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Auslandsdeutsche

1. Begriff



Auslandsdeutsche können nach drei unterschiedlichen Kriterien definiert werden. Als Auslandsdeutsche werden erstens die deutschen Staatsbürger verstanden, die dauerhaft im Ausland leben. Zweitens zählt man zu ihnen die größere Zahl der Deutschsprachigen, die sich auch im Ausland der deutschen Sprache und Kultur verbunden fühlen. Drittens werden als Auslandsdeutsche auch Deutschstämmige bezeichnet, deren Vorfahren einmal aus D ausgewandert sind.

Bei der letztgenannten Definition von Auslandsdeutschen als Deutschstämmige handelt es sich um einen sogenannten objektiven Begriff, der sich auf die Abstammung bezieht. Er hat in der deutschen Geschichte eine fragwürdige Tradition, weil er fremde Staatsbürger auch ohne ihre Willensbekundung zum Volksverband zählt. Andererseits erscheint das Verständnis der Auslandsdeutschen als im Ausland lebende deutsche Staatsbürger zu legalistisch. Sinnvoll ist hingegen die sogenannte subjektive Definition der Auslandsdeutschen als jene im Ausland lebende Deutsche, die sich aufgrund ihrer geschichtlichen Erfahrungen sowie in ihrem aktuellen kulturellen und sozialen Verhalten noch dem Herkunftsland D verbunden fühlen.

2. Statistik



Wird der subjektive Begriff von Auslandsdeutschen als sich zum deutschen Volkstum bekennende Menschen zugrunde gelegt, so sind im Hinblick auf die Zahl der Auslandsdeutschen nur Schätzungen und Vermutungen möglich (vgl. vor allem die Angaben bei Fröschle 1987 und VDA 1989). Die erste Gruppe von Auslandsdeutschen sind die deutschsprachigen Bewohner von west-, süd- und nordeuropäischen Nachbarstaaten des geschlossenen deutschen Sprachraums. So leben heute in Dänemark etwas über 20.000, in Belgien 66.000 und in Italien 250.000 Deutschsprachige. Die zweite Gruppe lebt im ehemals kommunistisch regierten Ost- und Südosteuropa. Die größte Zahl Auslandsdeutscher haben die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion mit der Russischen Föderation an der Spitze mit über 2 Mio. zu verzeichnen. In Polen zählen sich ca. 800.000 Bürger zur deutschen Minderheit, in Ungarn leben ca. 220.000, in der Tschechischen und der Slowakischen Republik ca. 55.000 und im ehemaligen Jugoslawien unter 10.000 Menschen deutscher Nationalität. In Rumänien hat sich die Zahl der Deutschen auf ca. 15.000 reduziert. Eine dritte Gruppe von Auslandsdeutschen findet sich in Nordamerika. In den USA liegt die Zahl der Deutschsprachigen bei ca. 5 Mio., in Kanada bei 450.000. Ausgeprägtere deutsche Volkstumsgruppen finden sich in Südamerika. An der Spitze steht Brasilien mit 3 Mio. Deutschsprachigen, gefolgt von Argentinien mit knapp 500.000 Deutschsprachigen. Chile hat um 40.000 Deutschsprachige, in Paraguay zählen sich 30.000 bis 40.000 Menschen zum Deutschtum, je 10.000 Deutschsprachige wohnen in Mexiko und Venezuela. Eine fünfte Gruppe von Auslandsdeutschen lebt im südlichen Afrika. In Namibia, der früheren deutschen Kolonie Südwestafrika, sind rund 30.000 Deutsche ansässig. Für Südafrika werden 75.000 deutsche Staatsbürger mit Bundespässen gemeldet, in Australien zählen sich ca. 110.000 Menschen noch zur Gruppe der Deutschsprachigen. Insgesamt leben im Ausland zwischen 10 Mio. (Fröschle 1987, S. 542) und 15 Mio. (VDA 1989, S. 5) Deutschsprechende und sich zum deutschen Volkstum Bekennende.

