Zeitzeugen berichten


Leonardo Calossi

Rede von Leonardo Calossi anlässlich der Vorstellung des Buches »Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland 1943–45« am
13. März 2003 in der Rathausdiele in Schweinfurt


CC65»Die Rückkehr an den Ort, an dem sich ein Teil meines Schicksals als Militärinternierter oder Kriegsgefangener, wie auch immer man es nennen möchte, ereignet hat, hat mich sehr bewegt – auch nach so langer Zeit. Tausende Erinnerungen sind mir ins Gedächtnis gerufen worden.

Ich hätte nie gedacht, dass ich Schweinfurt und Franken in diesem Alter noch einmal wiedersehen würde.

Als mich Herr Manfred Teuben um meine Zustimmung zu dem »Buchprojekt Calossi« gebeten hat, habe ich den Vorschlag sehr gerne angenommen; ja, die Wertschätzung, die meiner bescheidenen Arbeit so zu Teil wurde, hat mir eine große Freude bereitet.

Die erste Auflage der »Anmerkungen« in italienischer Sprache war beinahe zufällig entstanden. 1986 fand in Florenz ein Kongress über das Schicksal der italienischen Militärinternierten in Deutschland statt. Bei diesem Anlass bedauerte Professor Rochat, Leiter des Historischen Seminars an der Universität Turin, u. a. die Tatsache, dass nur sehr wenige Unteroffiziere und einfache Soldaten über ihre Gefangenschaft in Deutschland geschrieben hatten. Diese Bemerkung des Gelehrten regte mich dazu an, mein eigenes Schicksal zu überliefern, meine persönliche Odyssee zu erzählen. Instinktiv hielt ich es für angemessen, meinen Bericht so vollständig wie möglich zu gestalten und mich nicht auf tadelnswerte Episoden zu beschränken. So entstand also die detaillierte Geschichte darüber, wie ich Italien 1941 von Brindisi aus verließ und wie ich 1945 über den Brenner dahin zurückkehrte, nach einer Irrfahrt über den halben Kontinent. Ich hielt es auch für sachdienlich und wichtig zu erklären, warum ich am 8. September 1943 in Albanien war, wie ich durch die deutschen Truppen gefangen genommen und in die Lager der Nazis deportiert wurde und welche Arbeit mir beinahe zwei Jahre lang auferlegt wurde.

Über die Internierung von 600.000 italienischen Soldaten, von denen 40.000 nicht nach Hause zurückkehrten, ist eine ziemlich episodenhafte Literaturproduktion entstanden, die beinahe ausschließlich die unmenschliche Behandlung thematisiert, die einem ganzen in Ungnade gefallenen Heer zu Teil wurde, einer ungeheuren Menge junger Menschen in der Blüte ihrer Jahr, die sich einzig der Tatsache schuldig gemacht hatten, mit »Nein« auf die eindringlichen Aufforderungen, der Repubblica Sociale Mussolinis beizutreten, geantwortet und so einen ersten Akt des »Widerstandes« gegen die aufgezwungenen antidemokratischen Ideologien geleistet zu haben, gegen die sogenannte »neue Ordnung«.

Ich halte die Initiative, meine »Anmerkungen« in Ihre Sprache zu übersetzen, für äußerst lobenswert. Meine Anerkennung gilt Herrn Klaus Hofmann und seiner Gruppe. Sie haben ihre Arbeit mit viel emotionaler Anteilnahme und mit Leidenschaft durchgeführt, in dem ehrenwerten Vorsatz, einen dramatischen und erschütternden Abschnitt der Geschichte zu erinnern und bekannt zu machen.

Von dem Enthusiasmus, mit dem seine Gruppe das Projekt vorangetrieben hat, konnte ich mich am 26. Mai 2002 überzeugen, als wir uns in Florenz trafen, um gedanklich in die dunklen und traurigen Jahre des Krieges zurückzukehren. Wir haben von der Internierung in den Lagern, der Zwangsarbeit, den unmenschlichen Leiden, der Aufhebung moralischer Werte, dem Entzug von Freiheit und von der mit Füßen getretenen Menschenwürde gesprochen. Daher sage ich Herrn Hofmann und seinen Freunden Dank dafür, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die das ungünstige Schicksal besiegt hatte.

