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Redaktionelle Beiträge

Johannes Berning

    Gehen, Schauen, Schreiben ­ Aspekte wahrnehmungsgeleiteten Schreibens

 

Ich habe nichts zu sagen, nur zu laufen.

(Paul Nizon)

Ein Blick nach innen
Mein Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die Erkenntnis der gegenwärtigen kognitiven Schreibforschung, Schreibkompetenz zeige sich in der Fähigkeit schreibenden Denkens, bei dem ­ in Anspielung an Kleist ­ über dem Schreiben die Gedanken kommen. So richtig diese Feststellung ist, bedarf sie m.E. doch einer notwendigen Ergänzung: Erst schauen, dann denken! Solch wahrnehmungsgeleitetes Schreiben hat es in der ehe kalten Welt" informationsverarbeitenden und problemlösenden Handelns gewiss nicht leicht, sich zu behaupten, und soll deshalb an dieser Stelle in einigen Grundzügen vorgestellt werden.

Lässt sich das, was wir tagtäglich sehen/hören/lesen, überhaupt wie selbstverständlich  für wahr" nehmen? Wir wissen, dass dies nicht möglich ist und ein gefährlicher Trugschluss wäre. Eine solche Form der Wahrnehmung bliebe allenfalls ein passives Rezipieren, ein Aufsaugen von Eindrücken, die wir ungefiltert und formlos hintereinander stellen, ohne dass sie uns zu Erkenntnissen führen oder der Realität tatsächlich ein Stück näher bringen könnten. Eine solche Form passiver Wahrnehmung bleibt schemenhaft, ohne Körper, ohne Gestalt, ohne Substanz. Es ist  Ausschuss" und damit unbrauchbar für das Weben von feinen, sinnenhaften  Daseinsteppichen", die sich zu individuellen Lebensmustern zusammenfügen. Alles, was wir nur passiv wahrnehmen, kann niemals etwas zum Verstehen und zur Veränderung  menschlichen Denkens und Handelns beitragen. Elementare Bedingungen dafür, wie Selbstvergewisserung und Reflexivität, Ich-Distanz und Empathie, wären bestenfalls ansatzweise vorhanden.

Dagegen ist aktive Wahrnehmung, wie Klaus Holzkamp darlegt, an die sinnliche Präsenz des Wahrgenommenen"1 gebunden. Sinnliche Wahrnehmungen äußern sich zunächst in Form von Reizen. Sobald solche Reize einer Bewertung und Kategorisierung unterzogen werden, kommt es zum Verstehen, zum Einordnen und Neuordnen des Erkannten in schon vorhandene kognitive Strukturen. Erst, wenn unsere Wahrnehmungen eine sinnliche, körperliche Qualität bekommen, beginnen wir wirklich zu verstehen und kommt es zur Perzeptbildung, also zu einem Wissen durch die Sinne. Erkenntnisgelenktes, reflexives Handeln ist ohne diese sinnliche Grundlage nicht möglich. Schon das Kind erobert mithilfe seiner Sinne die Welt und erfährt diese auf immer wieder neue Weise.

Voraussetzung für eine solche Form der Weltbegegnung ist ein von allen Sinnen angeschobener Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand, bei dem wir weit geöffnet werden bzw. uns selbst weit öffnen. Wir sind empfänglich für Dinge, Einfälle, Gedanken, Menschen. Unsere Wahrnehmung, unser Denken, Werten und Handeln ist weitgehend ungeteilt, d.h. ganzheitlich. Wir hören, was vorher noch nicht da war, wir lesen das bislang Ungeschriebene, und wir sehen mehr als in der Realität um uns herum und in uns ist. Diese nach Sklovskij  vom Automatismus befreite Wahrnehmung"2 setzt ein Sinnenbewusstsein"3  frei, das Rudolf zur Lippe als ein unverzichtbares Element menschlichen Daseins ansieht, weil von ihm ausgleichende, harmonisierende und damit heilmachende, befriedende Kräfte und Wirkungen ausgehen, die gerade in Zeiten von Friktionen und Krisen unsere Persönlichkeit zu stützen oder auch wiederherzustellen in der Lage sind. Im Spiegel eines solchen Sinnenbewusstseins relativiert sich die Bedeutung des Einzelnen. In ihm manifestiert sich vielmehr als größeres Ganzes das Prinzip Leben.

