Rundfunkdiskussion mit Martin Schulz und Heinrich August Winkler.
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Was Europa im Innersten zusammenhält

Vanessa Jasmin Lemke • Fri Oct 18 00:00:00 CEST 2013

Martin Schulz und Heinrich August Winkler.
Martin Schulz und Heinrich August Winkler diskutieren in der Europäischen Akademie Berlin für das rbb-Inforadio. (Foto: Hendrik Rauch/vorwärts)

Was ist die Begründung für Europa im 21. Jahrhundert? Über diese und viele weitere Fragen diskutieren der Präsident des Europäischen Parlamentes Martin Schulz und der Historiker Heinrich August Winkler in einer Rundfunkdiskussion des rbb-Inforadios.

Als Präsident des Europäischen Parlaments setzt sich  Martin Schulz (SPD) dafür ein, dass die Lust an einem gemeinsamen Europa wieder wächst und Missstände verbessert und Probleme gelöst werden. Mit dem Historiker Heinrich August Winkler und mehreren Jugendlichen diskutiert er das Thema “Braucht Europa (k)ein Wir-Gefühl?!“ in der Radiosendung „Das Forum mit Sabine Porn“ im rbb-Inforadio.

Europa hat sich im 20. Jahrhundert von einem Kontinent der Kriege zu einem Kontinent des Friedens entwickelt. Seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957, aus der sich die Europäische Gemeinschaft und letztlich die Europäische Union entwickelte, sind 28 Staaten dem Verbund beigetreten, der heute der größte Binnenmarkt weltweit ist. 17 Länder  gehören auch der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion an. 2012 bekam die EU den Friedensnobelpreis „für über sechs Jahrzehnte Beitrag zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa“. Doch im Zuge der Eurokrise haben viele diese Errungenschaften vergessen und stellen die Friedens- und Wirtschaftsunion in Europa in Frage.

Die Macht, die niemand kennt

Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes YouGov des Think Tanks Open Europe zufolge vertrauen weniger als 35 Prozent der befragten Deutschen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission. Die Hälfte befürwortet, dass Deutschland mehr Entscheidungsfreiheit von der EU-Ebene auf nationale und regionale Ebenen zurückholen sollte. Warum sind nicht nur viele Deutsche, sondern auch viele andere Bewohner der EU unzufrieden mit ihr?

Martin Schulz betrachtet dieses Problem auf zwei Ebenen. Im Zuge der Eurokrise seien die Menschen und ihre Belange in den Hintergrund gerückt. Banken wurden finanziell unterstützt, vor ihrem Untergang bewahrt. „Die Menschen haben das Gefühl, dass ihr Schicksal nicht im Mittelpunkt des europäischen Handelns ist, dass sie zu klein sind, um relevant zu sein“, sagt Schulz. Man rede nur noch in gigantischen Summen. „Die Durchökonomisierung Europas höhlt die EU aus. Die Menschen wollen das nicht mehr.“ Die EU sei zu einer anonymen Macht geworden, die niemand kenne, die aber wie eine Regierung über den Regierungen wirke. Europa sei die reichste Region der Welt, doch viele könnten den Lebensstandard nicht mehr bezahlen. Die Versprechen von Wachstum und Wohlstand seien für viele nicht umgesetzt.

Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit der Menschen mit den europäischen Institutionen sei, dass vor allem für westliche Staaten Grundwerte wie Gleichberechtigung, die Abschaffung der Folter und Todesstrafe, die Meinungs- und Pressefreiheit selbstverständlich seien. „Nur gemeinsam können wir unsere Werte verteidigen und über sie reden. Wir müssen unsere Stärke nutzen und sie exportieren“, argumentiert Schulz. Man müsse sich daran erinnern, was bei den Schließungen der europäischen Abkommen wichtig gewesen sei, um den Mehrwert Europas zu erkennen. In vielen anderen Ländern wird tagtäglich für Grundrechte wie Friedenssicherung und Gleichberechtigung gekämpft.

Die Schwierigkeiten wurden unterschätzt

Der Historiker Heinrich August Winkler kritisiert die Konstruktionsfehler der EU. Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen einzelner Länder und nationale, regionale und lokale Besonderheiten seien nicht genug beachtet worden. Diese Fehler müssten behoben werden. Die Diskussionen über die EU-Beitritte weiterer Länder seien verständlich, weil viele nicht vollständig den Kopenhagener Kriterien entsprächen. Die Kopenhagener Kriterien waren als Antwort auf das selbstzerstörerische Potenzial der ehemaligen kriegsführenden Staaten gedacht. Generell sei die „Idee Europa“ die Antwort auf den Nationalismus, sollte die Überwölbung der Staaten aber vermeiden.  Besonders in diesen Tagen, in denen vor allem die Rechten Bewegungen in Ungarn die EU bedrohten, seien Legitimationsprozesse nötig, damit die Menschen wieder hinter der EU stünden. „Europa war zu lange ein Elite-Projekt“, kritisiert Winkler.

Die Zukunft Europas

Über 500 Millionen Bewohner zählt die Europäische Union. Sie ist ein Experiment ohne Vorbild und steckt in einer Sinnkrise, wie sich aus der Diskussion ergibt. „Nur ein geeintes Europa kann sich global behaupten und gemeinsame Interessen transatlantisch vertreten“, sagt Schulz. Dafür müsse man aber einen Schritt zurück machen und den Eindruck vermeiden, dass Brüssel die Menschen regieren und bevormunden möchte. „Wir sind auf hoher See. Wir wissen nicht, in welchen Hafen wir einlaufen werden, aber wir müssen das Schiff stärken.“

Die vollständige Sendung „Braucht Europa (k)ein Wir-Gefühl?!“ mit Martin Schulz und Heinrich August Winkler wird am Sonntag, 20. Oktober um 11:05 Uhr und 21:05 Uhr im Rahmen der Sendereihe „Das Forum mit Sabine Porn“ im rbb-Inforadio ausgestrahlt. Die Onlinefassung steht ein Jahr zum Nachhören auf der Website zur Verfügung.