Leonardo-lchelndDie Zeit vergeht, doch noch heute habe ich lebendige Erinnerungen an die zwischen Gitterzäunen verbrachten Tage vor Augen. Ich sehe mich wieder gegen den heimtückischsten aller Feinde kämpfen, den Hunger. Ich sehe mich wieder als Person zu Grunde gerichtet, missbraucht, erniedrigt. Ich sehe mich wieder wehrlos, zur völligen Machtlosigkeit gegen eine solche Degradierung verurteilt. Ich höre wieder das Klappern der Viehwaggons während der unendlichen Reise durch halb Europa. Angesichts der ungewissen Zukunft hatte ich mir ein einziges Ziel gesetzt: die Gefangenschaft um einen Tag zu überleben, um zu meiner geliebten Familie, in meine Heimat zurückkehren zu können.

Die Gesundheit verschlechterte sich in beängstigendem Maße, ich fürchtete das Schlimmste. Aber, so seltsam das auch scheinen mag, ich hatte weniger Angst vor dem befreienden Tod als vor der beklemmenden Idee, als anonymer Körper in ein Massengrab geworfen zu werden, ohne Erinnerung und ohne geistlichen Beistand. Ich muss zugeben, dass ich vom Wohlwollen des Schicksals, aber vor allem auch von einem starken Körper und einem festen Lebenswillen aufrecht erhalten wurde.

Heute, nachdem der Nachhall der Katastrophe abgeklungen ist, können wir in Ruhe und Frieden und mit größerer Ursachenkenntnis über das nachdenken, was geschehen ist, über den Sturm, der über uns hinweggefegt ist, diesseits und jenseits der Barrikade.

Man sagt, die Geschichte sei eine Lehrmeisterin. Nun, wenn sie tatsächlich Lehrerin für unsere Zukunft ist, machen wir die furchtbare Lektion, die sie uns in jenen Jahren des kollektiven Wahnsinns erteilt hat, zu unserem geistigen Besitz! Gehen wir guten Mutes und mit Verantwortungsbewusstsein, mit Achtung vor dem Menschen - vor einem jeden Menschen, mit Gerechtigkeitssinn und Liebe ans Werk und lassen wir die Begabung des Menschen erstrahlen, jenes denkenden Wesens, das zum moralisch und materiell Guten tendiert!

Ich habe die Odyssee der Gefangenschaft in den Lagern und den Arbeitslagern nicht vergessen, aber in mir sind weder Hass noch Rachegefühle, auch wenn ich an die 40.000 Landsleute denke, die elend zugrunde gegangen sind und an Tausende junger Menschen, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat allzu früh verstorben sind, hingestreckt von den Krankheiten, die sie sich an den traurigen Orten zugezogen hatten.

Die Geschichte selbst beobachtet und verzeichnet gewissenhaft jede Tat, ohne irgend etwas auszulassen: sie rühmt Heldentaten, verurteilt Untaten und unvorstellbare Grausamkeiten. Ich denke, dass es richtig ist, die dramatischen Ereignisse bekannt zu machen, die so viele vom Begriff der Ehre getriebene junge Menschen erleiden mussten, welche sich an den geschworenen Eid hielten.

Mein Alter – 89 Jahre sind nicht wenige – erlaubt mir, die Geschehnisse auf der Welt von oben zu betrachten, objektiv die täglichen Ereignisse zu bewerten. Aber ich bin ruhig, und ich wünsche diese Ruhe einem jeden von Ihnen, wie ich Ihnen allen Glück und Zufriedenheit durch Erfolge wünsche.

Ich möchte Sie herzlich grüßen und Ihnen nochmals dafür danken, meiner Schrift Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, vor allem aber dafür, mich in das verdienstvolle Unternehmen einbezogen zu haben, das nicht ins Vergessen geraten zu lassen, was eines Tages geschehen ist.«




Raymond CousinPassbild-Cousin

Ich wurde am 4. Dezember 1942 abends nach Arbeitsschluss, am Ausgang des Betriebs wo ich als Maler beschäftigt war (im Alter von 22 Jahren) von zwei Deutschen, welche schwarze Ledermäntel trugen, abgeführt. »Herr Cousin, Ihren Ausweis. Folgen sie uns!«

Der Stadtbus stand ganz in der Nähe, schon vollgeladen mit jungen und älteren Männern, von der französischen Polizei beaufsichtigt.

