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ASW NR. 010 VOM 13.10.1997 SEITE 052

PraxisStrategie + Investment

Vorstoß in einen oligopolistischen Markt Ein David gegen drei Goliaths

Der Fotofilmhersteller Orwo forciert die Marktausweitung außerhalb der neuen Bundesländer.
Die strategischen Knackpunkte für den Markenartikler aus Wolfen (Sachsen-Anhalt): Positionierung und Preispolitik in einem nahezu gesättigten, von drei Großunternehmen beherrschten Markt.

In den Ländern des früheren Ostblocks schafften es nur wenige Produkte, als Markenartikel zur begehrten »Bückware« zu werden: von guter Qualität, aber nicht in ausreichender Menge vorhanden und deshalb unterm Ladentisch gehandelt.
Die Filme des Unternehmens Orwo, hergeleitet aus dem Begriff »original Wolfen«, gehörten dazu.
Orwo belieferte neben dem Heimatmarkt DDR auch alle sozialistischen Bruderstaaten; dies war nicht das Ergebnis eigener Marketing- und Vertriebsbemühungen, sondern der aufgezwungenen Arbeitsteilung des Comecon.
Allerdings hatte Orwo diese herausgehobene wirtschaftliche Stellung nicht zufällig inne: Das Unternehmen ist der eigentliche Stammsitz des Agfa-Konzerns, eines der drei größten Filmeanbieter auf dem deutschen Markt.
Das Traditionsunternehmen lieferte z.B. das Material für den weltweit ersten Kinofarbfilm: »Münchhausen« mit dem Hauptdarsteller Hans Albers.

Vom Aufbau in den zwanziger Jahren bis in die Nachkriegszeit blieb Agfa in Wolfen.
Als klar war, daß die Stadt zur russisch besetzten Zone gehören würde, verlegte Agfa seinen Hauptsitz nach Westdeutschland.
Bis 1964, als sich der kalte Krieg immer mehr zuspitzte, gab es Agfa West und Agfa Ost; beide Unternehmen produzierten unter dem Markenzeichen Agfa.
Es gab eine rege Arbeitsteilung, Produkte wurden ausgetauscht. 1964 trennten sich die beiden Unternehmen endgültig und teilten sich die Einflußsphären ihrer Geschäftstätigkeit auf: Agfa West lieferte nur noch in die westliche Hemisphäre, Agfa Ost firmierte um zu Orwo und belieferte die östliche Welt.

Nach der Wende wurde das Ost-Traditionsunternehmen mit den typischen Schwierigkeiten konfrontiert, die Tausenden Betrieben der Ex-DDR das Genick brachen: veraltete Produktions- und damit Produkttechnik; starke Fertigungstiefe und -breite; zu viele Mitarbeiter (insgesamt 15 000), die das Unternehmen fast völlig autark machten; geringe Produktivität; kaum Kapital; Wegbrechen der angestammten Ost-Märkte, die dank der wirtschaftlichen und politischen Öffnung plötzlich auf dem Weltmarkt einkaufen konnten.

Schließlich stiegen nachgewiesene Branchenkenner bei Orwo ein: Die Manderman-Gruppe, seit 1946 im Fotoeinzelhandel tätig (Polyfoto), hatte mit der Übernahme der Schneider Optischen Werke Bad Kreuznach und der Rollei-Werke bereits Saniererqualitäten bewiesen.
Nach eineinhalb Jahren harter Verhandlungen stimmte die Treuhand im Oktober 1995 der Übernahme zu.
Um den Einstieg bei Orwo finanzieren zu können, verkaufte Manderman die wieder prosperierenden Rollei-Kamerawerke an den koreanischen Konzern Samsung und investierte in Wolfen bis zur Wiederaufnahme der Produktion einen zweistelligen Millionenbetrag in neue Technik.
Insgesamt liegt das Investitionsvolumen bei 74 Millionen Mark.
Vom ehemaligen Großunternehmen Orwo blieb nur das Kerngeschäft - Produktion von Fotomaterial und Dienstleistungen für Profi- und Amateurfotografen mit 200 Beschäftigten - übrig.
Sechs Monate lang wurde umgestellt und umgebaut; dann konnte die Produktion in Wolfen wieder starten.

Forcierter Aufbau von Zweitmarken Neben den bereits genannten Schwierigkeiten machte Orwo auch zu schaffen, daß der Filmmarkt in Deutschland »mehr oder weniger gesättigt ist«, bedauert André Lohmar, als Marketingleiter der Manderman-Gruppe auch für Orwo verantwortlich.
Mit folgender Ausgangssituation sahen sich die Wiedereinsteiger konfrontiert: In Deutschland werden jährlich circa 175 Millionen Kleinbildfilme verkauft, überwiegend an Amateurfotografen.
Qualitativ gibt es laut Tests der Fachpresse kaum Unterschiede.

