“Die Sicherheit blinder und sehbehinderter Fußgänger im Straßenverkehr gewährleisten”

Positionspapier der EBU über geräuscharme Fahrzeuge

Europäische Blindenunion

Die Europäische Blindenunion (EBU) ist eine europäische Nichtregierungsorganisation, die die Interessen blinder und sehbehinderter europäischer Bürgerinnen und Bürger vertritt. Die EBU setzt sich nachdrücklich für die volle Inklusion ein und arbeitet mit einer Reihe von Anspruchsgruppen („stakeholder“) einschließlich der ANEC zusammen, um die Grundsätze der Gestaltung für alle umzusetzen.

Das vorliegende Papier informiert zum Thema geräuscharme Fahrzeuge und erläutert die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Verkehrsteilnehmer, die die Europäische Union bei der Erarbeitung von Gesetzen zur Gestaltung akustischer Warnsysteme für geräuscharme Autos berücksichtigen sollte.

1. Das Problem
In den vergangenen Jahren ist eine wachsende Beliebtheit von “grüneren” Autos mit niedrigerem Energieverbrauch bei den Verbrauchern zu beobachten, da diese Fahrzeuge eine positive Antwort auf eine Vielzahl von Umwelt- und Gesundheitsproblemen geben. Zu den Vorteilen gehören eine gegen Null gehende Luftverschmutzung, die Verringerung der Nachfrage nach fossilen Energieträgern und ein geräuscharmer Fahrbetrieb bei niedrigen Geschwindigkeiten. Blinde und sehbehinderte Menschen begrüßen diese Vorteile genauso wie alle anderen europäischen Bürgerinnen und Bürger. Gleichwohl bereiten die Ankunft “geräuscharmer Technologien” und ihre Auswirkungen auf den Straßenverkehr blinden und sehbehinderten Menschen große Sorgen. Elektrisch betriebene Fahrzeuge können aufgrund ihrer nahezu geräuschlosen Fortbewegung nicht rechtzeitig wahrgenommen und daher ihre Entfernung und Richtung nicht richtig eingeschätzt werden. Insoweit stellen sie für blinde Menschen und andere sensible Verkehrsteilnehmer eine erhebliche Gefahr dar und entsprechen nicht den Grundsätzen einer Gestaltung für alle.

2. Wer ist gefährdet?
Forschungen in den USA zeigen, dass von geräuscharmen Autos ein erhebliches Gefährdungspotenzial ausgeht. Gefährdet sind grundsätzlich alle Fußgänger. Blinde und Sehbehinderte gehören jedoch zu den Gruppen von Verkehrsteilnehmern, die am stärksten bedroht sind, weil sie geräuscharme Autos nicht sehen und hören können. Die Gefahr einer Kollision mit einem geräuscharmen Fahrzeug verstärkt sich für die genannten Gruppen noch, solange wir von einem Verkehrsmix in alltäglichen Verkehrssituationen ausgehen müssen, d.h. von einem Nebeneinander von Elektro/Hybridfahrzeugen und herkömmlichen Autos mit Verbrennungsmotor.
3. Gesetzesinitiativen
Gesetzesmaßnahmen zur Behandlung des Problems der geräuscharmen Fahrzeuge finden derzeit auf zwei verschiedenen Ebenen statt.
Zunächst einmal wurde die Gefährdung, die von geräuscharmen Fahrzeugen für blinde Menschen und andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, von der Arbeitsgruppe “Lärm” (GBR) erörtert, die ein Unterausschuss des Weltforums für die Harmonisierung von Kraftfahrzeugregulierungen ist. Eine spezielle Arbeitsgruppe wurde von dem GRB eingerichtet und mit dem Mandat ausgestattet, Empfehlungen für eine Globale Technische Regulierung (GTR) für einen akustischen Signalgeber für geräuscharme Fahrzeuge zu erarbeiten, der die Fußgänger vor dem Herannahen bzw. der Anwesenheit eines geräuscharmen Autos.
Im Februar 2012 legte die Arbeitsgruppe der GRB-Versammlung ihren Abschlussbericht vor. Die Fragen, die die Empfehlungen ansprechen, umfassen u.a. die technischen Spezifikationen für ein “akustisches Warnsystem“ (AVAS). Die Arbeitsgruppe der UNO hat sich im Juli 2012 neu konstituiert und bei ihrem ersten Treffen Detailfragen der GTR erörtert. Eine globale technische UN-Regulierung würde die Vertragspartner, die die Regulierung unterschreiben, gesetzlich binden.
Zum anderen hat die Europäische Kommission im Dezember 2011 einen Vorschlag für eine neue Verordnung über den Geräuschpegel von Kraftfahrzeugen vorgelegt. Zu den wichtigsten Zielen der Verordnung zählt ein Vorschlag für Anforderungen an ein akustisches Warnsystem für Elektroautos (AVAS), die so leise sind, dass blinde Menschen sie nicht erkennen können. Der Verordnungsentwurf wird im ENVI-Ausschuss des Europäischen Parlaments behandelt, der seinen Bericht vorlegt hat. Der Ausschuss wird voraussichtlich am 19. September 2012 über den Bericht abstimmen, bevor er ins Parlament kommt.

