Waltrop
Mahnmal
Entbindungslager Waltrop
An der Birke hinter dem Steinkreuz an der Borker Straße weist eine Holztafel den Weg zum Mahnmal. Im Hintergrund die Fläche auf der das Lager gestanden ist.
An der Birke hinter dem Steinkreuz an der Borker Straße weist eine Holztafel den Weg zum Mahnmal. Im Hintergrund die Fläche auf der das Lager gestanden ist.
Foto Dietrich Hackenberg.

Fertigrasen wird heute auf dem Acker hinterm Kanal in Waltrop Holthausen gezüchtet, wo vor über 60 Jahren eingezäunte Baracken im Tarnanstrich gestanden sind.

Jahrzehnte ist wenig bekannt über das Entbindungslager, das die "Gemüseanbaugenossenschaft Waltrop und Umgebung e.V.“ im Auftrag der Nationalsozialisten hier in den Rieselfeldern angelegt hatte. Erst Mitte der 1990er Jahre als die Historikerin Gisela Schwarze aus Münster nachforscht, fügen sich Details aus Zeitzeugenbefragung und Quellenforschung zu einem dunklen Kapitel der verdrängten Geschichte der Zwangsarbeit.

Mitteilung des Arbeitsamtes Coesfeld am 6.01.1944 an den Landrat: "dass schwangere Ostarbeiterinnen nach Waltrop abgeschoben werden können. Der Bauer hat das Arbeitsamt rechtzeitig zu verständigen. Es besteht aber keine Möglichkeit Ersatz zu stellen und die Ostarbeiterinnen nach der Entbindung zurückzubekommen.“
Mitteilung des Arbeitsamtes Coesfeld am 6.01.1944 an den Landrat: "dass schwangere Ostarbeiterinnen nach Waltrop abgeschoben werden können. Der Bauer hat das Arbeitsamt rechtzeitig zu verständigen. Es besteht aber keine Möglichkeit Ersatz zu stellen und die Ostarbeiterinnen nach der Entbindung zurückzubekommen.“
Stadtarchiv Dülmen.
 [...] Die unehelichen Zivilarbeiterinnen, [...] die im hiesigen Dekanat vielfach in den Textilfabriken tätig sind, werden vor der Niederkunft durchweg in eine Anstalt nach Waltrop geschickt. [...] Eines kann aber festgestellt werden, daß nämlich fast alle hier getauften Kinder von Zivilarbeiterinnen aus dem Auslande schon kurze Zeit nach der Taufe sterben. [...] 
Hinweis auf hohe Sterblichkeit der Kinder, die in Waltrop geboren sind. Notizen eines Emsdettener Dechanten im Rahmen einer Umfrage zur Taufe von Ausländerkindern.
In: Schwarze. Kinder, die nicht zählten.
Rest von einem Gewehr. Fundstück bei Erdarbeiten auf dem ehemaligen Lagergelände.<br>Aufbewahrt im Heimatmuseum Waltrop.
Rest von einem Gewehr. Fundstück bei Erdarbeiten auf dem ehemaligen Lagergelände.
Aufbewahrt im Heimatmuseum Waltrop.
Foto Dietrich Hackenberg.

Angesichts der vielen schwangeren Zwangsarbeiterinnen Anfang 1943 sehen die Behörden Handlungsbedarf. Die Arbeitskraft der Mütter soll dem Reich unbedingt erhalten bleiben. Statt Rückführung in die Heimat, heißt die neue Order, die Frauen ins zentrale Entbindungslager für Westfalen, nach Waltrop, abzuschieben.

Das Lager ist nicht nur für Geburten zuständig, viele der Frauen werden bis zum fünften Schwangerschaftsmonat zur Abtreibung gezwungen.

 [...] Ich habe Frauen gesprochen, die abtreiben mußten, man hatte sie sehr bedrängt, das machen zu lassen. Ich hatte oft den Eindruck, daß mehr Frauen zur Abtreibung als zur Geburt im Lager waren. Sie blieben meist nur kurze Zeit. Die Abtreibungen wurden nur dann im Entbindungsraum vorgenommen, wenn keine Geburten anstanden. [...] 
Polin Maria Wienclaw im Interview.
In: Schwarze. Kinder, die nicht zählten.

Während der Nachwuchs der "fremdvölkischen" Osteuropäer unerwünscht ist, sollen "arische" deutschen Frauen möglichst viele Kinder gebären. Ihnen ist die Abtreibung streng verboten.
Als Belohnung für eine große Kinderschar hat Hitler das "Mutterkreuz" gestiftet, das hundertfach auch in Westfalen verliehen wird.

