Ferdinand v. Richthofen

Ein Forschungsreisender aus Schlesien sieht die Landschaft mit anderen Augen. Ferdinand von Richthofen erfasst nicht nur die Oberfläche, sondern auch die innere Struktur. Seine Arbeiten über China machen ihn zum Vater der modernen Länderkunde.

Der Junge liebt es, durch die Natur zu streifen. Kaum sind die Ferien angebrochen, ist Ferdinand von Richthofen weg. Wandert irgendwo durch die Sudetenberge. Füllt den Rucksack mit Steinen, die ihm aufgefallen sind. Sieht sich Ackerböden und die Ernten an. Lässt seine Augen weit über die Landschaftsformen schweifen. Als Gymnasiast zieht es Ferdinand von Richthofen über die Alpen bis zur Adria. Die Reise nimmt ihn so gefangen, dass er verspätet zum Schuljahrsbeginn erscheint.

Ferdinand von Richthofen ist Spross einer adeligen Familie. Er verlebt seine Jugend in dem Dorf Carlsruhe nördlich von Oppeln. Nach dem Abitur fühlt er sich in Schlesien immer mehr beengt. Nach vier Jahren Studium flüchtet Richthofen 1852 von der Universität Breslau an die Universität Berlin. Dort findet er die Themen und die Menschen, die ihn interessieren. Er hört die Vorlesungen des Geologen Heinrich Ernst Beyrich, des Mineralogen Gustav Rose, des Geographen Carl Ritter. Aber auch Berlin ist nur ein kleiner Teil der Welt.
Der junge Doktor der Geologie drängt nach draußen. 1856 wird Ferdinand von Richthofen der Geologischen Reichsanstalt in Wien empfohlen. Im Dienst der Habsburger Monarchie fertigt er vier Jahre lang Studien über die Berge Tirols, des Vorarlbergs und Siebenbürgens. Richthofen sieht, das merken die Kollegen schon jetzt, die Welt mit anderen Augen als sie. Er bleibt nicht an der Oberfläche hängen, sondern dringt mit seinem Verstand in die Tiefen des Bodens ein.

Zu dieser Zeit hat Preußen, wie andere Mächte auch, Ambitionen im Fernen Osten. 1854 hat es der amerikanische Kommodore Matthew C. Perry geschafft, den ersten Handelsvertrag mit Japan abzuschließen, das sich bis dahin gegen den Rest der Welt abgeschottet hat. Nun will Berlin das Gleiche erreichen und sich dazu auch noch Siam und das Riesenreich China erschließen. Eine preußische Gesandtschaft unter Leitung von Friedrich Graf Eulenburg sticht 1860 in See. Richthofen gehört als Legationssekretär zu einer Gruppe von Forschern, die das Land erkunden wollen. In China, durch das eine Welle des Ausländerhasses rollt, haben sie aber keine Chance zu reisen. Stattdessen unternehmen sie – während Eulenburg mühsam verhandelt – eine Schiffstour über Formosa, die Philippinen und Celebes nach Java. Richthofen nutzt jede Gelegenheit, um ins Gelände zu gehen und geologische Untersuchungen anzustellen. Ende 1861 finden alle Delegationsmitglieder in Bangkok wieder zusammen und rüsten sich zur Heimreise. Doch Richthofen sondert sich ab und bleibt. «Ich hatte damals das Verlangen, irgendeine Aufgabe von größerer Tragweite auf dem asiatischen Kontinent zu lösen», schreibt er später über seine Motivation.

Alle Wege scheinen zunächst versperrt. Die Idee, von Kaschmir aus nach Zentralasien vorzudringen, wird durch den Aufstand des muslimischen Rebellen Jakub Beg zunichte gemacht. Der Plan, von der Amur Mündung aus ins sibirisch-mongolische Grenzland zu ziehen, scheitert daran, dass Richthofen in Hongkong das letzte Schiff nach Norden für dieses Jahr um ein paar Stunden verpasst. So landet er schließlich in Kalifornien, wo gerade der Goldrausch ausgebrochen ist. Sechs Jahre lang betreibt Ferdinand von Richthofen Feldstudien in der Sierra Nevada, klassifiziert vulkanisches Gestein, forscht über Goldvorkommen in geologischen Formationen. Aber im Grunde ist er, dem materieller Reichtum nichts bedeutet, in diesem Land fehl am Platz. Nur Gold und Geld haben die Leute im Kopf, das lässt einen «zu gar keiner höheren Regung kommen». In der Neujahrsnacht 1868 geht Richthofen mit dem amerikanischen Geologen Josiah D. Whitney der Reihe nach die Weltregionen durch, die sich für einen Wissenschaftler wie Richthofen anbieten. Sie stimmen beide darin überein, «dass China unter allen zivilisierten und ihren allgemeinen Verhältnissen bekannten Ländern das am wenigsten durchforschte» sei. Zwar haben die Chinesen selber und europäische Jesuiten schon eine Reihe von Karten über das Kaiserreich erstellt. Doch es sind eben nur „oberflächliche“ Werke; sie sagen nichts über die Bodenbeschaffenheit aus. So ist China für
Richthofen «im Sinn der jetzigen Ansprüche der Geographie » ein «unverstandenes, fast möchte man sagen, ein unbekanntes Land».