Schon 55 Prozent dieser Filme werden von großen Einzelhandelsketten (überwiegend Consumer Electronics), Drogeriemärkten und Kaufhäusern vertrieben.
Dieser Bereich deckt auch 30 Prozent der Fotoarbeiten ab.

Der Fachhandelsanteil am Filmeverkauf ist etwa auf die verbleibenden 45 Prozent gesunken, Tendenz weiter fallend.
Doch werden immer noch circa 70 Prozent aller Fotoarbeiten beim Fachhandel in Auftrag gegeben.

Durch die starke Position der großen Einzelhändler beim Filmverkauf hat es ein kleiner, verhältnismäßig unbekannter Anbieter schwer, dort zu akzeptablen Bedingungen gelistet zu werden.

»Wir mußten und müssen uns immer noch vor allem gegen die drei großen der Branche, also Kodak, Agfa und Fuji, behaupten«, beschreibt Lohmar die Situation auf dem deutschen Markt.
Die drei Markenartikler haben bei Kleinbildfilmen einen Marktanteil von je 25 Prozent.
Kodak ist der höchstpreisige Anbieter (Film mit 36 Aufnahmen ca. acht DM).
Im zweithöchsten Preissegment bieten Agfa und Fuji ihre Farbfilme zu knapp sieben DM an.
Das restliche Viertel des Marktes verteilt sich auf diverse No-name-Produkte und Handelsmarken, deren Filme circa vier bis fünf Mark kosten.

Da es den Marktführern in jüngster Vergangenheit nicht gelang, den Gesamtabsatz von 175 Millionen Filmen pro Jahr zu steigern oder ihre Marktanteile wesentlich zu erhöhen, haben sie vor etwa einem Jahr mit dem Versuch begonnen, mittels preisniedrigerer Zweitlinien ihre Marktposition zu verbessern.
So führt Kodak neben seinem Hauptprodukt Kodak-Color-Gold die billigere Variante Retina (36 Aufnahmen für fünf DM); Agfa vertreibt neben der Stammarke Agfacolor wieder Filme unter seinem alten Markenzeichen Perutz, die nur noch soviel wie No-names kosten.

»Dieser harte Preiskampf fiel zeitlich mit unserem Wiedereintritt in den Markt zusammen«, berichtet André Lohmar.
Deshalb mußte das Unternehmen den ursprünglichen Plan, seine Produkte preislich zwischen der zweiten Markenfilmkategorie und den No-names anzusiedeln, modifizieren.
Heute sind Orwo-Filme für fünf Mark zu haben.
Im vergangenen Jahr (April bis Dezember) wurden in Wolfen circa drei Millionen Filme produziert und etwa acht Millionen Mark Umsatz gemacht.
In diesem Jahr rechnet Orwo mit dem Verkauf von neun Millionen Filmen.
Der Gesamtumsatz aus allen Geschäftsfeldern wird voraussichtlich bei 20 Millionen Mark liegen.

Zwar haben inzwischen neben dem Fotofachhandel auch fast alle großen Händler die Marke gelistet, doch Hauptabsatzmarkt sind immer noch die neuen Länder. »
Wir hatten hier einen größeren Bekanntheitsgrad, auf dem wir aufbauen konnten, und haben deshalb beschlossen, unser vergleichsweise knappes Marketingbudget von circa einer Million Mark zunächst auf die neuen Länder zu konzentrieren«, schildert der Marketingleiter die Strategie für den Wiedereintritt in den Markt.
In den Hörfunksendern ORB und MDR wurden Spots, in Ost-Printmedien (wie Super Illu) Anzeigen geschaltet.
Als wichtigste Botschaft habe man den Verbrauchern signalisiert, »Orwo ist wieder da.«
Gemeinsam mit der Berliner Werbeagentur Litwin, Münich & Partner (Werbung, Verkaufsförderung, Mediaschaltung) und der Wolfener Agentur Lothar Schwarz Kommunikation (PR, Öffentlichkeitsarbeit, Corporate Design) wurde der neue Auftritt konzipiert und umgesetzt.

»Natürlich reichte es nicht aus, den Kunden zu vermitteln, daß es uns wieder gibt«, betont André Lohmar.
Orwo hatte zwar in der DDR einen hohen Bekanntheitsgrad und überwiegend einen guten Ruf; dieser wurde jedoch in der Zeit nach der Wende, als die Qualität des Produktes gelegentlich schwankte, etwas lädiert.
Zudem hatten viele Kunden die Dienstleistungen des Unternehmens aus DDR-Zeiten nicht in guter Erinnerung. »
Unser neuer Auftritt sollte signalisieren, daß Orwo farbig und freundlich ist«, so Lohmar.