Blechtasse. Fundstück bei Erdarbeiten auf dem ehemaligen Lagergelände.
Aufbewahrt im Heimatmuseum Waltrop.
Foto Dietrich Hackenberg.
Feierstunde anläßlich der Verleihung des Mutterkreuzes im westfälischen Oppendorf.
Feierstunde anläßlich der Verleihung des Mutterkreuzes im westfälischen Oppendorf.
Volkskundliche Komission für Westfalen.
 [...] Deutschland muß dafür Sorge tragen, daß die Ostvölker und der größte Teil der Balkan- und Donaustaaten zum Aussterben gezwungen werden durch Sterilisierung und Vernichtung der Herrenschicht dieser Länder. Um jedoch den Führungsanspruch des deutschen Volkes zu sichern und gleichzeitig die deutsche Bevölkerung zu steigern, müssen alle ledigen und verheirateten deutschen Frauen, soweit diese noch nicht vier Kinder haben, im Alter bis zu 35 Jahren verpflichtet werden, von reinrassigen einwandfreien deutschen Männern vier Kinder zu zeugen. [...] 
„Züchterische Vision“ von Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheits-Hauptamts. In: Wolfgang Schneider. Frauen unterm Hakenkreuz. Hamburg 2001.

Einige wenige Zwangsarbeiterkinder mit blonden Haaren und blauen Augen werden von der SS als so genannte “Gutrassige Kinder“ ausgewählt. Sie sollen in besonderen Heimen als Deutsche erzogen werden und werden den Müttern weggenommen.

Das "Ehrenkreuz der Deutschen Mutter" (Mutterkreuz) wird 1938 als Auszeichnung von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gestiftet. Es soll eine ähnliche Funktion für die Mütter erfüllen wie das Eiserne Kreuz für die Soldaten, indem es einen Ehrenplatz in der Volksgemeinschaft symbolisiert. Die kinderreiche Mutter wird für ihren Einsatz von "Leib und Leben" bei der Geburt und Kinderaufzucht ausgezeichnet. Adolf Hitler, in dessen Namen die Ehrung verliehen wird, bezeichnet die Mutterschaft demgemäß als das "Schlachtfeld" der Frau. Das Mutterkreuz wird nur an reichsdeutsche Mütter verliehen, die einen "Ariernachweis" vorlegen können und deren Kinder als "erbgesund" gelten.
Quelle Text: www.dhm.de/lemo/.
 [...] Kinder von Ausländerinnen, die Träger zum Teil deutschen und stammesgleichen Blutes sind und als wertvoll angesehen werden können, [sind] nach Möglichkeit dem Deutschtum zu erhalten und [...] daher als deutsche Kinder zu erziehen. [...] 
Partei Kanzlei. Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterrinnen und der im Reich von Ausländerinnen geborenen Kinder. Vertrauliche Informationen 14. September 1943.
Kommunalarchiv Herford.

Die meisten der in Waltrop geborenen Kinder erleiden ein anderes Schicksal. Viele sterben schon bald nach der Geburt an Krankheiten und Unterernährung. Die Zustände in Waltrop sind katastrophal, das Lager ist total verlaust, die Versorgung mit Lebensmitteln völlig unzureichend. Besonders die Kinder, die nicht gestillt werden, haben wenig Chance zu überleben. Es fehlt an passender Nahrung und Fläschchen mit Saugern. Regelmäßig bekommen nur wenige Kinder die Brust, denn die Mütter müssen unmittelbar nach der Niederkunft wieder arbeiten.

In Waltrop sind 1.273 Kinder geboren worden, von denen viele verhungert sind. 294 von ihnen sind auf dem Friedhof in Waltrop und eine unbekannte Zahl in Holthausen in der Nähe des Lager begraben worden. Weitere 200 sind im übrigen Westfalen beerdigt, wo sie kurz nach der Entlassung aus Waltrop gestorben sind.

Einziges bekanntes Bild des Entbindungslagers ist eine amerikanische Luftaufnahme von 1945. Anhand von Zeitzeugenaussagen lässt sich die Funktion der einzelnen Gebäude nachvollziehen.

