wie heißt du?/
ich bin ein Blinder am Boden
im Vorhof meines Verlangens/
und bettle um Zeit/

ich lache vor Leid/
weine vor Freude/
welches Wort spricht dich aus?/
welcher Name wird dich nennen?/

 

 


KOM/POSITIONEN & DARUNTER - COM/POSICIONES & DIBAXU (DEBAJO)

Gedichte, dreisprachig: Spanisch - Sephardisch (tw.) - Deutsch

ISBN 978-3-927648-48-7

Broschur mit Klappenumschlag
201 Seiten
14 × 21 cm
17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 25,00 sFr

Zwei Einzeltitel aus den Jahren 1984-1985 und 1983-1985 in einem Band. Umschlaggestaltung von Juana Burghardt. Aus dem argentinischen Spanisch und Sephardischen von Juana & Tobias Burghardt. Mit einem Nachwort von Tobias Burghardt

Edition Delta, Stuttgart 2013

Juan Gelman

Dem argentinischen Dichter und Menschenrechtskämpfer Juan Gelman wurde der Literaturnobelpreis 2010 doch nicht verliehen. Nachdem ihm der renommierte Cervantes-Preis, der »Spanische Nobelpreis«, zwei Jahre zuvor von König Juan Carlos überreicht wurde, war er sowohl für die spanischsprachige Literaturszene als auch für die Schwedische Akademie auf der Kandidatenliste allmählich immer höher gestiegen. Dennoch wäre es eine gelungene Überraschung geworden, vor allem für diesen Dichter aus Buenos Aires, der am Vorabend der Bekanntgabe über solch eitle Spekulationen nur trocken bemerkte: »Das kann ich nicht glauben, ich finde es richtig amüsant. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen.«

Wir tranken Mate und rauchten ukrainische Zigaretten. Was Borges einst verwehrt wurde, ist Juan Gelman auch nicht vergönnt worden. Der mögliche Literaturnobelpreisträger Juan Gelman gehörte zu jenem Zeitpunkt zur Delegation des Ehrengastlandes Argentinien auf der Frankfurter Buchmesse.

»Was erfreut die dunkle Nacht? Ein/Wort. Was/verseelt die dunkle/Nacht? Ein Wort.« Mit solchen Versen schrieb sich der Dichter in die Herzen und Köpfe seiner LeserInnen weltweit, die sich auf keine einzelne Generation beschränken lassen.

Seine poetischen Werke wurden in zahlreiche Sprachen aller Kontinente übersetzt. Juan Gelman ist stets ein poetischer Avantgardist, ein Mahner in Menschenrechtsfragen und sowohl ethisch als auch ästhetisch ein Vorbild, besonders für jüngere lateinamerikanische Dichter.

Das Werk »COM/POSICIONES« schrieb Juan Gelman 1984-1985 in Paris, parallel zum sephardischen Zyklus »DIBAXU (DEBAJO)«, den er dort zwischen 1983 und 1985 komponierte. Zwei tief berührende Werke, die nahegehen und erhellen. Beide vorliegenden Lyrikwerke sind Weiterführungen seiner Bücher »CITAS« (1978) und »COMENTARIOS« (1979), die er in seinem frühen europäischen Exil schrieb, wobei er sich mit dem Altspanischen des 16. Jahrhunderts auseinandersetzte. Seine Obsession war zu jener Zeit die Suche nach den Wurzeln der Sprache – sowohl in den einsamsten Exilerfahrungen als auch in den linguistischen Tiefenschichten des jüdischen Altspanisch. Die »COM/POSICIONES«, die er dem spanischen Lyriker José Ángel Valente (1929-2000) widmete, sind ein inneres Gespräch mit etlichen Dichtern, zum Teil erfundenen, und ihren Texten aus älteren Epochen, wobei auch manches anonym ist. Gelman hat sie – für sich umgestaltend – frei, neu und kreativ „kom/poniert“, indem er 57 Gedichte – sprachlich in die Gegenwart einbettend – hin-überträgt. Dabei sind erneut gewisse gelmanianische Sprachüberschreitungen notwendig, um die Farben und Temperaturen seiner Seelenverfassung in entsprechende Worte zu fassen.