3. Geschichte



Am Anfang der Geschichte der Auswanderung von Deutschen (ausführlich Bade 1992) stand die deutsche Ostsiedlungsbewegung, die schon im Mittelalter einsetzte. Solche Formen der wirtschaftlichen Kolonisation durch deutsche Migranten kamen intensiviert in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. in Osteuropa sowie im 19. Jh. in Nord- und Südamerika zum Tragen. Damit einher gingen oft religiöse Motive der Auswanderung, z.B. bei der Emigration von Sekten nach Pennsylvania im 17. Jh. und nach Rußland im 18. Jahrhundert. Im 19. Jh. kamen politische Gründe hinzu, als vor und nach der Märzrevolution viele Radikaldemokraten und Liberale aus D in die USA emigrierten. Die deutschen Diktaturen im 20. Jh. bewirkten dann erneute, vor allem politisch motivierte Auswanderungswellen, nach 1933 als Flucht vor der nationalsozialistischen Herrschaft, in den 50er Jahren als Emigration aufgrund des kommunistischen Regimes in der DDR nicht nur in die BRD, sondern auch in großer Zahl nach Nordamerika und Australien.

Doch auch Deutsche, die an ihrem Heimatort ansässig blieben, konnten unfreiwillig durch politischen Entwicklungen und kriegerische Konflikte zu Auslandsdeutschen werden. Die Formierung von Nationalstaaten im späten 18. und 19. Jh. machte Deutsche wie andere Volksgruppen plötzlich zu Minderheitengruppen in den neuen Staatsverbänden. Im 20. Jh., zuletzt durch den Zweiten Weltkrieg, entstanden durch die gewaltsamen Grenzverschiebungen zwischen den Staaten zahlreiche neue Minoritäten.

4. Aktuelle Lage



Die größten Erfolge erreichen Auslandsdeutsche im Hinblick auf berufliche und wirtschaftliche Positionen. In Nord- und Südamerika gehören sie weitgehend zu den oberen Mittelschichten. Beispielhaft wirkten die deutschen Bauern und Handwerker ebenfalls in Osteuropa, bis die politischen Unterdrückungsmaßnahmen auch sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten führten.

Große Unterschiede sind auf dem Gebiet der politischen und gesellschaftlichen Integration der Auslandsdeutschen zu verzeichnen. Überall bemühen sich die Deutschen, zumal nach den Erfahrungen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges, keinen Zweifel an ihrer staatsbürgerlichen Loyalität aufkommen zu lassen. Es gehört aber zu den in D oft als anstößig empfundenen Eigentümlichkeiten der Auslandsdeutschen, dass sie meist jene traditionellen Einstellungen und Ressentiments bewahrt haben, die zu Zeiten ihrer Auswanderung in D vorherrschend waren. Am weitgehendsten und überwiegend freiwillig haben sich die Deutschstämmigen in Nordamerika in ihrem Aufnahmeland assimiliert. Eine größere Distanz und damit eigene Identität haben sich die auslandsdeutschen Gruppen in Südamerika bewahrt. In vielen kommunistisch regierten Staaten Osteuropas wurden die Auslandsdeutschen hingegen einer harten Assimilationspolitik unterworfen.

Zentral für die Bewahrung des Deutschtums im Ausland ist seine kulturelle Identität, wobei an erster Stelle die Pflege und Weitergabe der deutschen Sprache steht. Es gibt über 100 deutschsprachige Schulen im Ausland, die von örtlichen Schulvereinen getragen und vom Auswärtigen Amt unterstützt werden. Daneben bestehen zahlreiche Samstagsschulen zur Vermittlung der deutschen Sprache an die nachfolgenden Generationen.

Auslandsdeutsche Zeitungen und Rundfunkveranstaltungen, Kirchen, Theater- und Musikaufführungen sowie ein breites Feld von sonstigen geselligen Aktivitäten haben eine erhebliche Bedeutung für den kulturellen Zusammenhalt der Deutschen im Ausland. Eine größere Rolle spielen auslandsdeutsche Vereine, wenn sie, wie in der ehemaligen Sowjetunion die Vereinigung "Wiedergeburt", als politische Kampforganisationen zur Wahrung der Minderheitenrechte agieren.

