Nachgedacht: Lost Highway (1997)

Lost Highway (1997) - Still 01

Lost Highway erschien 1997 unter der Regie von David Lynch. Ein 135minütiges Meisterwerk, welches hoch gelobt, jedoch genauso oft verkannt wurde. Gleiches Schicksal sollte Lynchs späterem Werk Mulholland Drive blühen. Lediglich dem französischen CanalPlus ist es zu verdanken, dass Mulholland Drive jemals den Weg in ausgewählte Kinos und Videotheken gefunden hat. Wenn man eine Interpretation bzw. Analyse zu Lost Highway wagen möchte, muss man Recherchen einholen, Literatur wälzen und Reviews, Rezensionen sowie Interpretationsansätze und Filmanalysen von anderen Autoren in Betracht ziehen, um an ein mögliches Spektrum heranzukommen, welches sich einem alleine wohl unmöglich komplett alleine aufdecken kann.

Es gibt Stimmen, die behaupten, dass eine Interpretation gar nicht möglich sei, da es sich bei dem Werk lediglich um eine wirre Aneinanderreihung von Szenen handle. David Lynch selbst dementiert diese Aussagen. Der Film sei interpretierbar, man solle jedoch davon absehen. Den ausbleibenden Erfolg des Films führten viele Kritiker auf die fehlende Geradlinigkeit zurück, die das Kinopublikum gewohnt ist. Hinzu wird wohl kommen, dass Lost Highway einen sehr hohen Bildungsstand voraussetzt, um das ganze Spektrum dieses Werkes greifen zu können. So müssen bedeutende Personen und Figuren der Literaturgeschichte und Mythologie gekannt und wiedererkannt werden, damit der Schlüssel zur Lösung des Rätsels langsam umgedreht werden kann.

Die Handlung

Lost Highway (1997) - Still 02

Was geschieht wirklich mit Fred?

Lost Highway ist die Geschichte des Saxofonisten Fred Madison (Bill Pullman), der mit der attraktiven Renee (Patricia Arquette) verheiratet ist. Das Paar führt ein scheinbar normales Eheleben, droht sich jedoch zu verlieren. Die Konversationen zwischen den Partnern sind sehr oberflächlich, beschränken sich manchmal nur auf einzelne Satzfragmente, vielmehr Phrasen. Ausgediente Gespräche finden nur noch selten statt. Und so ist es auch kein Wunder, dass das sexuelle Treiben an Emotionen verliert und zur Bedürfnisbefriedigung degradiert wird. Angestachelt durch die sexuelle Lustlosigkeit seiner Frau, überkommt Fred immer häufiger der Gedanke, dass seine Frau ihn betrügt.  Für die Behörden ist Fred der Schuldige und kommt schon bald ins Gefängnis.

Nun beginnt die Odyssee: Die Erzählperspektive wechselt zu Pete (Balthazar Getty). Pete verkörpert in Lost Highway das genaue Gegenteil von Fred. Er ist noch sehr jung, attraktiv und kann die schöne Alice (ebenfalls Patricia Arquette) sexuell befriedigen. Genau an dieser Stelle beginnen die verschiedensten Interpretationen zu reifen. Um ein Grundgerüst aufzustellen, beginnt diese Interpretation mit einem Blick auf verschiedene Ansätze und Filmanalysen, um letztendlich zu einem eigenen Fazit zu finden.

Interpretationsansätze

Slavoj Zizek, ein slowenischer Philosoph und Kulturkritiker, dessen Interpretation zum Teil auf dem Klappentext der DVD aus der SZ Cinemathek (Herausgegeben durch die Süddeutsche Zeitung) zu finden ist, behauptet, dass Pete ein von Fred herbeigesehntes Alter Ego ist. Diese Methode wird nach Zizeks Meinung von Fred dazu verwendet, um das Trauma und den Schmerz vom Tod der eigenen Frau zu verbergen. Zizek geht davon aus, dass Fred erst an der Stelle des Traumes aufwacht, an der die künstlich geschaffene Welt schlimmer wird als die Realität.

Schenkt man Andreas Thomas Glauben, so ist der mysteriöse Mann (Robert Blake) eine Anspielung auf Goethes Mephisto:

Lost Highway handelt von der Hölle. Von der Hölle vor und nach dem Teufelspakt. Von der Hölle des Lebens in einer “alltäglichen” Unausweichlichkeit, von der Trennung vom Leben, der Vergeblichkeit der Liebe und der Isolation. Die Einsamkeit eines Paares in seiner Partnerschaft, in seinem Haus, in dessen Dunkelheit es sich zu verlieren droht, das mit seinen dicken Mauern und schießschartenartigen Fenstern anscheinend Sicherheit geben soll, aber jede Lebendigkeit erstickt. Und nun der Faustruf nach Entgrenzung.” Quelle