Ein Blick zurück
Durchstreift man mit Lutz von Werder die  kreative Literaturgeschichte"4, wird man schnell eine Vielzahl von Schreibformen finden, die Brücken zwischen Literatur und Leben herzustellen vermögen. Ein Beispiel ist das automatische Schreiben des Surrealismus, das die Gruppe um André Breton seit 1919 in Paris entwickelte. Zusammen mit Soupault verfasste Breton mithilfe des automatischen Schreibens das Buch   Die magnetischen Felder" ­ ein Protokoll des eigenen fortwährenden Bewusstseinsstroms. Breton systematisierte mit der écriture automatique eine Schreibtechnik, die schon bei den Schamanen oral als freier Einfall praktiziert, von Goethe als schriftliche Spontaneität geschätzt und von Sigmund Freud als freie Assoziation, als  verbale Zauberleiter" zu den Quellen des Unbewussten erkannt wurde.

 Später baute Jack Kerouac, einer der Mitbegründer der amerikanischen Subkultur der Poesie, das automatische Schreiben der Surrealisten aus und schuf so seine bekannten Romane  Unterwegs" (1957) und  Gammler, Zen und hohe Berge" (1958). Er beschrieb den Zustand spontaner Wahrnehmungskonzentration, den er mithilfe der Zen-Meditation förderte, so: wenn man alles zum Stillstand bringt und seinen Verstand ausschaltet, um mit geschlossenen Augen tatsächlich so etwas wie einen ewigen und unübersehbaren Strom elektrischer Kraft zu sehen, der schmerzlich aufstöhnend dahinbraust." Auch heute noch nimmt in der amerikanischen Schreibbewegung, wo im Unterschied zu Deutschland das Kreative Schreiben als Wissenschaft gelehrt und nicht als Unterhaltung abgewertet wird, die radikale Praxis des freewriting einen wichtigen Platz ein.

In Japan gibt es neben dem kreativen Schreiben in den Schulen mit einem expliziten Schreibcurriculum eine breite spirituelle Haiku-Schreibbewegung. Solche Kurzgedichte sind eine beliebte Form meditativen Schreibens (Die Dinge sehen, wie sie sind. Das Geheimnis des Lebens merken.). Sie fördern den Blick für das Wesentliche und damit auch den Blick zum Wesen der Dinge. In der lateinamerikanischen Schreibbewegung entwickeln die Teilnehmer Schreibprojekte, die den Ideen des großen lateinamerikanischen Pädagogen Paolo Freire folgen. Ein solches interkulturelles Schreiben versucht, wichtige literarische Produktionstechniken aus den südamerikanischen, mittelamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Kulturen in Schreibgruppen zu praktizieren.

Natürlich kennen wir darüber hinaus die romantischen Schreibtechniken bei Novalis sowie die naturalistischen Schreibformen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals entwickelte Emile Zola eine neue Schreibtechnik, die sich im Kontext der Entstehung der Fotografie ganz der Erfassung der äußeren realen Verhältnisse verschrieb. Und schließlich schuf in dem Jahrzehnt vor und nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Dichtergeneration um Benn, Trakl, Heym, Else Lasker-Schüler und Hans Henny Jahnn die expressionistische Schreibweise, die zum ersten Mal in der Literaturgeschichte von den Autoren selbst als lehrbar begriffen wurde.

Das persönliche/ungehemmte/ expressive Schreiben als die genuine Technik, Phantasie und Gedanken in Worte und Texte zu verwandeln, hat also eine lange und lebendige historische Tradition, die wir zur Wahrnehmungsschärfung nutzen können. Das gilt in gleicher Weise für die Schreib-Autobiographie, derer sich in der Vergangenheit viele professionelle Autoren  bedient haben. In ihr setzen sich Schreiber mit sich selbst und der Genese ihrer Schreibfähigkeiten auseinander. Wer schreiben lernen will, muss seine schulischen und familiären Lernfundamente kennen. Die Schreib-Autobiographie macht dieses Kennenlernen möglich. Sie deckt Vorstellungen auf, die jemand von sich selbst als Autor hat. Über das Sich-Bewusstwerden des eigenen Rollenverständnisses als Schreibende können die Besonderheit und auch die Unverwechselbarkeit des eigenen Schreibens besser verstanden und akzeptiert werden. Darüber hinaus treibt die Schreib-Autobiographie auch das Nachdenken über zukünftige Schreib-Haltungen voran.