In D bemüht sich vor allem der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) um die finanzielle und ideelle Förderung der Auslandsdeutschen. Er ist 1881 als "Allgemeiner Deutscher Schulverein" gegründet worden und hat in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jhs. eine wichtige, wenn auch häufig völkisch überzogene Rolle gespielt. Heute versteht sich der VDA gemäß seiner Satzung "als Mittler zwischen den Deutschen in der Welt und will die Bedeutung der Auslandsdeutschen für ihre neuen Heimatländer, für die Völkerverständigung und als Träger der deutschen Kultur verdeutlichen". Doch im Vergleich zu früher ist der VDA von seiner Mitgliederzahl her heute eher unbedeutend: hatte er 1932 noch 2 Mio. Mitglieder, so sind es gegenwärtig nur noch 18.000. Allerdings ist der VDA in dem letzten Jahrzehnt zum Hauptträger der Hilfe für die Auslandsdeutschen in der ehemaligen Sowjetunion geworden.

5. Perspektiven



Die Existenz von Auslandsdeutschen ist zwar noch nicht für die nächste Zukunft pauschal in Frage gestellt, doch auf längere Sicht stellen sich ihnen sehr zwiespältige Perspektiven.

Das Verhältnis zwischen Auslandsdeutschen und Inlandsdeutschen ist von wechselseitigen Mißverständnissen geprägt. Die Deutschen in der BRD haben nach 1945 überwiegend das Thema der Deutschen im Ausland tabuisiert und diese als Relikte einer in D überwundenen restaurativen und völkischen Zeit angesehen. Umgekehrt verstanden Auslandsdeutsche vielfach die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in der BRD als Gefährdungen des traditionellen Deutschtums.

Die offizielle auswärtige Kulturpolitik der BRD gegenüber den Deutschen im Ausland war eher von Distanz geprägt (vgl. Witte 1990). Zwar unterstützt man über Goethe-Institute, Gastdozenten, Auslandsschulen, Rundfunkprogramme und dergl. die Verbreitung der deutschen Kultur im Ausland, wandte sich damit aber jahrelang mehr an die nichtdeutschen Mehrheiten als an deutsche Minoritäten im Ausland.

Diese Ignoranz der bundesdeutschen Öffentlichkeit und Distanz der offiziellen Politik gegenüber den Auslandsdeutschen ist im letzten Jahrzehnt im Gefolge der dramatisch anschwellenden Rückwanderung von Auslandsdeutschen nach Deutschland durchbrochen worden. Während von 1949 bis 1989 insgesamt 1,6 Mio. Auslandsdeutsche vor allem aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa in die BRD aussiedelten, waren es 1990 und 1991 jährlich 400.000. Seit 1993 ist diese Zahl auf jährlich 220 000 kontingentiert worden. Die Bundesregierungen unterstützen zwar ganz entschieden die "Hilfe zum Dableiben", doch angesichts der wirtschaftlichen und politischen Instabilitäten Osteuropas bleibt das eine vage Hoffnung.

Die Rücksiedler aus Osteuropa haben die deutsche Wirtschaft vor erhebliche Integrationsprobleme und die deutsche Gesellschaft vor große Herausforderungen an ihre Toleranzfähigkeit gestellt. Auf der anderen Seite zeichnet sich in der westlichen Hemisphäre eine so weitgehende Assimilation der Bürger deutscher Herkunft in ihren Gesellschaften ab, daß vermutlich in einigen Jahrzehnten keine eindeutige Gruppe der Auslandsdeutschen mehr identifiziert werden kann. Auf längere Sicht scheint sich die vor allem aus dem 18. und 19. Jh. hergebrachte Existenz eines besonderen Deutschtums im Ausland selbst aufzuheben.

Literatur



Bade, Klaus J. (Hrsg.) 1992: Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München.

Fröschle, Hartmut 1987: Die Deutschen im Ausland. Lage, Aufgabe und Selbstverständnis der Auslandsdeutschen, in: Willms, Bernard (Hrsg.): Handbuch zur Deutschen Nation, Bd. 2. Tübingen.

VDA (Hrsg.) 1989: Die Deutschen in aller Welt. Bonn.

VDA (Hrsg.) 1968ff.: Globus. Offizielles Mitteilungsorgan des VDA und Vereinszeitung. St. Augustin.

Witte, Berthold C. 1990: Auswärtige Kulturpolitik und die Deutschen im Ausland, in: Außenpolitik, H. 2.


Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 5., aktual. Aufl. Opladen: Leske+Budrich 2003. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2003.


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