Filmstill aus Talea

Die Kraft des Stecklings

Manche Filme brennen sich ins Gedächtnis ein und lassen einen nicht mehr los. Was Barbara Albert 1999 mit „Nordrand“ gelungen ist, schafft Katharina Mückstein jetzt mit ihrem ersten Spielfilm „Talea“. Ein grandioses Debüt über zwei Außenseiter auf der Suche nach Halt und Identität.

Sie werde immer wieder gefragt, ob es im Fahrwasser von Michael Haneke und Ulrich Seidl denn überhaupt junge Talente in Österreich gebe, die da nachkommen, erzählt Diagonale-Chefin Barbara Pichler. Und sie habe darauf nur eine Antwort: „Ja.“ Mit der Wiener Regisseurin Katharina Mückstein tritt ein solches Talent auf den Plan. Ihr erster Langfilm „Talea“ erzählt die Geschichte der 14-jährigen Jasmin, die in einer Pflegefamilie lebt und sich nach ihrer leiblichen Mutter sehnt.

Aufbruch ins Ungewisse

Jasmin gehört nirgends dazu. Im Schwimmbad sitzt sie abseits am Beckenrand, während sich die gleichaltrigen Mädchen im Wasser tummeln. In ihrer Pflegefamilie hat sie neben der anderen, hübscheren, leiblichen Tochter keine Chance, und ihre richtige Mutter war bisher nicht greifbar. Letzteres will das Mädchen jetzt ändern. Sie besucht ihre Mutter Eva, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, bei der Arbeit. Immer wieder wird sie abgewiesen, jedes Mal kommt sie wieder.

Als ihre Pflegefamilie in den Sommerurlaub fahren will, reißt Jasmin aus, fährt zu ihrer Mutter und überredet sie zu einem gemeinsamen Wochenende auf dem Land. Eva, die sich selber erst in ihrem neuen Leben zurechtfinden muss, ist durch diese unerwartete und unerwünschte Verantwortung verunsichert und überfordert. Schließlich gibt sie nach, und die beiden fahren aufs Land in Evas Heimatdorf.

Filmstill aus Talea

La Banda

Jasmin wartet immer wieder geduldig auf ihre Mutter

Brüchige Bindung

Beharrlich kämpft Jasmin um die Liebe und Anerkennung ihrer Mutter und schafft es langsam, dass eine zarte Bindung entsteht. Das gemeinsame Schlafen im Doppelbett, Spaziergänge durch Himbeerbüsche, die erste gemeinsame Zigarette, ausgelassenes Tanzen in der Dorfdisco - lauter Versuche, die verlorenen Jahre hinter sich zu lassen.

Auszeichnung

„Talea“ hat nach der Uraufführung beim Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken den Preis der Saarländischen Ministerpräsidentin 2013 gewonnen.

Jasmin sucht bei ihrer Mutter Schutz und Geborgenheit, jemanden, der nur ihr gehört. Als sich ein Mann in die wachsende Mutter-Tochter-Beziehung drängt, ist Jasmin hin- und hergerissen zwischen Zorn und Rückzug. Es kommt zu einem Streit, der beiden zeigt, wohin sie gehören und wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Bilder statt Worte

Regisseurin Mückstein nimmt sich Zeit. In endlosen Einstellungen sieht man Jasmin auf ihrem gelben Rad in die ersehnte Freiheit fahren, unterlegt von den sanften Tönen der österreichischen Sängerin Tirana alias Veronika Eberhart, die unter die Haut gehen. Mückstein gibt ihren Figuren den Raum, sich zu entwickeln, ohne dabei langatmig zu werden. Es macht Freude, den beiden bei ihrer Annäherung zuzuschauen, wie sie lachen und sich gegenseitig Halt geben, bis im nächsten Moment wieder alles in Frage gestellt wird.

Filmstill aus Talea

La Banda

Ausnahmetalent Sophie Stockinger als Jasmin und Nina Proll als Eva (in ihrer bisher vielleicht besten Rolle)

Bilder von großer Symbolkraft zeigen eindringlich, was mit Worten schwer auszudrücken ist. Das Innenleben der Hauptfiguren spiegelt sich in kleinen Gesten und Blicken wider, die keiner Dialoge bedürfen. Wenn Eva ihre schlafende Tochter zum ersten Mal liebevoll zudeckt, ist das in diesem Kontext wie ein Bekenntnis.

„Wer bin ich?“

Dieser Film will in keine Schublade passen, sondern rüttelt an menschlichen Urängsten und Sehnsüchten. Woher kommen wir, was ist Familie und was bringt die Suche nach unserer Identität zum Vorschein? Regisseurin Mückstein meint dazu: „Wir leben in einer Zeit, in der sich die Kategorien, die unsere Identität prägen, stark verändern. Staatsgrenzen fallen, traditionelle Familienkonstellationen brechen auf, Geschlechterrollen werden hinterfragt. Wir sind freier denn je in der Gestaltung unseres Selbst, doch die Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘ ist für viele Menschen kompliziert.“

Ihr Langfilmdebüt „Talea“ inszenierte Mückstein (geb. 1982 in Wien) mit einem Gespür für das richtige Bild im richtigen Moment, das andere Regisseure ihr Leben lang nicht erreichen. Von 2004 bis 2010 studierte sie Filmregie an der Filmakademie Wien, wo ihr Michael Haneke das nötige Handwerkszeug mitgab.

Filmhinweis

„Talea“ läuft auf der Diagonale am 13. März um 20.30 Uhr im Schubertkino und am 15. März um 11.00 Uhr im KIZ Royal.

Heranwachsen einer Pflanze

„Talea“ ist Italienisch und heißt Steckling - der Teil einer Pflanze, den man abbrechen und in die Erde stecken kann. Er wird Wurzeln schlagen und ein eigenständiges Gewächs sein. Was Katharina Mückstein als Titel für ihren Film gewählt hat, kann auch auf die Regisseurin selbst und ihr Talent umgelegt werden. Hier wächst eine starke junge Pflanze im Filmland Österreich heran. Möge sie weiter wachsen und gedeihen und noch viele Früchte tragen.

Sonia Neufeld, ORF.at

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