Wieder andere Stimmen gehen davon aus, dass David Lynch sich bei Lost Highway auf das Möbiusband bezogen hat. Eine zweidimensionale Struktur, welche sich lediglich durch einen Rahmen (vielmehr Kante) und eine Fläche auszeichnet. Ein Möbiusband scheint wie eine Schleife zu sein, geht jedoch in sich selbst über. Wenn man mit einem Stift eine Seite des Bandes anmalen würde, würde irgendwann das ganze Band der Farbe des Stiftes entsprechen. Auf den Film bezogen bedeutet das, dass es keine Interpretation geben kann, da sich jeder Anlauf in sich selbst verstricken würde. So ging es auch vielen Zuschauern. Hatte man sich einen Lösungsansatz erarbeitet, wurde dieser durch ein kleines Detail zerschossen. Alles, was so gut ineinander gepasst hätte, wurde im Bruchteil einer Szene ad absurdum geführt.

Wie man sieht, ist eine Analyse bzw. eine Komplettinterpretation sehr schwierig. Für jede der oben angesprochenen Interpretationen gibt es Verfechter. Doch welche dieser Interpretationen bzw. Filmanalysen ist wahrscheinlicher? Auf welche treffen mehr Indizien im Film zu? Beginnen wir von vorne.

Interpretation von Lost Highway

Lost Highway (1997) - Still 03

Welches Geheimnis umgibt Rene?

Fred Madison ist Saxofonist. Seine Frau kann er sexuell nicht mehr befriedigen. Diese Tatsache führt – verbunden mit zahlreichen anderen Verdachtsmomenten – zum Mord. Bis hierher scheint Einigkeit zu herrschen. Die Annahme, dass Pete eine Projektion von Fred auf sein eigenes Selbst ist, um seine Tat für sich selbst, seine eigene Psyche zu verschleiern, kann als annehmbar eingestuft werden. Als Begründung können die beiden Liebesszenen zwischen Fred und Renee sowie Pete und Alice herangezogen werden. Beide Szenen sind aus der exakt gleichen Perspektive gedreht worden. Es besteht lediglich ein Unterschied im Aussehen der Protagonisten und darin, dass die Frau (gemeint ist Alice) in der zweiten Szene durch den sexuellen Akt befriedigt wird. Um die vorangegangene These weiter zu stützen: Fred wird im Verlauf seines Ehelebens zahlreiche Male mit seiner Frau geschlafen haben. Er weiß, wie sie aussieht, wie ihre Vorlieben sind und wie sie sich geliebt haben. Es kann sich somit nur um eine Projektion handeln. Außerdem: Wieso sollte Alice genauso aussehen wir Renee, wenn es sich um eine eigenständige Geschichte handelt? Zwillinge? Eine für den Hauptplot unbekannte Schwester? Möglich! Für den Film aber in sehr weiter Ferne, denn Fred kann durch einen traumatisierten Zustand nicht auf eine Person bzw. auf eine Schwester schließen, die vorher für ihn faktisch nicht existiert hat.

Und genau hier kommt der Mystery Man ins Spiel. Der Begriff Mystery Man hat sich etabliert, da diese Figur im Film an keiner Stelle einen Namen bekommt. Doch was genau ist seine Funktion? Vaterfigur? Nicht unmöglich, aber abwegig, da die Figur an sich zu verwirrend erscheint. Eine Vaterfigur würde sich wahrscheinlich eher durch Sanftmütigkeit oder durch eine strenge Hand ausdrücken. Der von Andreas Thomas angestrebte Vergleich mit Goethes Mephisto liegt an dieser Stelle näher. Der Mystery Man schreitet ein, als es für die Hauptfigur anscheinend keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Auch Faust, Goethes unbestrittenes Lebenswerk, kann die Gunst von Gretchen nur erreichen, weil Mephisto – direkt oder indirekt – den Weg bereitet. Der Mystery Man also als eine Art Leitfigur. Eine Leitfigur, die ihren Preis fordert. Und so scheint Fred an dem Zeitpunkt zu erwachen, wo das Geschehen in der Wüste für ihn unerträglich wird.

Trailer Lost Highway

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Doch wenn man die Vermutungen von Zizek und Thomas nimmt, kombiniert und ineinander verflechtet, bleiben noch immer Lücken. Wieso sind die Interpretationen an einigen Stellen so brüchig? Und wieso gibt es oft einzelne Szenen, die das gesamte Konstrukt, welches man sich individuell zusammengelegt hat, zerbrechen lassen? Eine Szene im Haus von Fred und Renee könnte der Schlüssel dazu sein. Nachdem die Polizei gerufen wurde, sagt Fred aus, dass er Videokameras hasse, da er sich der Dinge lieber auf seine eigene Art erinnere. Wer sich erinnert, verfälscht. Mit Absicht oder nicht, aber der Mensch neigt dazu, seine Erinnerungen einzufärben. Diese Einfärbung scheint im Endeffekt schöner oder schlimmer als das eigentliche Ereignis. So könnten die Brüche in den Teil-Plots zu erklären sein. Es passt jedesmal dann nicht, wenn Fred sich nicht mehr genau erinnert.

