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16.02.2013

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Archiv | Kultur

Beginn des Inhaltes

Interview mit Patrice Nganang

"Afrikas Unabhängigkeit ist kein Grund zu feiern"

Der Kameruner Patrice Nganang zählt zu den bekanntesten afrikanischen Schriftstellern der Gegenwart. Mit seiner Literatur will der 40-Jährige seinen Landsleuten neue gesellschaftliche Perspektiven aufzeigen - und ihnen dadurch die Angst nehmen, endlich das Regime zu stürzen.

Patrice Nganang Foto: Patrice Nganang

Am 1. Januar hat Kamerun offiziell den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit begangen. Waren Sie dort und haben mitgefeiert?


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Patrice Nganang
geboren 1970 in Kameruns Hauptstadt Yaoundé, studierte Literaturwissenschaft in Yaoundé, Frankfurt und Berlin. Seit 2000 lebt er in den USA, wo er an der Staatsuniversität New York, Stony Brook, als Professor für Literatur- und Kulturtheorie arbeitet. Er ist Autor von Lyrik, Prosa, literaturtheoretischen Arbeiten und politischer Essays. In Deutschland erschien 2003 sein Roman "Hundezeiten".
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Ja, ich war in Kamerun, sogar in der Hauptstadt Yaoundé. Aber es gab dort nicht viel zu feiern. In den Zeitungen gab es zwar ein paar Beiträge zum Thema, aber die Kameruner sehen das Jubiläum eher das ganze Jahr über. Deshalb gab es keine große, zentrale Feier an diesem Tag. Zumindest keine, die ich gesehen habe - aber vielleicht war ich nur nicht eingeladen (lacht).

Offiziell feiert Kamerun ja auch jedes Jahr am 20. Mai seinen Unabhängigkeitstag. Warum kursieren da mehrere Daten?
Richtig, damit fangen die Schwierigkeiten der kamerunischen Geschichte schon an. Kamerun ist eigentlich zwei Mal unabhängig geworden. Der von den Franzosen besetzte östliche Teil am 1. Januar 1960 und der von den Briten besetzte westliche Teil am 20. Mai 1961. Deshalb konnten wir ja schlecht alle am 1. Januar 1960 feiern.

Frankreich hatte im Vorfeld angeboten, die Unabhängigkeitsfeiern seiner ehemaligen Kolonien zu finanzieren. Wie denken Sie darüber?
(lacht) Das ist einfach lächerlich! Das wäre der größte Witz überhaupt, wenn Frankreich ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Kolonialzeit die Unabhängigkeitsfeier finanzieren würde. Jeder Kameruner, der etwas auf sich hält, würde ablehnen. Es gibt ja doch mittlerweile einen kamerunischen Staat - und ein bisschen Respekt vor diesem sollte Frankreich schon haben.

Zu Beginn des Jahres ist zudem eine Debatte in Kamerun über den Umgang mit den einstigen Unabhängigkeitskämpfern entbrannt - reichlich spät, nach mehr als einem halben Jahrhundert.

Ja das stimmt. Die getöteten Unabhängigkeitskämpfer - wie etwa Ruben Um Nyobe - wurden zwar 1990 formal rehabilitiert. Aber ihre Namen haben noch immer nicht die gesellschaftliche Bedeutung, die sie haben sollten. In der Öffentlichkeit und in der Literatur kommen sie kaum vor. Das ist das zweite große Problem: Das Regime, das heute unter Paul Biya an der Macht ist, führt die Politik von Ahmadou Ahidjo fort, der das Land bis 1982 regierte. Ahidjo hatte es gebilligt, dass die französischen Kolonialmacht die Unabhängigkeitskämpfer ermordet hat. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist deshalb erst möglich, wenn es eine neue Regierung gibt, die sich von ihren beiden Vorgänger-Regimen distanziert.

Die erste Regierung des unabhängigen Kameruns ist ausgerechnet von der französischen Kolonialmacht eingesetzt worden. Wie kam es dazu?
Geschichtlich gesehen waren diejenigen, die vor 50 Jahren an die Macht kamen, eigentlich gegen die Unabhängigkeit. Die Kameruner, die jahrelang für die Unabhängigkeit gekämpft hatten, wurden von den Franzosen ermordet. Es ist das kamerunische Paradox: Die, die ihr Blut für die Unabhängigkeit gaben, bekamen sie nicht. Und die, die seit den 1940er Jahren gegen die Unabhängigkeit gewettert haben, haben sie im Endeffekt erreicht - allerdings nur formal. Denn sie mussten den französischen Machthabern zusichern, dass sie auch weiterhin die Interessen Frankreichs wahren.

Teile der kamerunischen Öffentlichkeit fordern eine Entschuldigung von Frankreich. Halten Sie das für angemessen?
Das ist eine sehr große und sehr tiefe Frage. Nur eine Entschuldigung bringt wenig. Es gibt sehr viele Schritte, die gemacht werden müssten, bis überhaupt über eine Entschuldigung und die Form dieser Entschuldigung nachgedacht werden kann.

Und die wären?

Staatspräsident Paul Biya (14.11.1989) Foto: picture-alliance/dpa Kameruns omnipräsenter Staatspräsident Paul Biya.

Zunächst müssen die Kameruner eine Regierung haben, die sie selbst anerkennen. Das derzeitige Regime ist nur scheinbar demokratisch legitimiert, tatsächlich manipuliert es Wahlen, setzt die Opposition unter Druck, betreibt Vetternwirtschaft und lässt sich korrumpieren. Erst wenn sich die Kameruner demokratisch ausdrücken können, werden sie auch ihren Willen formulieren. Und dabei geht es nicht nur darum, von Frankreich eine Entschuldigung zu fordern, sondern es geht auch um mögliche Entschädigungen für die Opfer von Verbrechen - darunter auch solche gegen die Menschlichkeit - die im Namen Frankreichs verübt wurden. Aber wie gesagt, dafür muss erst das jetzige Regime die politische Bühne verlassen.

Unterschwellig ist oft von der Angst vor einem Bürgerkrieg die Rede, falls das Biya-Regime zusammenbrechen sollte. Besteht die Gefahr tatsächlich oder ist sie bloß ein Vorwand, um nichts ändern zu müssen?
Das Regime unter Biya hat es geschafft, die kamerunische Öffentlichkeit so zu beherrschen und zu lähmen, dass selbst die politische Opposition in Kamerun sich jahrelang noch nicht einmal ausgemalt hat, wie es sein könnte, wenn Biya nicht mehr an der Macht ist. Wenn aber selbst die Opposition keinen Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen aufzeigt, dann fehlt den Menschen die Vision einer anderen Welt - und sie bekommen Zukunftsangst. Ich denke aber, dass 15 Millionen Kameruner sich nicht ins Meer stürzen würden, wenn Biya morgen nicht mehr da wäre - und es hat sich ja überall gezeigt, dass Macht nicht ewig währt (lacht). In der Tat, ich denke, die Menschen würden eher auf der Straße tanzen, und ich sehe keine Anzeichen dafür, weshalb die etwa 200 verschiedenen Ethnien in Kamerun dann plötzlich aufeinander losgehen sollten.

Stand: 09.04.2010

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