Der weit gespannte Bogen streift etwa die frühe jüdische Mystik (Hekhalot-Hymnen) oder die Schriftrollen vom Toten Meer, die Propheten Amos und Ezechiel, den Psalmisten David und den Leidgepüften Hiob sowie Abu Nuwas, den ersten urbanen Dichter der arabischen Literatur, einen provenzalischen Anonymus und den indischen Dichter Sadhak Ramprasad Sen, der im 18. Jahrhundert an den Ufern des Ganges auf Bangla schrieb. Einigen Poeten aus al-Andalus – darunter Salomon ibn Gabirol, der seine Gedichte auf Hebräisch und seine philosophischen Texte auf Arabisch schrieb, Jehuda Halevi, der jüdische Exil-Dichter und Klassiker der hebräischen Literatur, sowie Samuel Hanagid, der das Goldene Zeitalter der hebräischen Lyrik in Spanien mitbegründete – gelten die meisten komponierten Übersetzungen Juan Gelmans, insbesondere jedoch Elizier ben Jonon, der, 1130 in Mainz gebürtig, eine innerste Stimme ist, mit dessen apokrypher Figur der Übersetzer-Autor seinen ermordeten Sohn Marcelo Ariel sprechen hört, beispielshalber im Gedicht »die Hand« (S. 55):

»...sei nicht fern/

bewahre meine Unschuld/mein reichlich Gewässer/

die Beschämung meiner Knochen/«

Mit Jehuda Halevi antwortet der Vater Juan Gelman im eindringlichen Gedicht »Gebet« (S. 91) und auch im folgenden Vers aus dem Gedicht »der Blinde« (S. 95):

»mein Vergessen vergisst dich nicht/«

»DIBAXU (DEBAJO)« versammelt 29 Gedichte, die Gelman wiederum im sephardischen Altspanisch verfasst hat – dank der sephardischen Lyrik von Clarisse Nikoïdsky, durch die er einen persönlichen Zugang zu jenem Zweig der altspanischen Poesie fand – und mit aktuellen spanischen Versionen begleitet. Ein wahres Meisterwerk heutiger sephardischer Liebeslyrik.

Andere erfundene und apokryphe Dichter Juan Gelmans haben wir in seiner Werkauswahl »Huellas en el agua – Spuren im Wasser« (teamart Verlag, Zürich 2003) übersetzt. In den sechziger Jahren dichtete er als John Wendell, Yamanokuchi Ando und Sidney West, denen u.a. José Galván und Julio Greco in den frühen achtziger Jahren folgten, die allesamt zur polyphonen Galerie seiner poetischen Stimmlagen gehören. In diesem migratorischen Bewußtsein steht seine bewegte und bewegende Poesie: das apokryphe Buch Gelman.

Wer sich indes mit jenen hebräischen und arabischen Dichtern der iberisch-maurischen Kulturharmonie und ihren oft erstmals ins Deutsche übersetzten Texturen weiter auseinandersetzen möchte, dem sei dazu die Anthologie »Das Wunder von al-Andalus« von Georg Bossong (C.H.Beck, München 2005) mit einem lesenswerten Nachwort von SAID empfohlen. Eine hier weitgehend unbekannte poetische Welt.

Tobias Burghardt (Das Leben ist das Leben)

 

WAS WEISS MAN?

Über das Gedicht, nichts. Es kommt, zittert
und streift ein erloschenes Streichholz.
Sieht man ihm etwas an? Nichts. Es streckt eine
Hand, um die kleinen
Zeitwellen festzuhalten, die durch die
Stimme eines Steglitzes ziehen. Was
fing es? Nichts. Der
Vogel flog zum Nichterklungenen
in einem Raum, der sich ohne
Mahnungen und Warte-Mal dreht.
Viele Namen stehen im Regen.
Was weiß das Gedicht? Nichts.

 


Welteln - Mundar

Gedichte, zweisprachig: Spanisch - Deutsch 

ISBN 978-3-927648-31-9

Einband, broschiert
259 Seiten, 1 s/w Autorenfoto
15,6 × 15,6 cm
17,50 Eur[D] / 18,00 Eur[A] / 25,00 sFr

Gedichte/Poemas 2004-2007. Mit einer Zeichnung von Juana Burghardt.  Aus dem argentinischen Spanisch von Juana und Tobias Burghardt. Mit einem Dichterportrait von Enrique Hernández-D'Jesús. Mit einem Nachwort von Tobias Burghardt

Edition Delta, Stuttgart 2010

Juan Gelman

Als JUAN GELMAN 2007 mit dem renommierten Cervantes-Preis, dem wichtigsten Literaturpreis in der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet wurde, hatte er ein unveröffentlichtes Buch in der Schublade, in dem er seine Gedichte aus den jüngsten vier Jahren versammelte und indem er ein Wort als Titel erfand: MUNDAR. Einerseits handelt es sich um eine erstmalige Verbalisierung des Substantivs «mundo» (Welt), das neue Verb «mundar» (welteln), ein noch nie dagewesenes Wort, andererseits um eine Komposition aus den beiden Wörtern «mundo» (Welt) und «dar» (geben), das sich beim «d» verwandelt, also ineinander verschmilzt, dann «Welt geben» bedeuten könnte. Dem Dichter reicht diese Welt nicht, wie sie ist, obwohl ihm die Welt längst reicht, wie sie eben doch nicht ist, und seine weite Welterfahrung gibt er in den Gedichten weiter, überschreitet gewöhnlich bekannte grammatische Grenzen, substantiviert auch umgekehrt Verben oder tastet sich spielerisch im Sprachfluß voran. In seiner poetischen Welt bedarf der Dichter selbst keiner klaren Ideen seines Handeln, denn er glaubt, daß dies schlicht unmöglich ist. Er gehört zu jenen, die ihr schöpferisches Tun nicht erklären können. Für ihn ist die Poesie ein Instrument der Erkenntnis, um die Gründe und Abgründe des Lebens und der Geschichte allgemein und persönlich zu erfahren und zu erkunden. Demnach weiß selbst der Autor nicht mit Gewißheit, was die Poesie eigentlich ist. Vielleicht kann sie der Schatten des Schattens der Erinnerung sein oder aber der Schatten eines blattlosen Baumes.