4. Geräuscharme Fahrzeuge
Die von der UN-Arbeitsgruppe erarbeiteten Empfehlungen für eine Globale Technische Regulierung bezüglich des AVAS-Systems für den Einbau in geräuscharmen Kraftfahrzeugen enthalten u.a. eine begriffliche Bestimmung von geräuscharmen Autos. Diese Definition umfasst verschiedene Typen von Elektroautos und Hybriden, aber auch Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor, da die letzteren immer weniger Geräusche erzeugen. Im Sinne von Risikoszenarien wäre zu überlegen, ob man dieser Liste E-Bikes, E-Motorräder, E-Mofas und Segways hinzufügen sollte. Vor allem die letzteren nehmen insbesondere im urbanen Raum zu. Ein erhebliches Gefahrenpotenzial kommt ihnen schon insofern zu, als sie in Parks und Fußgängerzonen fahren dürfen.

5. Gefahrensituationen
Geräuscharme Autos stellen für Fußgänger ein höheres Risiko als herkömmliche Kraftfahrzeuge dar, wenn sie sich mit einer Geschwindigkeit im derzeitigen Straßenverkehrsmix von 0 km/h bis 40 km/h bewegen. Bei noch höheren Geschwindigkeiten wird das von den Reifen in Kombination mit dem Straßenbelag erzeugte Geräusch zur dominanten Geräuschquelle, die in der Regel das Antriebsgeräusch übertönt. Die Festsetzung einer Obergrenze von 40 km/h ist notwendig, um zu gewährleisten, dass auch innerhalb von verkehrsberuhigten Wohngebieten das Fahrzeug hörbar ist, wenn die in diesen Bereichen zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h einmal überschritten wird.

Zu berücksichtigen sind vor allem die folgenden Risikoszenarien:

5.1 Ungesicherte Straßenquerung

Das Queren von Straßen in kleineren Orten, im ländlichen Bereich und in Wohnvierteln, aber auch an Verkehrskreuzungen ist häufig nicht durch Zebrastreifen oder Blindenverkehrsampeln gesichert. Blinde Fußgänger müssen sich in hohem Maße auf ihr Gehör verlassen und nutzen die Geräusche des vorbeifahrenden Verkehrs als akustischen Hinweis für die Entscheidung, wann ein sicheres Queren möglich ist. Ein geräuscharmes Fahrzeug ist akustisch jedoch nicht wahrnehmbar und stellt insoweit ein hohes Unfallrisiko dar.

5.2 Gesicherte Verkehrskreuzungen mit Lichtsignalanlagen ohne Zusatzeinrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen

In einer entsprechenden Umgebung beginnt der blinde Fußgänger mit dem Queren, wenn die Geräusche des Parallelverkehrs anschwellen. Fehlen die Motorgeräusche, ist eine sichere Querung der Kreuzung nicht möglich, weil das Überqueren der Straße in einer geraden Linie schwierig ist und der Blinde möglicherweise in den Parallelverkehr hineinläuft. Geräuscharme Fahrzeuge, die vorübergehend bei Rot halten, stellen ebenfalls eine Gefahr dar, weil der blinde Fußgänger das Vorhandensein eines solchen Fahrzeugs wahrnehmen können muss, um seine Entscheidung zu queren treffen zu können. Dies gilt auch für Fahrzeuge mit Start-Stop-Automatik, die so leise wie Elektrofahrzeuge oder Hybride sind.

