Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

Eine verlorene Kindheit

Versteckt, überlebt in letzter Sekunde und viel Glück gehabt. Von den 18.000 Juden in Borysław überlebten nur etwa 200 Personen. Einer von ihnen ist Jozeph Lipmann.

Józef Lipman, mit seiner Mutter und Tanten im Jahr 1936

Geboren wurde ich 1931 als Kind des Bauingenieurs und Sägewerkbesitzers Abraham Lipman und seiner Frau Etka, geb. Gottlieb, in Boryslaw, Galizien. Deutschland und Russland waren gierig auf Boryslaw als dem Zentrum der polnischen Erdölindustrie.

Die Russen, die 1939 unser Gebiet besetzt hatten, traf der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 21.06.1941 wie ein Blitz! Kurz nach dem Einmarsch erlaubten die deutschen Behörden ukrainischen Nationalisten das erste Judenpogrom als Rache für ein Massaker des abziehenden russischen Geheimdienstes NKWD an 45 Gefangenen. Es wurden etwa 240 jüdische Männer und Frauen erschlagen und erschossen.

Noch im Juli 1941 haben die Deutschen selbst zwei „Aktionen“ durchgeführt. Dabei kamen etwa 1.500 Kinder, Frauen und Alte ums Leben. Sie wurden am Stadt­rand neben dem Schlachthof erschossen.

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Jozef Lipmann als Kind zusammen mit seiner Cousine im Jahr 1936

Aus zwei armen Stadtteilen wurde ein „Judenviertel“ geschaffen, ohne Kanal, Strom und Gas. Noch durfte man aus dem Judenviertel heraus, doch viele Geschäfte waren für Juden verboten. An einem Morgen gegen 5 Uhr hörten wir Schreie, Weinen und Kommandos: los, schnell, dalli-dalli, verfluchter Jude! Für alle Fälle flohen wir in das Versteck, das Vater sofort nach dem Einzug in dem Judenviertel gebaut hatte. Diese 4. Aktion dauerte eine ganze Woche. Wir waren die ganze Zeit in dem Versteck, ohne Essen und Trinken. Am schlimmsten war der Durst. Ich habe ein Taschentuch gekaut, später habe ich es gelutscht. Nach etwa sieben Tagen herrschte absolute Stille.

Auf der Straße sah man einen Schlagbaum mit einem Wachhaus. Es war ein Ghetto entstanden. Wir wohnten in zwei Zimmerchen mit Küche, zusammen mit meinem Onkel - einem Zahnarzt -, seiner Frau und dem sechsjährigen Sohn. Im Herbst und Winter, bei Regen und Frost von -15 bis -25 Grad, fehlten Lebensmittel und Brennmaterial fast völlig. Tuberkulose, Fleckfieber und Hungertod gingen um. An Gebäuden, in denen es Typhuskranke gab, hing ein rotes Warnschild mit der Aufschrift „Fleckfieber”. Die Totengräber zogen mehrmals am Tag die Leichenwagen durch unsere Straße.

Häufig gab es Razzien. Die gefassten Juden wurden im ehemaligen Kino Colosseum zusammengetrieben, bis die vorgesehene Zahl zusammen war. Dann wurde die ganze Gruppe in das Vernichtungslager Bełżec oder zur Massener­schießung in die Branicki-Wälder gebracht.

Als erster aus der Familie wurde ein Onkel ermordet, der im Ersten Weltkrieg beim deutschen Militär gedient hatte. Sein „Eisernes Kreuz“ warfen sie auf den Boden: durch die Juden hätten sie den Ersten Weltkrieg verloren. Er starb in der Nähe des Schlachthofs. Danach kamen Tante Eścia mit ihren beiden Töchtern ums Leben, dann meine Oma Rebeka und Tante Lusia mit ihrem Sohn Tusiek. So wurde die ganze enge Familie meiner Mutter, die Familie der Gottliebs, ausgelöscht. Auch in der Familie meines Vaters wurden viele in den zahlreichen Aktionen ermordet.

Direkt nach dem Einmarsch der Deutschen musste Vater in dem Sägewerk arbeiten, das ihm vor dem Krieg gehört hatte. Direktor des Sägewerks wurde ein Herr Felsmann, aber in der Praxis hat mein Vater als Schnittplatzmeister die ganze Produktion geleitet. Der Direktor ließ dem Vater viel freien Raum. Vater hat viele Juden beschäftigt, auch mich, und so musste ich nachts nicht ins Ghetto zurückkehren, wo ständig Jagd auf Kinder, Frauen, Kranke und Alte gemacht wurde. Vater hat sich beim Direktor dafür mit teuren Gemälden bedankt. Ich habe in der Tischlerei auf einem Lager aus Sägespänen und Sägemehl in einer großen Kiste geschlafen. Nach einem Jahr wurde Felsmann zum Militär eingezogen. weil er zu viele Juden beschäftigt hätte.