Ferdinand von Richthofen beginnt ein gigantisches Projekt. Von 1868 bis 1872 unternimmt er sieben Reisen durch 13 von 18 Provinzen eines Landes, dessen Sprache er nicht spricht, das von Fremdenfeindlichkeit wabert und von inneren Unruhen geschüttelt ist. Die ersten vier Reisen bestreitet er aus eigenen Mitteln, die folgenden mit Unterstützung der Handelskammer von Schanghai. Nach dem Massaker von Tientsin 1870 muss er für neun Monate nach Japan ausweichen. Doch immer sicherer wird Richthofen, der scharfe Beobachter, im Umgang mit Kulis (Trägern) und mit Mandarinen (Beamten). Mit dem Belgier Paul Splingaert hat er einen hervorragenden Dolmetscher. Der hilft ihm zum Beispiel, die üblichen Wirtshäuser – «meist schmutzige Ställe» – zu meiden und stattdessen Priestertempel in eine gemütliche Übernachtungsstätte zu verwandeln. «China fehlen all jene Reize, welche dem Reisenden die Tage in Japan erheitern», schreibt Richthofen. «Die Stimmung wird ernst, das Dasein unbehaglich; aber der Blick erweitert sich, und gewaltige Probleme treten uns entgegen, von gleicher Tragweite für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.»

Der Deutsche erforscht mit einem Boot die Uferzonen des unteren Jangtsekiang. Studiert den Lößboden, der den Charakter der Landschaft im Norden bestimmt. Holpert im Karren über die völlig unerforschte Halbinsel Liaodong bis zur koreanischen Grenze. Die Koreaner machen ihm klar, eine Weiterreise werde ihn den Kopf kosten. Aber sie sind beeindruckt, wie schnell Ferdinand von Richthofen in Plauderrunden an Grenzübergängen ihre Zahlwörter lernt, fehlerlos ausspricht und der Reihe nach von 1 bis 1000 in sein Notizbuch einträgt.

Längst hat Richthofen das Feld der reinen Geologie verlassen. Sie wird für ihn zur Grundlage für das Verständnis von Oberflächenformen. Doch Richthofen forscht auch über die Wechselwirkung von Klima und Bodenbeschaffenheit, über die gewaltigen Erosions- und Umformungskräfte von Wind, Wasser und Verwitterung, über Chinas Gebirgsaufbau und die Anordnung seiner großen Flüsse. Er studiert Verkehrswege, Besiedelungsdichte und Kulturtraditionen, die sich aus der Landschaft heraus erklären und sie gleichzeitig prägen. Richthofen wird zum ganzheitlichen Denker wie Alexander von Humboldt . Nur Tiere und Pflanzen interessieren ihn nicht im gleichen Maße.

Im mittleren China bereist Richthofen Gebiete, die selbst Chinesen wegen ihrer Wildheit fürchten. Im berühmten Porzellanort King-tö-schönn (Jingdezhen) den noch nie ein Europäer betreten hat, zwingt ihn eine tobende Menschenmenge zum Rückzug. In der Südwestregion von Tiantaishan brechen seine Kulis in der Hitze vor Erschöpfung zusammen. Richthofen aber zieht unbeirrt weiter durch das Land, «stets einen guten langen Bleistift, an einer Schnur befestigt, um den Hals tragend», wie er später in seinem „Führer für Forschungsreisende“ schreiben wird.

Richthofen krönt seine Chinareisen mit einer Tour in die südliche Mongolei. Statt den üblichen Karawanenweg zu benutzen, steigt er quer über die Berge und beklopft die Felsen mit seinem Geologenhammer. Er zieht auf der alten Reichsstraße nach Szetschuan, studiert das „Rote Becken“, kommt bis an die Grenze zu Burma, wendet sich nach Kanton. Erst als eine Räuberbande Ferdinand von Richthofen am 19. März 1872 kurz vor dem Gebirgspass Ta-hfiang ling überfällt, hat er genug. Er reist nach Schanghai und von dort nach Deutschland zurück.

Sein erster China-Band hat 758 Seiten. Er erscheint 1877. In ihm entrollt er die Geschichte der Salzsteppen und Lößlandschaften und die Bedeutung der Kunlun-Shan-Ketten, die er das «Rückgrat der östlichen Hälfte Asiens» nennt. China, so sein Resümee, «kann nur aus seinem Verhältnis zu Zentralasien verstanden werden». Der zweite Band, der 1882 erscheint, gilt als Prototyp der modernen Länderkunde. Den dritten gibt erst sein Schüler Ernst Tiessen 1912 heraus. In Richthofens China-Atlas sind von 27 Gebieten jeweils die orographische und geologische Karte gegenübergestellt. Das Werk gilt als die erste wissenschaftlich fundierte China-Karte.

Richthofen arbeitet bis 1883 an der Universität Bonn. Dann wird er Geographieprofessor in Leipzig, 1886 in Berlin. Dort leitet er 1899 den 7. Internationalen Geographen-Kongress. 1903 wird er zum Rektor der Universität.

Im fernen China fährt seit der Jahrhundertwende ein rollendes Richthofen-Denkmal durch das Land. Studien des Forschers haben zum Bau einer Eisenbahnstrecke in den Hafen Kiautschou beigetragen, den Deutschland 1898 gepachtet hat. Die erste Lokomotive auf der Strecke trägt Richthofens Namen, freilich in Umgehung des Buchstaben "r", den Chinesen nicht aussprechen können. Sie heißt Li-hau-fen.

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