Die Angehörigen wurden verständigt mit der Forderung, Kleidung und eine Brotzeit mitzubringen. Wir konnten uns noch einmal am Ostbahnhof in Paris vor der Abfahrt sehen.

Der Transport nach Deutschland erfolgte in geschlossenen Viehwaggons. In Schweinfurt waren wir in der Goethe-Schule untergebracht.

Die Lebensmittelversorgung waren folgende:
Abends wurden die Rationen für den nächsten Tag verteilt: Für 8 Personen ein Laib Brot, eine Wurst oder Käse, abends eine Suppe, früh: schwarzer, bitterer Kaffee, etwas Konfitüre (rote Rüben). Und das für 10-12 Stunden schwere Arbeit. So gut wurden wir verpflegt!

Erster Einsatzbetrieb in Schweinfurt war SKF Werk 2.

Im Juli wurde ich zu vier Wochen Straflager und Strafarbeit im Kugelfischerwerk unter den unmenschlichsten Bedingungen verurteilt. (Anmerkung: Für Fahrradfahren ohne Licht und zu nächtlicher Sperrstunde).

Morgens gingen wir nüchtern zur Arbeit, schaufelten täglich 10-12 Stunden Gräben aus und reparierten große Leitungen. Strengstes Sprechverbot, ohne Rast graben, Mittag eine halbe Stunde Pause, immer unter strengster Bewachung. Anfangs versuchten die Gefangenen miteinander zu sprechen, da war es gewiss, dass unsere einzige Mahlzeit (eine Suppe) mit der Bank umgeworfen wurde. Wollten wir etwas im Magen haben, kratzten wir die paar Gemüsebrocken auf dem Fußboden auf. Diese Diät konnten wir natürlich nicht lange aushalten, ohne dass wir dem Zwang der Aufseher vollkommen unterlagen.

Wir hatten wenig Kontakt mit der Bevölkerung. Ich befand mich einmal im Bunker der Berufsschule und hörte, dass »dreckige Ausländer nichts im Bunker zu suchen hätten«.

Das Arbeitsbatallion wurde inzwischen nach Osterburken verlagert. In Seckach, wo wir für Fichtel & Sachs arbeiteten, war unsere Kompanie

vollständig anwesend. Wir wurden für allerhand Arbeiten eingesetzt für das im Bau begriffene unterirdische Werk von Fichtel & Sachs.Cousin-Artikel

Am Dienstag den 31. August 2010 erschien im Schweinfurter Tagblatt anlässlich des Todes von Herrn Cousin zudem noch folgender Artikel über ihn.




Vitaly Melichov4-Zwangsarbeiter

Aus dem Brief vom 17. Mai 2000 von Vitaly Melichov, geb. 1924, (wurde mit 19 Jahren nach Deutschland verschleppt)

Am 3. März 1942 befahlen die deutschen Behörden die Evakuierung der Stadt Kramatorsk und zwar der gesamten männlichen Bevölkerung.

Wir kamen in Güterwaggons unter Bewachung deutscher Soldaten ... und erklärten uns, dass wir nach Deutschland zur Arbeit gebracht würden. Der Zug kam bis zur Stadt Lublin in Polen. Dort trieb man uns in ein Lager wo wir uns einer medizinischen Untersuchung unterziehen mussten. Darauf verlud man uns wieder in Waggons und brachte uns ins Lager Hammelburg wo ein großes Sammellager war.

Innerhalb einiger Tage kamen die Vertreter etlicher deutscher Firmen (SKF, Fichtel & Sachs,..) aus Schweinfurt, Nürnberg und anderen Städten hierher. Bald kauften uns die Beauftragten dieser Firmen auf ... und unter Bewachung brachte man uns nach Schweinfurt in die Firma VKF (SKF) wo ich begann als Schleifer in der Abteilung für Außenringe für Kugellager zu arbeiten. Damals waren wir alle sehr hungrig und arbeiteten jeweils 12 Stunden, von crei Uhr nachts bis drei Uhr nachmittags. Der Sonntag war für uns ein Tag zum Ausruhen.

Bald begann aufgrund dieser schwierigen Bedingungen eine Distrophie. Mein Körper begann anzuschwellen, besonders die Beine. Die Fabrik Nr. 1 befand sich in der Stadt, das Lager am Rande, am Ufer des Flusses Main. Aber die Bewachung und der Konvoi trieb uns mit Gewalt zur Arbeit und wir wurden immer begleitet von Schimpfworten und wir fürchteten uns ... Bald wurde ich ganz schwach und man verlegte mich in die Krankenabteilung, aber dort konnten sie mich nicht lange behalten und haben mich wieder entlassen obwohl ich noch krank und schwach war.