<strong>Baracke Ärztinnen+Hebammen</strong> Von schwangeren Frauen bewohnte Baracke, in der auch russische Ärztinnen und Hebammen untergebracht sind. Diese kriegsgefangenen Frauen aus dem Sanitätspersonal der Roten Armee kümmern sich um Gebärende und Säuglinge. <br><strong>Nadelfabrik</strong> In der Zweigstelle einer Iserlohner Nadelfabrik müssen die Frauen und Mädchen vierzehn Tage vor und sechs Wochen nach der Entbindung Nadelbriefchen für die deutsche Wehrmacht stecken. <br> <strong>Entbindungsbaracke</strong> Hier müssen die Frauen auf einem hölzernen Tisch entbinden. Frauen mit Wehen warten auf Matratzen auf dem Boden liegend, bis sie an der Reihe sind. In der Baracke sind auch Räume für weitere Schwangere abgeteilt. In den Räumen stehen dicht an dicht dreistöckige Betten. Papiersäcke mit Hobelspänen gefüllt dienen als Matratzen.<br><strong>Sarglager</strong> Schuppen am Waldrand mit großen und kleinen Särgen für Frauen- und Kinderleichen. Wenn alle Särge voll sind, werden diese von Franzosen aus einem nahegelegenen Kriegsgefangenenlager in Massengräbern begraben. Die leeren Särgen werden anschließend zurück in den Schuppen gebracht.<br><strong>Säuglingsbaracke</strong> Die Säuglingsbaracke dürfen die Mütter nicht betreten. In einer Hälfte der Baracke befinden sich Kleinkinder, deren Mütter auf Höfen arbeiten müssen, deren Bauern die Kinder aber nicht haben wollen.<br><strong>Strafbaracke</strong> Vor der Strafbaracke hat ein Galgen gestanden, an dem unter anderem eine der russischen Ärztinnen aufgehangen worden ist, weil sie zu viele Frauen krank geschrieben haben soll.
Baracke Ärztinnen+Hebammen Von schwangeren Frauen bewohnte Baracke, in der auch russische Ärztinnen und Hebammen untergebracht sind. Diese kriegsgefangenen Frauen aus dem Sanitätspersonal der Roten Armee kümmern sich um Gebärende und Säuglinge.
Nadelfabrik In der Zweigstelle einer Iserlohner Nadelfabrik müssen die Frauen und Mädchen vierzehn Tage vor und sechs Wochen nach der Entbindung Nadelbriefchen für die deutsche Wehrmacht stecken.
Entbindungsbaracke Hier müssen die Frauen auf einem hölzernen Tisch entbinden. Frauen mit Wehen warten auf Matratzen auf dem Boden liegend, bis sie an der Reihe sind. In der Baracke sind auch Räume für weitere Schwangere abgeteilt. In den Räumen stehen dicht an dicht dreistöckige Betten. Papiersäcke mit Hobelspänen gefüllt dienen als Matratzen.
Sarglager Schuppen am Waldrand mit großen und kleinen Särgen für Frauen- und Kinderleichen. Wenn alle Särge voll sind, werden diese von Franzosen aus einem nahegelegenen Kriegsgefangenenlager in Massengräbern begraben. Die leeren Särgen werden anschließend zurück in den Schuppen gebracht.
Säuglingsbaracke Die Säuglingsbaracke dürfen die Mütter nicht betreten. In einer Hälfte der Baracke befinden sich Kleinkinder, deren Mütter auf Höfen arbeiten müssen, deren Bauern die Kinder aber nicht haben wollen.
Strafbaracke Vor der Strafbaracke hat ein Galgen gestanden, an dem unter anderem eine der russischen Ärztinnen aufgehangen worden ist, weil sie zu viele Frauen krank geschrieben haben soll.
Grafik Dietrich und Hediye Hackenberg auf Basis eines amerikanischen Luftbildes des Lager Waltrop-Holthausen 29a im April 1945.
Luftbild Datenbank 33-2701 — Ing. Büro HG. Carls. Bild 2032.
 [...] Sie kamen um die Kinder mitzunehmen, es waren Autos der SS. Wenn ein Kind hübsch war wurde es weggenommen. [...] 
Die Polin Maria Wienclaw, bringt als Zwangsarbeiterin im November 1943 im Lager Holthausen unter schwierigsten Umständen ein Kind zur Welt. Die Hebammen behaupten, es sei kurz nach der Geburt gestorben. Doch Maria Wienclaw glaubt, dass ihr blondes, blauäugiges Kind heute irgendwo in Deutschland lebt.
Interview für den Film „Unerwünscht und vergessen“.
Nach Ende des Krieges lässt die Britische Militärregierung nach Kindern von Zwangsarbeiterinnen fahnden. Plakatanschlag in Siegen 1946.
Ulrich Opfermann: Heimat Fremde. "Ausländereinsatz" im Siegerland 1939 bis 1945 . Siegen 1991.

Dass den Müttern und Kindern aus Waltrop auch ein besseres Schicksal beschieden sein kann, wenn sich mitfühlende Menschlichkeit gegenüber dumpfer Gleichgültigkeit durchsetzt, zeigt die Ostarbeiter-Kinderpflegestation der Firma Gebrüder Laurenz in Ochtrup.

Ein Licht im Dunkel der Geschichte der Zwangsarbeit. Blättern sie im Fotoalbum zur Erinnerung an die Ostarbeiter-Kinderpflegestation der Fa. Gebr. Laurenz, Ochtrup.
Archiv Gisela Schwarze, Münster.

Literatur & Links

Gisela Schwarze: Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg. Essen 1997.

Anne Roerkohl: Unerwünscht und vergessen. Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg. Dokumentarfilm WDR 2000.

Webseite "Zwangsarbeit in Dülmen Stadt und Land"