Eine wichtige Rolle spielt auch das Werkzeug der Konstruktion. David Lynch lässt in der Geschichte von Pete alle Figuren auftreten, die auch in der Welt von Fred existieren. Nach Freud ist es typisch für Träumende, dass diese bekannte Figuren aus ihrem Leben in andere Rollen stecken, sie bewusst oder unbewusst vertauschen.

Ein zugegebenermaßen unkonventioneller Versuch bzw. Zugang einer Interpretation kann ein Blick auf den Soundtrack ermöglichen. Künstler wie David Bowie, Marilyn Manson und Rammstein sind dort zu finden. Die Auswahl der Songs bzw. der Texte unterstreicht die Szenerie optimal und bildet ein kongeniales Duett mit Lynchs atemberaubender Inszenierung und Kameraführung. Ein Blick auf Texte und eine sich daraus ergebende Interpretation sollen an dieser Stelle erlaubt sein. Ziel ist es, Titel und Text der Lieder auf den Film zu beziehen und daraus eine Deutung bzw. Analyse zu erschließen.

David Bowie – I’m Deranged
(übersetzt: Ich bin geistesgestört)

“I’m deranged

Deranged my love

I’m deranged down down down

So cruise me babe cruise me baby

And the rain sets in

It’s the angel-man

I’m deranged”

Ein Zugeständnis von Fred an Renee? Eventuell getarnt als Eingeständnis an sich selbst und eine Entschuldigung an die Ermordete? Diese Fragen bewegen sich im Rahmen des möglichen Spektrums. “The angel-man” als Anspielung auf den Mystery Man? Vielleicht wollte David Lynch die von Robert Blake verkörperte Figur nicht als zuerst lobenden, dann strafenden Mephisto-Vergleich gedeutet wissen, sondern als unkonventionellen Engel, der Fred von seinem Leid befreit?

Marilyn Manson – I Put A Spell On You
(übersetzt: Ich wirke einen Zauber auf Dich)

“I put a spell on you

Because you’re mine.

I can’t stand the things that you do

No, no, no, i ain’t lyin’. no.

I don’t care if you don’t want me

’cause i’m yours, yours, yours anyhow.

Yeah, i’m yours, yours, yours.

I love you. i love you”

Eine Ode von Fred an seine Frau? Es scheint wie eine Einsicht an eine Schandtat, die voller Scham – jedoch notwendig war, um den inneren Frieden zu finden. Diese Textpassage scheint den Gedankengang von Fred zu unterstützen, dass er seine Frau niemals teilen wird. Eher muss sie sterben – “I don’t care if you don’t want me”.

The Smashing Pumpkins – Eye
(übersetzt: Auge)

“Turn to the gates of heaven,

turn myself around (around).

Turn away from I.

Its not enough.

Just a touch. Its not enough.

I taste.

I Love, I can I bleed, I love, I hate,

Im now, I was ,I want too much, Is it any wonder

I cant sleep, all i have is all yo gave to me

Is it any wonder I found peace”

Eine Textstelle, welche die Traum- bzw. Projektionsthese weitestgehend stützt. “Turn myself around“ – kann als ein Indiz für die “Verwandlung” von Fred zu Pete verstanden werden. „I Love,I can,I bleed,I love ,I hate“ als Sinneseindrücke der neuen Welt. Ja! Ich kann leben, ich kann (m)eine Frau befriedigen, ich schöpfe das Leben aus vollen Zügen. So könnte sich Fred in Petes Körper fühlen. Ein neues Leben mit einem neuen Geist.

Lost Highway (1997) - Still 04

Der Mystery Man: Ein moderner Mephisto?

Um diesen Punkt abzuschließen, kann man sagen, dass der Soundtrack durchaus in der Lage ist, den bisher erarbeiteten Plot zu stützen. Doch was ist mit der Hinrichtung von Fred gegen Ende des Films? Verkehrt sie nicht alles in ein absolutes Nichts? Führt sie nicht alles ad absurdum? Für viele Fans von Lost Highway bedeutet die Hinrichtungsszene die Einleitung zu einem Leben nach dem Tod. Ein Gedanke, der nicht unmöglich, jedoch wenig realistisch ist.

Fazit

Fazit dieser Interpretation und Filmanalyse kann nur sein, dass Pete und die ganze Geschichte, die damit verbunden ist, eine Fiktion von Fred ist. Gestützt wird diese These durch die oben bereits ausgearbeiteten Ansätze sowie einige Stellen im Soundtrack, die ebenfalls eine Stütze geben (können). Es bleibt aber ebenso der Nachgeschmack, dass man diesen Film nicht bis auf das kleinste Filetstück auseinandernehmen sollte. Denn dann geht der Zauber verloren, den David Lynch unverkennbar auf  Zelluloid gelegt hat. Wirken lassen und genießen. Und wer weiß! Vielleicht erkennt man die Fährte zu seinem eigenen Lost Highway, denn Erinnerungen tragen wir alle in uns.

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