Wahrnehmungsgeleitetes Schreiben erkennt ausdrücklich die authentischen und sich verändernden Stimmen, die jedem Menschen eigen sind, an und kultiviert sie. Der Weg zu einem  wahr-haftigen Ausdruck" kann nicht im Vorhinein programmiert werden. Wir beginnen zu verstehen, dass sich Bedeutung nicht in kleinen oder großen Päckchen lagern lässt, sondern immer wieder neu erzeugt werden muss. In diesem sprachkonstituierten Prozess ist das Wissen darüber, was und wer wir sind, ein wichtiger Bezugspunkt, auch wenn wir dieses Wissen niemals vollends zur Entfaltung bringen. Deshalb ist es vor allem eine demütige Haltung gegenüber allem Geschriebenen, die uns zeigt, wie Erfahrung und Wissen miteinander verwoben sind, wenn wir zu schreiben beginnen. Der Prozess von Deutung und Erschließung ist dabei in so hohem Maße von individuellen Erfahrungen und Gefühlen, von autonom getroffenen Entscheidungen und bereits erworbenen kognitiven Schemata abhängig, dass sein Ausgang nicht vorhergesagt werden kann. Gerade dies aber ist ein Kennzeichen humanen, ganzheitlichen Lernens.

Ein Blick nach außen
Vor einigen Jahren gab ich einem meiner Seminare den Titel Vom Schauen zum Schreiben. Der Titel war eine bewusste Reaktion auf meine Erfahrung, dass Schulen und Hochschulen gigantische Wahrnehmungsverhinderungs-Institutionen sind, in denen das (Innen-)Sehen, das Hören, das Wahrnehmen auszusterben drohen und Sprache verflacht, verwahrlost, körperlos wird. Dabei stelle ich in meinen Schreibseminaren immer wieder fest, dass die Sehnsucht nach eigenen schöpferischen Prozessen, nach individueller Verwirklichung und Wiederherstellung von Ganzheit, bei vielen Menschen lebendig ist.

In diesem Zusammenhang kann das Gehen (wie auch das Wandern und Reisen) eine natürliche, organische Verbindung zwischen Schauen und Schreiben herstellen. Ich kenne keine Fortbewegungsart", so Christoph Ransmayr, die dem Denken und Sprechen gemäßer wäre als das Gehen. Zum Fußweg gehört auch der allmähliche Wechsel der Perspektive, das Innehalten und Betrachten. Erst dadurch kann Material für Geschichten entstehen."5 Zu den bildträchtigen Überlieferungen der Religionsgeschichte zählt seit jeher die Wallfahrt an Stätten, die durch eine besondere Heiligkeit ausgezeichnet sind. Das Gehen, Wandern und Reisen zu diesen Orten gehörte einst zu den zentralen Kulturtechniken. Spuren davon lassen sich in allen Kulturkreisen und Epochen finden. Im Gehen sind wir ständig in Bewegung, und so kann sich auch in unserem Kopf etwas bewegen. Im Gehen stellen sich Bilder ein, kommen Ideen auf, lösen sich Probleme.  Wir folgen unseren eigenen Spuren auf dem labyrinthischen Gang durch die Welt unseres Unterbewussten.