Ende Februar wurde auf Schweinfurt ein starker Luftangriff durchgeführt. Viele Objekte wurden damals zerstört, darunter unsere Wohnbaracken im Lager. Viele Leute kamen damals um. Ich, wie auch viele Hunderte befreiten sich aus Angst aus dem Lager und rannten irgendwohin. Ich fand mich gegen morgen 20 Kilometer von Schweinfurt entfernt. Dort arbeitete ich in einem Steinbruch mehr als einen Monat und dann wurde ich wie viele andere von der Feldgendarmerie entdeckt und wieder in mein Lager zurückgebracht.

Die Fabrik Nr. 1 war schwer zerstört und in meiner Werkhalle gab es nicht mehr viele Werkzeugmaschinen.

Man schickte einige von uns aus Schweinfurt weg um in der Stadt Neckarsulm zu arbeiten – wo eine unterirdische Fabrik – eine Filiale der Firma SKF – existierte. Dort arbeitete ich bis zur Ankunft der amerikanischen Truppen.

Im August 1945 gelangte ich endlich nach Hause in die Stadt Kramatorsk zu meiner Familie. Hier erfuhr ich durch meinen Vater, dass mein älterer Bruder am 31. März 1945 auf deutschem Gebiet gefallen und dass die Mutter danach am erlebten Leid gestorben war. Doch damit hörten meine Qualen nicht auf.

Die sowjetischen Behörden in Form der Organe des NKWD (Geheimdienst) verhielten sich feindselig uns gegenüber, weil wir entlassen worden waren als jemand, der für die Wehrmacht gearbeitet hatte. Diese Organe bemühten sich uns alle zu den gefährlichsten und schwersten Arbeiten zu schicken, zum Wiederaufbau zerstörter Industrieanlagen.

Wenn Sie noch irgendwelche Fakten benötigen schreiben Sie mir und ich werde mich bemühen, mich zu erinnern und zu antworten.

Aber ich würde gerne noch einmal Schweinfurt besuchen, um zu sehen wie es heute ausschaut und seine Einwohner zu treffen, besonders jene – nicht sehr viele – die sich an die Kriegsjahre erinnern.

…dies wurde für Vitaly Melichov und vier weitere ukrainischen Menschen Wirklichkeit. Im Mai 2003 lud unsere Initiative fünf ehemalige ukrainische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nach Schweinfurt ein.
Siehe »Besuch von ukrainischen Zwangsarbeitern in Schweinfurt«


Ryszard Pilujski

Ryszard Pilujski, geb. 1925 (Zwangsarbeiter bei Kugelfischer in Landeshut in Schlesien) schrieb uns am 15. Februar 2001:

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1944 (im alter von 19 Jahren) haben mich SD-Funktionäre und Polizei mit meinem Vater, Mutter und Schwester Irene zusammen verhaftet und ins örtliche Polizeigefängnis gebracht. Nach einer Woche Gefängnis hat man meine Mutter und meine Schwester ins Konzentrationslager Ravensbrück transportiert. Später sind sie dann ins KZ Buchenwald gekommen und waren dort bis zum Ende des Krieges. Sie haben dort in einer Munitionsfabrik gearbeitet (Hasag Werke)

Mein Vater und ich waren Häftlinge in Groß-Rosen und Landeshut bis zum 8. April 1945. Wir haben ab dem 20. Juli 1944 in der Militärfabrik »Kugelfischer Schweinfurt Kommando Landeshut« gearbeitet.

In Folge der Verhaftung haben wir unseren gesamten Besitz verloren (wurde von den Deutschen konfisziert) Dies war eine 4-Zimmer-Wohnung, sämtliche Möbel, alle Nebengebäude, die Tiere, Geld, Wertsachen, Kleidung, Papiere.

Unsere Gesundheit wurde durch diese Arbeit ruiniert. Vor allem war ich noch jugendlich und hatte bereits eine Nierenkrankheit.

Für mich war eine große Hilfe, dass mein Vater auch in diesen Lagern war, da er eine medizinische Ausbildung hatte. Seine Hilfe und Betreuung hat mir die Arbeit trotz meiner Nierenerkrankung ermöglicht.