Etwa die Hälfte aller Amateurfotos werden im Urlaub geschossen, 30 Prozent machen stolze Eltern von ihrem Nachwuchs.
Mithin sei die Zielgruppe der Dreißig- bis Vierzigjährigen zwar sehr interessant, aber überwiegend schon an bestimmte Marken gebunden.
Deshalb versucht der ostdeutsche Filmehersteller vor allem jüngere Leute anzusprechen: »Mit unserem Slogan Orwo - der Farbige zielen wir vor allem auf die Fünfzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen, die einerseits markenbewußt, andererseits aber erst am Beginn ihrer Fotografenkarriere stehen und deshalb noch nicht markentreu sind.«

Ein weiteres Argument für die Bearbeitung dieser jugendlichen Zielgruppe sei, daß vor allem junge Leute mit Computern und neuer Technik vertraut seien und deshalb die Chance bestehe, sie für neue Fototechniken wie das »Advanced Photo System« oder die digitale Fotografie zu gewinnen.
Man habe deshalb »eine mutige, sehr junge Präsentation« gewählt: Star der Orwo-Werbung ist der farbige Musiker Jim Reeves, der unmittelbar nach seinem Werbe-Engagement für Orwo einen Hit in den deutschen Charts landen konnte.
Jetzt laufen seine Videoclips regelmäßig im Musiksender Viva.
Da habe es sich angeboten, auch den Orwo-Spot auf Viva zu schalten.
Ergänzt werden Funk- und Fernsehspots durch vierfarbige Anzeigen in überregionalen Magazinen.

Der Löwenanteil des Marketingbudgets ist für den Mediaetat reserviert.
Ein zweiter Schwerpunkt liegt bei Messen, etwa Präsentationen bei Hausmessen der großen Einkaufsorganisationen oder bei einer Spezialmesse für Ostprodukte, die das Bundeswirtschaftsministerium im September in Düsseldorf veranstaltete.
Eine weitere Stütze ist der eingeführte Außendienst der Manderman-Gruppe (zwölf Reisende), der seit Jahrzehnten bundesweit 3 000 Fotohändler betreut.
Gewinnspiele für Händler und Endverbraucher ergänzen das Verkaufsförderungspaket.

Wachstumsperspektiven im Ausland Trotz all dieser Anstrengungen sind dem inländischen Wachstum - auch wegen der nachlassenden Konsumneigung vieler Verbraucher hierzulande - natürliche Grenzen gesetzt.
Orwo sieht deshalb die besten Wachstumschancen auf ausländischen Märkten.
Möglichst schnell sollen zwei Drittel des Umsatzes (heute ein Drittel) im Ausland erzielt werden.

Orwo kann dabei an zahlreiche vorhandene Kontakte aus früheren Zeiten anknüpfen, vor allem zu osteuropäischen Ländern.
Eine erste Promotion-Aktion ist bereits in Rußland erfolgreich gelaufen.
Dort arbeitet schon mit gutem Erfolg eine Vertriebsorganisation in Moskau und Umgebung.
Auf Messen und Ausstellungen in Budapest, Prag, Stettin und Kiew konnten alte Kontakte aktiviert werden.
Auch in arabischen und afrikanischen Ländern, die schon zu DDR-Zeiten beliefert wurden (u.a.

Ägypten, Arabische Emirate, Tunesien), rechnet man sich gute Chancen aus.

Wichtigster Fundus des Unternehmens seien Mitarbeiter, die über Landes- und Sprachkenntnisse verfügten.
Für jedes der angepeilten Länder ist ein Experte zuständig, der zielgerichtet für die Bearbeitung dieses Marktes eingestellt wurde.
So sind erste Erfolge auch in Südamerika, Spanien, Griechenland und Italien zu verzeichnen. »
Doch vor allem in Westeuropa müssen wir noch besser werden«, meint André Lohmar selbstkritisch.
Man wolle sich in Zukunft auch stärker auf die alten Bundesländer konzentrieren.

Um die Stellung im Markt weiter auszubauen, errichtet Orwo in Wolfen das bundesweit modernste Großlabor.
Dort werden ab Oktober im Drei-Schicht-Betrieb Filme entwickelt und Aufnahmen bearbeitet - ein Angebot vor allem an Profi-Fotografen etwa aus dem Werbebereich.
Auf einer Fläche von rund 3 000 qm können 50 bis 60 Millionen Farbbilder pro Jahr hergestellt werden.


Descriptoren:Markenartikel allgemein

Land:Bundesrepublik Deutschland C4GER C4EUGE
Ost-Deutschland C4GER C4EUGE

Länderfacette:Handel und Industrie
Handel und Industrie

Datum:13.10.1997 00:00:00



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