Das Unterwegs-Sein ist ein beliebtes literarisches Thema. Kaum, daß ich spazierengehe, beginnen die Gedanken wieder zu laufen, weil  sich über die Augenwege der innere Kreislauf aktiviert  6 ­ so heißt es beispielsweise bei Paul Nizon. Die Fahrt ist ein zentrales Motiv in seinen Romanen.  "On the road" findet er sein Stück Leben. Reisen als Therapie: Ich kann dich nicht sagen, doch ich kann dich fahren.7 Nizons Erkundungsgänge durch die Städte seiner Wahl werden gleichzeitig zu Selbsterfahrungsreisen durch die eigene Person. Wer wandert, wandelt sich mit jedem Schritt: Wenn ich die Angst überwand, wenn ich schreibend in den Wald hineinginge, wenn ich mich am Schreiben festklammerte und nicht nachließ, wenn ich solchermaßen zu mir und zum Leben käme, dann würde es nicht ein Überleben, sondern ein neues Leben sein. Ich würde aus dieser Prüfung, die mir die Stadt verschrieb, anders hervorgehen. Diese Stadt ist eine harte Schule, sie kann vernichten oder Wunder wirken. Sie wird deine Erzieherin sein.8

Ein Blick nach vorn
Persönlich wirksames Lernen (und damit auch Schreiben) ist ohne einen bestimmten Wahrnehmungszustand nicht möglich. Wir halten an. Wir besinnen uns. Wir werden nachdenklich. Wer schon einmal von einer affizierenden (Schreib- oder Lern-) Aufgabe  gepackt" worden ist, weiß um diesen Zustand bewusster Wahrnehmung und kennt die damit verbundenen Bewusstseinserweiterungen. Das setzt allerdings einen (Schreib-) Unterricht voraus, der viele verschiedene Weisen der Vergegenwärtigung und der symbolischen Verarbeitung fördert. Gemeint ist eine Form der Vermittlung, die mehr präsentative (statt begrifflich-diskursive) Symbolisierungsfähigkeiten (nach Susanne K. Langer)9 bei Lernenden aufbaut, d.h. eine nicht-begriffliche, ganzheitliche Art, Erfahrungen zu verarbeiten, ausgelöst durch ein Angerührtsein, ein Angetansein (z.B. auch durch Bewegung, Klang, Rhythmik). Durch eigene Tätigkeit ­ sprachlich, gestisch, bildnerisch, plastisch oder klanglich ­ können sich Lernende mit ihrer sinnlichen Erfahrung auseinander setzen, sie nachahmen, sie darstellen. Neben die äußere träte auf diese Weise eine innere Anschaulichkeit, die die solchermaßen angebotenen Schreib- und Lernaufgaben von innen" leuchten ließe.

Ein ganzheitlicher, authentischer Blick auf Schreiben, der die einmaligen und sich immer wieder verändernden Stimmen eines Menschen würdigt, schließt die Domänen dahinter mit ein, egal, ob sie unbewusst, selbstredend, unbeschreibbar oder unerklärlich sind. Vielleicht ist es für eine Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts der Sinne (Augusto Boal) schon zu spät. Vielleicht aber gelingt uns ­ durch  ein bewusstes Zurückgehen in den poetischen Raum"10 ­ eine Re-Animation unserer Sinne, deren spirituelle Kraft und kindlicher Zauber wir dann für immer in unserem Gedächtnis behalten werden. 

 

 

Anmerkungen:
1 Holzkamp, Klaus (1978): Sinnliche Erkenntnis ­ Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Königstein/Ts. S. 23.

2 Sklovskij, Viktor (1988): Die Kunst als Verfahren. S. 13. In: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 4., unveränderte Auflage. München. S. 3-35.
3 Lippe, Rudolf zur (1987): Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik. Reinbek.
4 Werder, Lutz von (1992): Kreative Literaturgeschichte. Berlin/Milow.

5 Ransmayr, Christoph (2000): Unterwegs nach Babylon. In: Stern-Magazin, Heft 33 vom 10.08.2000.
6 Nizon, Paul (1985): Am Schreiben gehen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main. S. 122f.
7 Nizon, Paul (1997): Das Jahr der Liebe. Roman. 6. Auflage. Frankfurt am Main. S. 170.
8 Ebd., S. 147.

9 Langer, Susanne K. (1965): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Berlin. S. 139ff.
10 Sloterdijk, Peter (1994): Gedanken-Wende. In: Stern-Magazin, Heft 11 vom 10.03.1994.

