Wolfgang wird 70
Vorwärts

Übersicht

Icon   Zum 70. Geburtstag von Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse: Glänzender Rhetoriker

Susanne Dohrn • Mon Oct 21 00:00:00 CEST 2013

Engagierter Querdenker und glänzender Rhetoriker. Wolfgang Thierse wird am 22. Oktober 70 Jahre alt.
Engagierter Querdenker und glänzender Rhetoriker. Wolfgang Thierse wird am 22. Oktober 70 Jahre alt.

Mit 70 sei ein guter Zeitpunkt aufzuhören, hat Wolfgang Thierse vergangenes Jahr beschlossen und nicht wieder für den Bundestag kandidiert. Am Dienstag wird der engagierte Querdenker 70.

„Ostdeutsches Urgestein“ wird er genannt. Das wird fehlen im Bundestag. Aber Wolfgang Thierse war es wichtig „selbstbestimmt aufzuhören“, als er nach 23 Jahren beschloss, sich nicht wieder in seinem Wahlkreis Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee aufstellen zu lassen. Seine geschliffenen Formulierungen, seine nachdenkliche Art, sein Eintreten für die Interessen Ostdeutschlands sind seine Markenzeichen.

Gespaltene Existenz

Zum Politik machen kam er mit dem Fall der Mauer. Ein politischer Mensch war er schon vorher, familiär bedingt. Er wuchs als Sohn eines Rechtsanwalts in Eisfeld in Thüringen auf. Wenn der Vater Nachrichten hörte, vor allem die des RIAS, des Rundfunks im Amerikanischen Sektor, musste die Familie Thierse still zuhören, um später über das Gehörte zu sprechen. Sein Vater, ein begabter Redner, war in der Weimarer Republik Mitglied der katholischen Zentrumspartei gewesen. Vielleicht habe er von seinem Vater die rhetorische Begabung geerbt, sagt Wolfgang Thierse.

Westsender hören war in der DDR nicht gern gesehen, weshalb man mit Außenstehenden nicht darüber sprach. Das habe zu einer „gespaltenen Existenz“ geführt, sagte Thierse einmal in ein einem Interview. Hier das öffentliche Leben, dort das private, diese Trennung traf auf die Familie noch aus einem anderen Grund zu. Wolfgang Thierse ist 1943 im schlesischen Breslau geboren, von wo die Familie vertrieben wurde. „Ich bin mit der trauernden Erinnerung an die verlorene Heimat aufgewachsen“, schrieb er einmal in einem Essay für die „Welt“. Aber die „trauernde Erinnerung“ habe nur im engsten Kreis der Familie oder der Kirchengemeinde Platz gefunden. „Öffentlich durfte sie nicht werden, denn offiziell gab es uns Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR gar nicht.“

Falsche soziale Herkunft

Studieren durfte Wolfgang Thierse zunächst nicht, weil er nicht aus der Arbeiterklasse stammte. Also lernte er Schriftsetzer. Als er 1964 doch zum Studium an der Berliner Humboldt-Universität zugelassen wurde, wählte der die Fächer Germanistik und Kulturwissenschaft. Aus der Politik hielt er sich heraus und blieb parteilos.

Mit dem Mauerfall endete die politische Enthaltsamkeit. Thierse wurde Mitglied der in der DDR neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei und war einige Monate ihr Vorsitzender. Von da an ging alles sehr schnell. „Ich wurde quasi über Nacht in die Politik geworfen, musste in wenigen Wochen lernen, was es bedeutet, einem frei gewählten Parlament anzugehören“, so Thierse. Seine ersten Reden hielt er 1990 in der ersten und einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer. „Gehörig aufgeregt“ sei er damals gewesen, sagt Thierse.

Werbung für Berlin

Die Aufregung hat er schnell überwunden. 1991 warb er im Bundestag vehement für Berlin als Sitz von Regierung und Bundestag. Was heute selbstverständlich erscheint war damals höchst umstritten. Eine Entscheidung für Bonn sei eine „Beleidigung für die Berliner, sondern auch eine Erniedrigung der Bürger im Osten“, so Thierse damals.

Thierse setzte sich für das Holocaust-Mahnmal und den Entwurf von Peter Eisenman ein. Es werde einen „Terror der Einsamkeit“ entfalten, so Thierse 1999. „Ein Nebeneinanderherlaufen zwischen den Stelen gibt es nicht, es gibt keinen Eingang, keinen Ausgang, kein Zentrum. So widersprüchlich es klingen mag: Auf diese Weise wird es denkbar, dass sich bei dem Besucher ein Verständnis des Unvorstellbaren einstellt.“

Das richtige Wort zur richtigen Zeit

Da war er schon Bundestagspräsident, der erste Ostdeutsche in diesem Amt. 2002 wählten ihn die Abgeordneten noch einmal dazu, 2005 und 2009 zum Vizepräsidenten. Eine seiner längsten Sitzungen leitete er am 27. Juni 2013. Es war ein Abstimmungsmarathon, der erst um 0:52 Uhr endete. Danach verabschiedete Thierse sich mit den Worten: „Die Tagesordnung ist erschöpft, ich auch.“ Da ist es wieder, das richtige Wort zur richtigen Zeit, mit dem es mit „seiner glänzenden Rhetorik“  (Der Tagesspiegel) gelingt, einen Sachverhalt oder eine Stimmung auf den Punkt zu bringen.

Erschöpft ist Wolfgang Thierse noch lange nicht. „Ich freue mich auf das was kommt“, hat der „engagierte Querdenker“ (Berliner Zeitung) kürzlich gesagt. Das sind vermutlich nicht nur seine Bücher, für die er in der Vergangenheit viel zu wenig Zeit hatte.