Der nächste Direktor des Sägewerks war ein Bayer, der einen Teil der jüdischen Arbeiter an die Gestapo übergab und dabei ein ruhiges Gewissen hatte. Nach ihm wurde ein armamputierter Hauptmann Direktor. Ich habe das Sägewerk für alle Fälle verlassen. Wenn jemand an unsere Tür im Ghetto klopfte, versteckten Mutter und ich uns sofort. Schließlich schlug Vaters Schwager, ein Zahnarzt, vor, dass wir uns bei ihm im Keller verstecken. Das war ein recht sicherer Ort, da dort ständig deutsche Patienten waren. Gegen morgen begann eine neue Aktion. 13 Personen versteckten sich in dem kleinen, fensterlosen und dunklen Keller. Bei der Rückkehr nach Hause nach dieser Aktion trafen wir keine Menschenseele. Ringsherum war nur das Krachen offener Türen und Fenster und das Splittern der Glasscheiben zu hören.

Die Männer, die wie mein Vater als „Rüstungsarbeiter“ eingestuft waren, wurden jetzt in einem „Arbeitslager für Juden” kaserniert. Die Menschen im Ghetto waren vogelfrei. Deshalb blieb ich bei Vater im Lager. Mutter fand bei unseren früheren Nachbarn , einer ukrainischen Familie, Unterschlupf

Im Juni 1943 wurde das Ghetto endgültig aufgelöst. Vater brachte mich heim­lich zu Mutter. Unsere Verstecke waren der Dachboden des Stalls und ein kleiner Rübenkeller im Boden. Der Keller war so flach und klein, dass man auf dem Bauch oder auf dem Rücken hineinkriechen und in dieser Haltung ver­harren musste, bis morgens um 5 die Bäuerin kam, um die Kühe zu melken. Sie gab uns etwas zu essen, wir konnten Gesicht und Hände waschen und zurück ging es in den kleinen Keller. Im Winter waren wir im Keller, weil es dort wärmer war, und im Sommer auf dem Dachboden. Dort beobachtete ich die Vögel, die auf das Dach geflogen kamen. Ich träumte davon, auch wegfliegen zu können. Nach 7 Monaten wurden unweit unseres Verstecks Juden gefasst. Wir haben dann in einem Heuschober auf dem Feld Schutz gesucht, weil wir dort ohne Wissen unserer Wohltäter selbst Schutz gesucht haben könnten.

Wenn es im Lager relativ ruhig war, nahm Vater mich mit ins Lager. Auf dem Lagergelände war eine Produktion für Schaufeln, deren Leiter mir Arbeit beim Schärfen der Schaufeln gab. Das Lager war in einer ehemaligen Militärkaserne, es waren 400 - 600 Personen untergebracht. Alle Gebäude und Räume sowie die Pferdeställe waren belegt. Wir wohnten in einem riesigen Pferdestall mit ca. 40 Doppelpritschen. Im Lager herrschte eine Wanzen- und Läuseplage.

Im Sommer 1943 belauschte mein Vater ein Gespräch des Sägewerkdirektors  mit der Gestapo, dass er ihnen alle Juden übergeben wolle. Vater sagte dem Direktor, dass er wieder im Baugewerbe arbeiten wolle. Der Direktor versetzte meinem Vater einen mächtigen Fußtritt in den Schritt und brüllte, dass er ihn der Polizei übergebe. Vater lief weg und versteckte sich eine Woche lang bei seinem Schwager. Ab August 1943 nahm mein Vater eine Arbeit bei der Karpaten-Erdöl-AG auf, deren kaufmännischer Leiter Berthold Beitz viele Juden gerettet hat.

Anfang 1944 kamen Gestapo und SS häufig ins Lager und immer wieder verschwanden Arbeiter spurlos. Im März 1944 flüchteten wir aus dem Lager. Spät in der Nacht betraten wir das Haus einer ukrainischen Familie, die uns gegen Geld versteckte. Vater ging von Zeit zu Zeit raus - angeblich um Geld zu holen.

Mitte Juli kam unsere Hausherrin am hellichten Tag in den Schuppen gerannt: "Lauft weg, die Deutschen kommen". Fast nackt und geblendet vom Sonnenlicht liefen wir weg. In der Nacht gab uns die Hausbesitzerin einen Sack mit unseren Sachen heraus. Bleiben durften wir nicht. Von unserem Geld hat sie ein Stück Feld und zwei Kühe gekauft und die Hochzeit ihres Sohnes ausgerichtet. Sie hatte sich ihren Wunsch erfüllt und uns nebenbei das Leben gerettet.

Noch in der gleichen Nacht flüchteten wir zu einem tiefen Hohlweg, etwa 3 km von den nächsten Gebäuden entfernt. Nach zwei, drei Wochen hörten wir in der Ferne ein eigenartiges Grollen. Die Front kam näher. Mehrfach sahen wir  deutsche Soldaten oberhalb der Schlucht vorbeigehen und hörten Schüsse fallen.  Nach zwei Tagen Stille schlichen wir im Dunkeln zurück. Schließlich traute sich Mutter zur Nachbarin. Nach einer guten Weile rief sie laut, die Sowjets wären schon seit zwei Tagen da! Noch am gleichen Abend kehrten wir in unser Haus zurück. Das Erdgeschoss war bereits belegt, nur die erste Etage war frei und völlig leer. Wir waren wieder in unserem Haus und am Leben. Noch konnten wir es nicht glauben. Der Albtraum hatte drei Jahre und zwei Monate gedauert. Als ich in den nächsten Tagen am Haus der Großmutter, an dem des Onkels und der Tante vorbei ging, fühlte ich einen Stich direkt ins Herz. Von 18.000 Juden, die vor dem Krieg in Borysław lebten, hatten etwa 200 Personen überlebt.