5.3 Verkehrskreuzungen mit Lichtsignalanlagen mit Zusatzeinrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen

Vor allem im städtischen Bereich ist der Verkehr an vielen Kreuzungen durch Signalanlagen mit akustischen oder taktilen Zusatzeinrichtungen geregelt, um blinden und sehbehinderten Menschen ein sicheres Überqueren der Straße zu ermöglichen. Ist Rechtsabbiegen zulässig, d.h. darf der Verkehr über die Querungsstelle des freigegebenen Fußgängerbereichs fahren, ist die Gefahr einer Kollision erheblich. Auch wenn der Fußgänger Vorfahrt hat, kann er sich nicht sicher sein, ob die Fahrzeuge sich an die Regel halten.

5.4 Einmündende Seitenstraßen, Parkausfahrten, Tor und Garagenausfahrten

In diesen und verwandten Umgebungen kann der Fußgänger ein geräuscharmes Fahrzeug, das sich auf einer Straße nähert oder rückwärts aus einer Einfahrt setzt, nicht hören. Bei plötzlicher Anfahrt kann der Fußgänger erschrecken.

5.5 Kleiner und großer Kreisverkehr

In vielen Regionen Europas ersetzt der Kreisverkehr zunehmend die traditionelle Straßenkreuzung. Hochgradig sehbehinderte und blinde Fußgänger orientieren sich vor allem in orthogonalen Systemen. Deshalb sind Kreisverkehre für diesen Personenkreis generell schwer wahrzunehmen. Die Geräusche der herkömmlichen Verbrennungsmotoren ermöglichen unter Umständen noch eine ausreichende Orientierung. Fallen diese Geräusche weg, steigt das Unfallrisiko erheblich an.

6. Politische Forderungen
Um ein hohes Maß an Verkehrssicherheit für blinde und sehbehinderte Menschen zu gewährleisten und ihnen eine selbständige Mobilität zu ermöglichen, fordert die Europäische Blindenunion:
1. Alle Fahrzeuge, Elektroautos, Hybridfahrzeuge und Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor, soweit sie als praktisch geräuscharm gelten, sind mit einem speziellen akustischen Warnsystem (AVAS) auszustatten, mit der blinde und sehbehinderte Fußgänger und andere gefährdete Verkehrsteilnehmer gewarnt werden.

2. Die Ausstattung der Fahrzeuge mit dem AVAS sollte vorgeschrieben und nicht der Entscheidung des Herstellers überlassen werden.

3. Das von dem AVAS emittierte Geräusch sollte automatisch bis zu einer Geschwindigkeit von 40 km/h erzeugt werden. Zusätzlich sollte es ein Standgeräusch geben.
4. Die Ausstattung des Fahrzeugs mit einem Unterbrechungsschalter, der das Ausschalten des Geräusches durch den Fahrer ermöglicht, wird untersagt. Ausgenommen von diesem Verbot ist jedoch der Hersteller, der das Geräusch ausschalten, ändern, ersetzen oder modifizieren darf, um einen vorhandenen technischen Defekt oder die Nichtvereinbarkeit mit dem Kfz- Sicherheitsstandard zu beheben, sowie anerkannte Kfz-Meisterfachbetriebe für den Zweck der Wartung.

5. Die vom AVAS erzeugten Geräusche müssen die verschiedenen Betriebsarten des Fahrzeugs deutlich und leicht erkennbar anzeigen (Beschleunigung, Verlangsamung, Richtung, Vorwärts- und Rückwärtsfahren, Standgeräusch). Hierbei gilt insbesondere:

5.1 Das Geräusch beim Rückwärtsfahren sollte anders als beim Vorwärtsfahren sein.

5.2 Das vom AVAS erzeugte Geräusch muss auch zu hören sein, bevor das Fahrzeug anfährt, damit der blinde Menschen orten kann, dass sich ein Fahrzeug in der Nähe befindet.

6. Das vom AVAS erzeugte Geräusch muss unter allen Umweltbedingungen und Straßenverkehrsverhältnissen als Kraftfahrzeug mühelos und deutlich wahrnehmbar und erkennbar sein, um ein möglichst hohes Schutzniveau für blinde und sehbehinderte Verkehrsteilnehmer vor den von geräuscharmen Fahrzeugen ausgehenden Gefahren zu bieten.

7. Das AVAS-System muss automatisch in sich funktionieren und nicht erfordern, dass der Fußgänger ein separates Gerät mit sich führt, das er selbständig aktivieren muss, sobald sich ein geräuscharmes Fahrzeug nähert.