 

 


Christa Dürscheid

Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung
Einige Anmerkungen aus linguistischer Sicht

Erscheint in:    Hua, Zongde (Hrsg.): Germanistische Forschung – Festschrift zum 100. Geburtstag
                   von Prof. Weilian Zhang. Shanghai: Verlag für Fremdsprachen.

 

 

1.                     Vorbemerkung

Die Reform der deutschen Rechtschreibung hat die Gemüter bewegt – und bewegt sie noch. Obwohl nun bereits seit dem 1.8.1998 in Kraft, ist die Neuregelung weiter umstritten. Die Argumente, die in der Öffentlichkeit für und gegen die Rechtschreibreform vorgetragen wurden, sind hinlänglich bekannt; sie werden auch in der Literatur ausführlich diskutiert (vgl. Kranz 1998). Im Rahmen dieses Beitrags soll der Schwerpunkt auf einem anderen, fachlichen Aspekt liegen: Wie ist aus linguistischer Sicht die Rechtschreibreform zu beurteilen? Konkret: Sind die Regeln a) vollständig, b) grammatisch richtig, c) widerspruchsfrei und d) in Einklang mit der linguistischen Theoriebildung? Zur Beantwortung dieser Fragen werden ausgewählte Regelbereiche einer genaueren Prüfung unterzogen. Vorweg aber erscheint es angebracht, dem Leser einen Überblick über die Entwicklung seit dem Inkrafttreten der Reform zu geben, um die eingangs aufgestellte Behauptung, die Reform bewege die Gemüter immer noch, zu belegen. Es folgt also zunächst ein kurzer Abriss zur Umsetzung der Rechtschreibreform.

 

2.                     Nach der Rechtschreibreform

Nach dem Inkrafttreten der Reform vollzog sich die Umstellung in großen Schritten. Seit Beginn des Schuljahres 1998/99 wird in allen Schulen nach den neuen Regeln unterrichtet (*1: Allerdings dürfen Fehler, die daraus resultieren, dass die Schüler der alten Rechtschreibung  folgen, bis zum Ende der Übergangsfrist, d.h. bis zum Ende des Schuljahres 2004/2005, nicht gewertet werden.) Die Schulbuchverlage setzen die neue Rechtschreibung in allen neuen Lehrwerken um. Die Behörden verfassen ihre Texte in der neuen Rechtschreibung, die meisten Firmen haben den Schriftverkehr umgestellt. Firmenmitarbeiter werden in Fortbildungsmaßnahmen mit den neuen Schreibregeln vertraut gemacht, Studenten müssen ihre Seminararbeiten in neuer Rechtschreibung verfassen. Bücher werden – sofern die Autoren ihr Einverständnis geben – nunmehr in der neuen Rechtschreibung gedruckt, und auch ein Großteil aller deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften hat – mit Stichtag 1.8.1999 – auf die Neuregelung umgestellt. (*2: Doch folgten nicht alle Zeitungsverlage diesem Beschluss. Einige legten ihren Lesern dar, in welchen Punkten sie Modifikationen vornehmen würden (so die ZEIT in einer Beilage vom 10.06.1999, die Neue Zürcher Zeitung in einer Beilage vom 15.05.2000)) Betrachtet man diese Entwicklung, so hat es den Anschein, als sei die große Hürde genommen, als akzeptierten nun viele das neue Schriftbild. Auch Hua/Hua (2000:279) stellen in ihrem Überblick zur Rechtschreibreform fest, dass die Proteste allmählich verstummten. Diese Einschätzung gilt für den Zeitraum, den die Verfasser überblicken; sie gilt aber nicht für die aktuelle Situation. Diese präsentiert sich wie folgt:

Am 1.8.2000 kehrte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) nach einem Jahr mit der Begründung, die neue Schreibung habe sich nicht bewährt, zur alten Rechtschreibung zurück. Am 25.8.2000 erschien die 22. Auflage des Duden-Rechtschreibwörterbuchs (vgl. Duden 2000). In der FAZ vom 11.8.2000, also bereits zwei Wochen zuvor, war zu lesen, dass diese Auflage nicht nur von der vorhergehenden Auflage von 1996, sondern auch von der Amtlichen Regelung abweiche und dadurch die Verwirrung vollkommen sei. Die FAZ berief sich auf eine Rezension des Sprachwissenschaftlers Theodor Ickler, der in derselben Ausgabe unter dem Titel „Ein Fiasko“ eine kritische Stellungnahme zu der neuen Duden-Auflage gab. Durch diese Entwicklung sah sich die Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission, deren Aufgabe es ist, die Einführung der Neuregelung zu beobachten, zu einer Stellungnahme veranlasst. Das Gremium von 12 Experten wies in einer Presseerklärung darauf hin, dass „die Neuauflage des Dudens weiterhin voll und ganz auf der Grundlage der amtlichen Regeln von 1996“ stehe (vgl. www.ids-mannheim.de/reform/kdr000817.html). Auch der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Prof. Gerhard Stickel, äußerte sich in einer Pressemitteilung zu der wieder aufgeflammten Diskussion um die Rechtschreibreform: „Das Institut für Deutsche Sprache (IDS) appelliert an Schulen und Medien, die sich für die neue Rechtschreibung entschieden haben, sich von dem aktuellen orthographischen Sommertheater nicht beirren zu lassen. Ausgelöst durch die Fehlmeldung über den vermuteten Inhalt der neuen Duden-Rechtschreibung hat die neuerliche Debatte nicht zu neuen Sachargumenten gegen die Rechtschreibreform geführt“ (vgl. http://www.ids-mannheim.de/aktuell/pr000804.html). Stickel betonte, dass eventuell notwendige Korrekturen nicht in „kurzatmiger Erregung“, sondern mit Bedacht nach Ablauf der Übergangsfrist durchgeführt werden sollten, dass die Kritik an Details der neuen Rechtschreibung die Unzulänglichkeiten der alten nicht vergessen lassen dürfe und die FAZ gerade durch ihre Rückkehr zur alten Schreibung die Verwirrung verstärke, die sie zu heilen vorgebe. In der Tat hätte die FAZ-Redaktion mit ihrem Schritt bis zum Ende der Übergangszeit warten und in der Zwischenzeit versuchen können, auf die Überarbeitung der neuen Regeln Einfluss zu nehmen. Dies gilt auch für den Deutschen Hochschulverband, der seinen gesamten Schriftverkehr am 1.10.2000 wieder auf die alte Rechtschreibung umgestellt hat.

 

3.                     Die wissenschaftliche Diskussion um die Neuregelung

3.1       Vorbemerkung

Der Text der Neuregelung besteht aus einem Vorwort, einem allgemeinen Regelteil mit 112 Paragraphen und einem Wörterverzeichnis. Im Vorwort werden der Geltungsbereich und die Grundsätze der neuen Rechtschreibung dargelegt. Der Regelteil ist untergliedert in die sechs Kapitel Laut-Buchstaben-Zuordnungen, Getrennt- und Zusammenschreibung, Schreibung mit Bindestrich, Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Worttrennung am Zeilenende. Jedem Kapitel sind Vorbemerkungen vorangestellt, die über Inhalt und Aufbau des Folgetextes informieren. Abgedruckt ist der gesamte Text unter anderem im Anhang des Duden-Rechtschreibwörterbuchs (vgl. Duden 2000), erhältlich ist er aber auch über das Internet (unter http://ids-mannheim.de/grammis/reform/inhalt.html). Aus Platzgründen können nur vier der sechs Regelbereiche zur Sprache kommen: die Laut-Buchstaben-Zuordnungen, die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Groß- und Kleinschreibung und die Zeichensetzung. Einige Paragraphen aus diesen Kapiteln werden vorgestellt, die in der Literatur hierzu vorgetragene Kritik wird referiert und an einzelnen Stellen wiederum kritisch kommentiert.

