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Nachrichten aus 
dem Wunderland

Nils Michaelis • Fri Oct 18 00:00:00 CEST 2013

Schwestern im Geiste: Mariam Abu Khaled (l.) und Milay Mer.
Schwestern im Geiste: Mariam Abu Khaled (l.) und Milay Mer. (Foto: Arsenal)

Für einen kurzen Moment triumphierte in Nahost wieder einmal die Gewalt: Doch der Dokumentarfilm „Art/Violence“ zeigt, wie der Geist des „Freedom Theatres“ in Dschenin auch nach der Ermordung seines Gründers fortlebt.

Eine der ersten Szenen dieses Dokumentarfilms zählt zugleich zu den bewegendsten. „Wenn ich mit meinen Freunden Theater spiele, kann ich kaum glauben, dass ich Israeli bin“, sagt Milay Mer. Dass die Zwölfjährige sich im palästinensischem „Freedom Theatre“  ausprobiert, ist untrennbar mit einem schweren Schicksalsschlag verbunden: 2011 wurde ihr Vater Juliano Mer-Khamis, vor jenem Theater, das er aufgebaut und jahrelang geleitet hat, erschossen. Berichte über den gewaltsamen Tod des israelischen Theatermachers, der einer jüdisch-arabisch-Familie entstammte und mit Kunst die Barrieren von Politik und Traditionen einreißen wollte, gingen um die Welt. Die Tat ist bis heute nicht aufgeklärt. Manche Quellen vermuten die Hintermänner bei der radikal-islamischen Hamas.


So erzählt „Art/Violence“ von einer Wunde, die sehr schwer heilt. Im Vordergrund steht die Frage, wie die palästinensischen Nachwuchsschauspieler, mit denen Mer-Khamis zusammengearbeitet hat, nach diesem Verlust weiterleben und -arbeiten. Dabei geht es weniger um deren Trauer als darum, wie sie im Geiste ihres Mentors Projekte fortführen oder anstoßen, ohne die Erinnerung an ihn wie eine Monstranz vor sich her zu tragen.

Selbstbestimmt durchs Leben

Kein Wunder, denn jungen Menschen, insbesondere Mädchen und Frauen zu ermöglichen und zu vermitteln, eigene Wege zu gehen, war der Kern von Mer-Khamis Schaffen. Und sei es, sie dazu zu ermutigen, in einem von Besatzung, Armut und Unterdrückung geprägten Umfeld ausgerechnet ihre Bühnen-Berufung auszuleben. Und zwar gegen alle (konservativen) Widerstände. Mit dieser Intention des „Freedom Theatres“, das zugleich die  erste  Theater- und Performanceschule in den Autonomiegebieten ist, machte sich Mer-Khami nicht nur Freunde. Dem Mord waren Drohungen und Brandanschläge vorangegangen.

Doch von Angst ist unter denen, die sein Werk fortsetzen, zumindest während der Gesprächssequenzen nichts zu spüren. Schock und Verlusterfahrung schimmern eher hinter den Bühnenperformances hervor, die clipartig zusammengeschnitten wurden. Wir sind mittendrin, wenn die jungen Leute Mer-Khamis letztes Regie-Projekt fortsetzen: eine grell-absurde Bühnenfassung des Kinderbuchs „Alice in Wunderland“, in der die Heldin nicht nur Armut und Unterdrückung entkommt, sondern auch zu sich selbst findet. Die Überzeichnung erscheint darin als probates Mittel, eine nicht minder absurde Realität aus Fanatismus und Aussichtslosigkeit zu reflektieren.

Träumen und handeln

Vor Mer-Khamis Tod trommelte das Ensemble Kinder von beiderseits der israelischen Sperranlagen für eine „Alice“-Aufführung in die Westbank. „Als ich Kinder aus Haifa, Lod und Hebron sah, fühlte ich mich wie im Wunderland“, sagt Mariam Abu Khaled, die Alices Widersacherin, die rote Königin, gibt und zugleich bei „Art/Violence“ für die Regie mitverantwortlich zeichnet. „Für einen Augenblick dachten wir, wir könnten uns von der Besatzung, den arabischen Diktatoren und dem Patriarchat befreien.“ Im quietschroten Kostüm und mit weißgetünchtem Teint sehen wir sie durch die armseligen Straßen von Dschenin stapfen oder die Menge bei einem Hip-Hop-Konzert anfeuern.

Träume erscheinen in diesem Film weniger als Visionen, die Hoffnung stiften, sondern als Aufforderung zum Handeln. Also zu versuchen, in den Köpfen der Menschen in den besetzten Gebieten jene Schritte denk- und fühlbar zu machen, die bislang weder die israelischen noch die palästinensischen Politiker gegangen sind.

In den Ausschnitten von Auftritten und Interviews wird deutlich, dass Khaled wie auch die anderen Beteiligten stets um eine nüchterne Lage der Dinge bemüht sind. Auch dann, wenn sie vor der Kamera von willkürlichen Verhaftungen durch israelische Soldaten und anderen Schikanen berichten, die der Theaterarbeit für Europäer kaum zu ermessende Bürden auferlegen. Jeden Moment wartet man darauf, dass dieser distanzierte Blick auf eigene Traumata gebrochen wird. Doch diese Erwartung wird selten erfüllt

Geweiteter Blick

Mit dieser, zumindest im ästhetischen Sinne, ungerührten Perspektive erweisen sich jene, die das „Freedom Theatre“ am Leben erhalten, als Mer-Khamis Geschwister im Geiste. Der sagte von sich, er sei „zu 100 Prozent Palästinenser und zu 100 hundert Prozent Jude“. In Dschenin habe es allerdings keinen Sinn, Hoffnung zu haben, solange Israel immer wieder Fakten schaffe.

Dass Mer-Khamis Tochter und das „Freedom Theatre“ nun einen seiner Träume wahr werden lassen, nämlich eine Verfilmung von „Antigone“, ist hingegen eines jener Hoffnungszeichen, die „Art/Violence“ durchziehen. Mit der recht freien Adaption der antiken Tragödie, so ist während einer Szene beim Dreh in Israel zu erfahren, soll ein Zeichen gegen den Patriarchalismus gesetzt werden. Es ist nicht zu übersehen: An jenem Strand von Jaffa weitet sich der Blick.


Info: Art/Violence (Palästinensergebiete/USA 2013), Regie: Udi Aloni, Batoul Taleb, Mariam Abu Khaled, mit Udi Aloni, Batoul Taleb, Mariam Abu Khaled, Milay Mer u.a., Sprachen: Arabisch, Englisch, Hebräisch (OmU), 75 Minuten. Ab sofort im Kino