Auf dem offenen Meer fahren wir 600 Kilometer in Richtung Süden. Die Landeier unter uns quält ein Sturm, der Magen reagiert ganz empfindlich. Dann müssen wir uns erneut ins Treibeis wagen - aber wie schön - unser Schiff bewegt sich nicht mehr von einer Seite auf die andere. Im Packeis fährt es gerade und aufrecht durchs Meer. So können sich die Mägen langsam wieder beruhigen.
Am frühen Morgen erreichen wir endlich unser Etappenziel. Doch es dauert noch beinahe 24 Stunden bis wir uns zwischen Hunderten von Eisbergen zum Kangerdlugssuaq-Gletscher hindurchgeschlängelt haben. Unsere beiden Forscher aus den USA zeichnen ihre Messpunkte auf die Karten und sind bereit, die GPS Empfänger auf den Gletscher zu bringen. Sie kommen unerwartet schnell zurück – der Gletscher ist weg! Natürlich fehlt nicht der ganze Gletscher, aber immerhin fünf Kilometer davon. Genau der Teil, in dem unsere Messinstrumente installiert werden sollten. Dort ist jetzt offenes Wasser. Ein merkwürdiges Gefühl.
Nachdem wir uns von dem Schreck etwas erholt haben, berechnen wir die Messpunkte neu und machen uns erneut auf dem Weg. Es ist fast unmöglich, einen Landeplätze für den Hubschrauber zu finden. Schon bei den Gletschern, die wir eine Woche vorher gemessen hatten, gab es Landeprobleme. Dies hier war aber beinahe auch für unseren unerschrockenen Piloten zu viel. Mit viel Geduld fand er dennoch Möglichkeiten, die beiden Forscher zwischen all den Spalten und dem Brucheis abzusetzen. Dabei landete er erst gar nicht vollständig, sondern setzte nur vorsichtig die Kufen auf.
Zwei Tage später hatten wir das Resultat: Der Gletscher schiebt sich mit 14 Kilometern pro Jahr voran!. Zuletzt war er 1996 gemessen worden. Damals war die Fließgeschwindigkeit fünf Kilometer pro Jahr. Die enormen Eismassen, die auf diese Weise ins Meer getragen werden, übersteigen unser Vorstellungsvermögen – rund 90 Kubikkilometer im Jahr. Eine unerwartete Reaktion des Gletschers auf die gestiegenen Temperaturen. Wenn ich anfange zu rechnen - also ein Kubikmeter sind 1000 Liter Wasser und ein Kilometer tausend Meter... - bin ich wegen der vielen Nullen ganz schnell verwirrt. Und das bei nur einem einzigen Gletscher.
Gordon und Leigh waren ganz aufgeregt, da diese Ergebnisse eine Sensation darstellen - also wissenschaftlich interessant sind. Für uns war die Neuigkeit jedoch schockierend und deprimierend, obwohl wir wussten, dass der Gletscher seit einigen Jahren an der Oberfläche abgeschmolzen war. Das hatten Messungen per Flugzeug mit Lasern zu Tage gebracht. Aber diese dramatische Reaktion hatten wir nicht erwartet. Die Temperaturveränderung in den letzten Jahren war zwar fühlbar, aber betrug weniger als ein halbes Grad.
Gordon erwartet nun, dass es nicht mehr lange dauert, bis mehr und mehr Gletscher die Schwelle zum Fieber überschreiten - im Takt mit den steigenden Sommertemperaturen. Es scheint, als ob wir nicht mehr viel Zeit haben, um das Alptraumszenario, den Verlust der Grönland-Eiskappe, zu verhindern.