Bedanken möchte ich mich für Ihre Idee diese Initiative zu gründen, die sich für all diejenigen einsetzt, denen Unrecht im 3. Reich geschehen ist. Leider sind schon so viele Leidensgenossen mittlerweile verstorben.


Giovanni Venier

»Wenn ich schon getroffen werde, dann wenigstens mit vollem Bauch«

Ein Ausschnitt aus dem Leben von Giovanni Venier – italienischer Zwangsarbeiter in Schweinfurt. Giovanni Venier wird am 1. August 1920 in Rovigno/Istrien geboren. Nach der Verhaftung Mussolinis und dem Zusammenbruch des faschistischen Italiens werden die italienischen Militärangehörigen – so auch er – entwaffnet und wie viele als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Venier hat vom 1. Oktober 1943 bis 31. August 1944 den Status eines italienischen Militärinternierten mit der Erkennungsmarke 180949. Anschließend wird er zu einem freien Arbeiter erklärt, ohne dass sich seine Lebensumstände verbessern.

Am 1. Oktober 1943 bringt man ihn mit ca. 4000 Leidensgenossen in Viehwaggons von Triest in das Lager Wietzendo bei Hamburg. Dort herrschen katastrophale Verhältnisse, wie Überbelegung, Mangelernährung, schlechte hygienische Verhältnisse und menschenunwürdige Unterbringung. Daraus folgend ergeben sich viele Todesfälle. Kurze Zeit später wird er weiter transportiert und muss in einer Munitionsfabrik in Fürth arbeiten. Er ist gerade 23 Jahre alt. Am 31.Oktober 1943 verlegt man ihn mit 200 anderen Italienern nach Schweinfurt zur Firma Kugelfischer in die Schmiede, später kommt er in die Schlosserei. Offensichtlich wird er deshalb ausgesucht, weil er von Beruf Maurer und schwere Arbeit gewohnt ist. Dort muss er bis März 1944 arbeiten.

In der ersten Zeit wird er mit 30 anderen Italienern im Theater in Gerolzhofen untergebracht. Sie müssen täglich um 4.00 Uhr aufstehen und werden mit dem Zug unter Bewachung zur Arbeit gebracht, wo sie von 6.00 – 18.00 Uhr arbeiten müssen. Nach ungefähr 3 Monaten kommt er ins Kugelfischer-Zwangsarbeiterlager »Mittlere Weiden« in Oberndorf. Im Lager herrscht eine Läuseplage. Das Lager »Mittlere Weiden« südlich von Oberndorf. westlich der Kläranlage am Main gelegen, war ein Werkslager von FAG Kugelfischer Georg Schäfer & Co. Es wurde mit einer Belegung von 2400 Menschen geplant (Baubeschreibung vom 18. September 1943).

Nördlich des Fabrikgeländes (heute im Werk am Ort der Halle H) standen weitere Baracken mit einer Kapazität von mindestens 2000 Zwangsarbeiter-Plätzen. Nach schriftlichen Unterlagen und Zeugenaussagen ist es gesichert, dass im Lager »Mittlere Weiden« sowjetische Kriegsgefangene, französische, russische und tschechische zivile Zwangsarbeiter und italienische Militärinternierte, später zivile Zwangsarbeiter, leben mussten. Verantwortlich für die Unterbringung und Verpflegung war die Firma, die das Lager unterhielt. Die Bewachung wurde vom Landeschützenbatallion gestellt. Ausführende Baufirma war die Firma Gebrüder Riedel Schweinfurt. Die verschleppten Menschen aus vielen Ländern mussten schwere Arbeit leisten. 12 Stunden am Tag, incl. samstags, manchmal sogar den halben Sonntag. Dazu kommen noch die Zeiten, um zur Fabrik oder ins Lager zu kommen.

Frühmorgens gibt man ihnen einen dünnen Kaffee, zweimal am Tag eine Suppe mit Gemüse und Kartoffeln, ähnlich einem Eintopf sowie zwei Scheiben Brot. Fleisch gibt es kaum. Giovanni Venier hat immer Hunger. Das Essen ist nach seinen Aussagen besser als bei den folgenden Arbeitsstellen. Es sieht aber aus wie in einem Sautrog, z.B. sind die Kartoffeln oft nicht gewaschen oder das Gemüse dreckig.