Einige Beispiele daraus oder lieber alle 121 Gedichte auch hier frei und aus sich selbst atmen lassen? Man darf bei diesen Gedichten aufpassen und über Merkwürdigkeiten stolpern und ins Stocken geraten, um diese Poetik zu genießen, in der etwas benannt werden möchte, was noch keinen Namen hat, in der etwas neu gesagt wird und ein Schweigen mitschwingt, in der das Schweigen benannt wird und ein Nichtsein zur Sprache kommt, wiewohl nichts und niemand spricht, um ein Miteinander von Tragödie und Trost zu ermöglichen. Für Juan Gelman gilt die Poesie bisweilen natürlich als der große Trost und auch Zuversicht auf eine Zukunft. Ja, er bezeichnet sich selbst als «hoffnungslos Hoffenden».

Juan Gelman wurde 1930 in Villa Crespo, Buenos Aires, geboren, wo er aufwuchs, das Colegio Nacional besuchte und zu jener Zeit bereits erste Gedichte schrieb, bevor er in den fünfziger Jahren erstmals seine Verse veröffentlichte und schließlich der Debütband erschien. Nach seinem abgebrochenen Chemiestudium war er als Lastwagenfahrer tätig und transportierte Möbel, bevor das Interesse vor allem journalistischen Tätigkeiten galt und er Korrespondent der chinesischen Presseagentur Xinhua wurde. Sein Herz schlägt seit der jüngsten Jugend weit links, er gehörte bei den argentinischen Jungkommunisten zum «demokratischen» Block, stritt mit dem «peronistischen» Block über die Revolution und versöhnte sich wieder beim gemeinsamen Billardabend in der Bar, beim Fußballspielen oder bei Milonga und Tango. Das politische Engagement intensivierte sich in den 60er und 70er Jahren, er wurde Revolutionär und gehörte zu den Montoneros. Als er aus jener Organisation austrat, stand er auf einmal sowohl auf der Todesliste der Triple A als auch der Montoneros selbst. Juan Gelman befand sich im Untergrund, wie etliche argentinische Intellektuelle, Dichter und Künstler. Im Rahmen der Operation Cóndor verschleppten die Schergen der Militärdiktatur in Buenos Aires seinen Sohn Marcelo Ariel Gelman, dessen Leichnam 1989 auf dem Flußgrund des Río Luján in einem Betontank aufgefunden und exhumiert wurde, und seine bis heute in Uruguay verschollene Schwiegertochter María Claudia Irureta Goyena de Gelman, die noch im Militärgefängnis von Montevideo eine Tochter zur Welt brachte: Macarena wurde erst im Frühjahr 2000 bei einer fremden Familie in Montevideo aufgespürt, die das Baby kurz nach ihrer Geburt an sich genommen hatte. Das verschwundene Enkelkind war nach mehr als zwanzig Jahren endlich aufgetaucht und hat inzwischen den Namen ihrer leiblichen Eltern angenommen.

Der verfolgte Dichter war Mitte der siebziger Jahren ins Exil nach Europa geflohen, kämpfte aus der Entfernung in Rom, Paris oder Barcelona weiter gegen die Diktaturen Lateinamerikas, suchte jahrzehntelange verzweifelt nach den Verschwundenen und lebt seit den neunziger Jahren in Mexiko-Stadt. Juan Gelman bleibt ein poetischer Avantgardist, ein Mahner in Menschenrechtsfragen und sowohl ethisch als auch ästhetisch ein Vorbild für mehrere lateinamerikanische Dichtergenerationen, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen aller Kontinente übersetzt, die spanischsprachige Literaturszene hat erneut einen wahrlichen Nobelpreiskandidaten, der mit Borges zumindest Kleinigkeiten gemeinsam haben wird, wie er selbst einmal bemerkte. Und dem nie der ureigene Humor fehlt, um Welt zu geben und zu welteln. Das erfundene Wort gefällt ihm sehr.

Tobias Burghardt (Splitter)


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