der Vokallänge (bzw. der Unterscheidung zwischen gespannten und ungespannten Vokalen) und der Umlaute bei der Wurzelflexion (Baum - Bäume), für im Lateinischen nicht vorhandene Laute (z.B. <ng>), ... die gefunden werden.
- Das arabische Schriftsystem wurde (aus religiösen und politischen Gründen) für das Persische und das Türkische (dort von Atatürk wieder abgeschafft) übernommen.
- Das chinesische Schriftsystem wurde (zum Teil) für das Japanische und Koreanische übernommen.
- das phönizische Schriftsystem für das Griechische (Einführung von Vokalzeichen)
- das lateinische Schriftsystem für das Deutsche,
- das russische Schriftsystem für das Mongolische.
- ...
Neben der Übernahme von ganzen Schriftzeicheninventaren kommt es auch häufig zu einem Kontakt zwischen Schriftsystemen, in der Regel als Folge des Sprachkontaktes. Dabei werden einzelne Schriftzeichen übernommen, die nicht in das System der Nehmersprache integriert werden. In diesem Fall spricht man von Fremdgraphien. Beispiele:
<Ph> und <y> in Physik,In seltenen Fällen werden Schriftsysteme erfunden (z.B. die Cree-Schrift). Ähnlich wie den "erfundenen" Sprachen (Esperanto, Volapük) ist diesen jedoch nur ein geringer Erfolg beschrieben (was man als Unterstützung der Autonomiehypothese ansehen kann).
<C> in Computer sowie in dem Wort die Aussprache [pj], die auf die englische Lesart von <-ute> zurückgeht,
<w> in Software, wenn es bilabial und nicht labiodental ausgesprochen wird