Die Wachen geben ihnen Zuckerrüben, die sie aus Hunger essen und von denen sie Bauchweh bekommen. An der Kantine hat er Gelegenheit, mit anderen die Mülltonnen durchzuwühlen, in denen er etwas Essbares, Kartoffelschalen und verschimmelte Äpfel, findet. Einmal wird er dabei erwischt, wie er einige Kartoffeln in der Tasche hat. Ein Deutscher will ihn deshalb schlagen, dabei kommt ihm ein anderer Deutscher zu Hilfe. Es passiert glücklicherweise nichts.

Es wird kein Lohn ausgezahlt – allerdings gibt es »Lagergeld«, das der Meister verteilt. Damit kann man nur im Lager bezahlen, aber es gibt kaum etwas dafür zu kaufen – vor allem keine Lebensmittel oder Obst. Bei der Ankunft werden ihnen die Schuhe abgenommen. Sie erhalten Holzschuhe, in denen er kaum laufen kann. Wechselwäsche gibt es nicht. Unter seinen Kleidern trägt er aus Zementsäcken mehrere Lagen Papier gegen die Kälte. Herr Venier ist es nicht erlaubt, sich frei zu bewegen und das Lager zu verlassen. Er wird immer mit Bewachung an den Arbeitsplatz gebracht.

Zur Kennzeichnung für jeden sichtbar hat er ein großes »G« auf dem Rücken. Er erzählt, dass es auch viele russische und polnische Zwangsarbeiter bei Kugelfischer gab, mit denen er aber kaum Kontakt hatte. Am 24 Februar 1944 erfolgt ein Luftangriff, bei dem er aus Angst in einen Bunker rennt. Als Fremdarbeiter erkannt, wird er mit Tritten wieder hinausgeworfen. Bei einem weiteren Angriff zieht er sich Zivilkleidung an, die er aufgetrieben hat, und gelangt unerkannt in den Oberndorfer Bunker. Er erinnert sich, dass Zwangsarbeiter auch später nicht in die Bunker eingelassen wurden. Körperliche Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Man wird wegen Kleinigkeiten geschlagen, z. B. wenn man Widerspruch wagt. Gelegentlich dürfen sie unter Bewachung in die Kirche, aber eine Beichte wird nicht zugelassen.

lm März 1944 wird er an das Baugeschäft Peter Paul Alt in Kitzingen weitervermittelt, wo er als Maurer arbeitet. Für Alt arbeitet er im Werk von Fichtel & Sachs, unter anderem betoniert er Fundamente für die Baracken des Zwangsarbeiterlagers »Obere Weiden« (heute Gebiet der ZF-Trading).

Das Essen für die Bauarbeiter wird in der Kantine bei Fichtel & Sachs ausgegeben. Sie sitzen gerade beim Essen, als die Sirenen ertönen. Alle deutschen Beschäftigen laufen davon, um sich in die Schutzräume zu begeben. Sein Hunger ist so groß, dass er sich sagt: »Wenn ich schon getroffen werde, dann wenigstens mit vollem Bauch« und isst sich erst einmal von dem stehengebliebenen Essen satt.

Gegen Ende des Krieges muss er für die Firma Alt Schützenlöcher für Panzerfaust-Schützen in den Haßbergen betonieren. Aus Mangel an Schuhwerk wickelt er sich Lappen um die Füße und verliert aufgrund der schlechten Ernährung immer mehr an Kraft. Untergebracht ist er in Lauter, wo er auch das Ende des Krieges erlebt. Gelegentlich erhält er Pakete von seiner Familie in Italien über das Rote Kreuz. Briefe und Karten, die er schreibt, werden überwacht und zensiert. Viele seiner Kameraden erkranken an Tuberkolose, an der einige nach dem Krieg sterben.

Giovanni Venier arbeitet nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs im Schweinfurter Krankenhaus und einige Jahre bei den Amerikanern. Er lernt im Juli 1945 seine Frau kennen, die er am Ende des Jahres heiratet. Er bleibt in Schweinfurt, wechselt in seinen gelernten Beruf und ist ab 1953 bis zu seinem 75. Lebensjahr als selbstständiger Fliesenleger tätig. Am 8 April 2008 stirbt Giovanni Venier.

Klaus Hofmann, veröffentlicht in »Schweinfurter Mainleite«, Heft 11, Juni 2008