Filmtipp: Aus dem Leben eines Schrottsammlers.
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Entsorgte Grundrechte

Nils Michaelis • Fri Oct 11 00:00:00 CEST 2013

Lebens- und Schicksalsgemeinschaft: Senada Alimanovic und Nazif Mujic mit ihrer Tochter.
Lebens- und Schicksalsgemeinschaft: Senada Alimanovic und Nazif Mujic mit ihrer Tochter. (Foto: Drei Freunde Filmverleih)

Selbst als Notfall im Krankenhaus nur zweite Wahl: In unaufgeregter, aber aufwühlender Direktheit erzählt „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ davon, wie Menschen am Rande der Gesellschaft sich selbst überlassen werden.

Irgendwann muss diesem verschneiten Dorf im Osten Bosniens die Puste ausgegangen sein. Wer kann schon sagen, ob die vielen halbfertigen Häuser nie weitergebaut worden sind oder noch die Spuren des Krieges in den Neunzigern tragen? Dazwischen stehen Autos deutscher Bauart herum, die hierzulande letztmalig Anfang der 90er-Jahre gesichtet wurden. In dieser zwischen gestern und morgen verharrenden Welt verkörpern sie etwas Hoffnung: Mit ihnen fahren die Menschen in die nächste Stadt, nach Tuzla, wo sich vielleicht ein Job finden lässt. Geben sie ihren Geist auf, werden sie ausgeschlachtet.

Einer dieser Bewohner, die mit Hämmern, Äxten und bloßen Händen Autos zerlegen, um sie beim nächsten Schrotthändler für ein paar bosnische Mark abzuliefern, ist Nazif Mujic. Mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern führt er ein karges, aber behütetes und ausgefülltes Leben. Dafür sorgt allein die Tatsache, dass zeitraubende Tätigkeiten die Routine prägen, die viele nur noch aus Märchenbüchern kennen: Bäume fällen, Wäsche waschen oder einen Teigkranz flechten. Der bosnische Regisseur Danis Tanowski, der für sein Kriegsdrama „No Man's Land“  einen Oscar gewann und auch in Cannes reüssierte, folgt diesem Alltag mit ungerührten, aber eindringlichen Bildern. Er zeigt Menschen, die sich auf ihre kleine Gemeinschaft verlassen, weil sie von der Außenwelt wenig zu erwarten haben. Als Roma gelten sie in der multiethnischen Föderation als Bürger unterster Klasse. Immer wieder kritisieren  Menschenrechtsorganisationen wie  Human Rights Watch die Benachteiligung der Roma in Bosnien – sei es auf dem ohnehin dürftigen Arbeitsmarkt oder seitens der Behörden. Die Menschen in  jenem Dorf scheinen sich damit trotzig abgefunden zu haben.Beseelt sind sie von einem Überlebensmut ohne Illusionen

Behandlung nur gegen bar

Als Mujics Frau eine Fehlgeburt erleidet, stößt das Arrangement an seine Grenzen. Wird der tote Fötus nicht entfernt, droht auch Senada Alimanovic zu sterben. Doch die Krankenhausärzte in Tuzla verweigern die Ausschabung. Schließlich, so die höflich vorgetragene Begründung, könne Alimanovic weder eine Krankenversicherungskarte vorzeigen noch 980 Mark Gebühren auf den Tisch legen. Trotz ihres Notfalls wird sie entgegen allen Vorschriften immer wieder nach Hause geschickt. Selbst die fürsorglichen Helferinnen vom Roma-Verband, an den sich Mujic wendet, rennen vergeblich von Behörde zu Behörde, um eine Behandlung zu ermöglichen. Mit dem Mut der Verzweiflung zieht der Familienvater mit einem Kinderwagen-Gestell durch die Wälder, um noch mehr Schrott zu sammeln. Schlussendlich bleibt ihm, der sich so geradlinig durchs Leben schlägt, als letzter Ausweg, seine Frau zu retten, nur der Betrug.

Am Anfang dieses Films, der in nur neun Tagen und mit einem Budget von 17.000 Euro abgedreht wurde, stand die Wut des Regisseurs. Aus  der Zeitung hatte Tanovic von jener Geschichte erfahren, die sich tatsächlich vor gut zwei Jahren so zugetragen hat. Ihm selbst erschien es im Nachhinein wie ein Wunder, dass er die tatsächlichen Protagonisten dafür gewinnen konnte, die wahrscheinlich größte Krise ihres Lebens vor der Kamera noch einmal zu durchleben: nicht als Interviewpartner, sondern als Laiendarsteller, die sich selbst spielen. Das gilt auch für das Gros der Verwandten, Freunde und Ärzte.

Manch einer mag sich fragen: Kann so etwas gut gehen? Geht nicht die Distanz verloren? Mitnichten! Freilich ist das Ergebnis dieser ungewöhnlichen Zusammenarbeit eine einzige Anklage. Doch Tanovic trifft genau den richtigen, weil behutsamen Ton, um die Missstände und Nöte aus sich selbst heraus sprechen zu lassen. Die Erzählung, die wir als gefühlte Augenzeugen eines unwürdigen Dramas verfolgen, fesselt von der ersten bis zur letzten Minute. Nicht etwa durch dramatische Auftritte oder gefühlige Bildeffekte, sondern durch eine schon ob der kompakten Spielzeit von 77 Minuten verdichtete Unmittelbarkeit. Sie vermittelt einem den Eindruck, live dabei zu sein, wenn Alimanovic immer schwächer und ihr Mann immer getriebener wird – wenngleich die Eheleute ihren stoischen Habitus so gut wie nie ablegen. „Ich glaube, im Krieg ging es mir besser“, bemerkt Mujic lapidar, nachdem sein Opel Kadett sein Leben ausgehaucht hat. Die von Krämpfen geplagte Gattin scheint sich bereits in ihr Schicksal ergeben zu haben, wenn sie schweigend und gesenkten Blickes der Tür zum OP-Raum gewahr wird, die ihr ein ums andere Mal vor der Nase zugeschoben wird oder wenn sie sich mit all ihrer Masse auf dem Sofa ausbreitet.

Auch in jenen Momenten, wo alles verloren scheint, weicht der gelernte Kriegsberichterstatter Tanovic, der zwei Jahre lang mit der Kamera an der Front im belagerten Sarajevo unterwegs war, keine Nuance von seiner quasi-dokumentarischen Erzählweise ab. All das hat auch die Juroren der diesjährigen Berlinale berührt, die den Film mit dem Großen Preis der Jury und Nazif Mujic mit dem Silbernen Bären als besten Darsteller auszeichneten. Damit würdigten sie auch ein künstlerisches Engagement, welches das Große im Kleinen einfängt und nicht nur der bosnischen Gesellschaft den Spiegel vorhält.

Aus dem Leben eines Schrottsammlers (An Episode In The Life Of An Iron Picker, Bosnien-Herzegowina/ Frankreich/Slowenien 2013), ein Film von Danis Tanovic, mit Senada Alimanovic, Nazif Mujic, Sandra Mujic und Semsa Mujic, OmU, 77 Minuten.

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