 

3.2       Laut-Buchstaben-Zuordnungen

Eine wichtige Neuregelung im Bereich der Laut-Buchstaben-Zuordnungen betrifft die Verdopplung des Konsonantenbuchstabens nach betontem kurzen Vokal (vgl. Fluss, Tipp). In der linguistischen Literatur wird weniger die Regel selbst als vielmehr die Regelformulierung in Frage gestellt. So plädiert Eisenberg (1997) dafür, dass die Regel zur Konsonantenbuchstabendopplung nicht auf die Länge des vorangehenden Vokals, sondern auf die Regularitäten zur Silbenstruktur Bezug nehmen sollte. Der Begriff des Silbengelenks spielt in seinem Ansatz eine zentrale Rolle. Als Silbengelenk bezeichnet man einen Konsonanten, der gleichzeitig zur vorausgehenden und zur folgenden Silbe gehört. Das kann man an einem Wort wie Klappe demonstrieren. Im Wortinnern wird hier beim normalen, nicht überdeutlichen Sprechen im Deutschen nur ein Konsonant, /p/, artikuliert. Der für den Plosivlaut /p/ charakteristische Verschluss ist Teil der ersten Silbe, die plötzliche Öffnung, die der Verschlussphase folgt, Teil der zweiten Silbe. In der Schreibung wird dem Rechnung getragen, indem der für den Konsonanten /p/ stehende Buchstabe <p> verdoppelt wird. Eisenberg formuliert auf der Basis dieser Überlegungen sein Alternativkonzept wie folgt: „Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so wird er durch Verdoppelung des Buchstabens für den Konsonanten dargestellt“ (Eisenberg 1997:332) (*3: Der Text der Amtlichen Regelung lautet demgegenüber:" Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdoppelung des Konsonantenbuchstabens"(§2)) Zu dieser Regel kommen Ergänzungen hinzu, die festlegen, dass die Verdopplung auch in den Flexionsformen und Formen abgeleiteter Wörter erhalten bleibt, in denen der Konsonant nicht Silbengelenk ist (vgl. fromm (< fromme), schall (< schallen)). Eisenberg kann damit einige der Fälle erfassen, die in der Amtlichen Regelung als Ausnahmen gelten: In einsilbigen Wörtern mit grammatischer Funktion (z.B. ab, an, bis) tritt keine Konsonantenbuchstabenverdopplung auf, eben weil es keine verwandten Formen gibt, in denen die Konsonanten als Silbengelenk auftreten. Dies gilt auch für eine Reihe fremdsprachiger Wörter wie Chip, Gag, Grog und Kap. Anders ist es mit den Wörtern Bus, fit, Jet, Job, Mob, Pop, Tip, Slip, zu denen es ja verwandte Formen mit Konsonantenbuchstabendopplung gibt (Busse, fitter, jetten, jobben, Mobbing, poppig, tippen, Slipper). Sie werden bei Eisenberg in einer Zusatzregel als Ausnahmen angeführt, d.h. sie gehören zu den Fällen, in denen man den Konsonantenbuchstaben trotz eines Silbengelenks nicht verdoppelt. Andererseits gibt es auch eine Reihe von Wörtern, die den Konsonantenbuchstaben verdoppeln, obwohl keine Silbengelenkschreibung auftritt: denn, wenn, dann, wann, statt, anstatt, bisschen u.a. (vgl. Eisenberg 1997:333). Unproblematisch hingegen sind die Fälle, die in der Amtlichen Regelung unter die Gruppe mit „unklarem Wortaufbau oder mit Bestandteilen, die nicht selbständig vorkommen“ (§ 4, (3)) gefasst werden. Eben weil es bei den unikalen Morphemen Brom- (Brombeere), Dam- (Damwild), Him- (Himbeere) und anderen keinen Bezug zu einer zweisilbigen Struktur gibt (z.B. *Bromme), wird der Konsonantenbuchstabe nicht verdoppelt.

In Eisenbergs Regelformulierung treten vermutlich nicht nur weniger Ausnahmen auf, sie hätte dem Schreiber die Anwendung der Regel erleichtert. Dies gilt gerade für fremdsprachige Deutschlerner. So ist die Vokalquantität in vielen Sprachen kein distinktives Merkmal. Das führt dazu, dass der Sprecher den Unterschied in der Vokallänge nicht spontan wahrnimmt und nur mit Mühe entscheiden kann, ob der betonte Vokal im Deutschen kurz oder lang ist, der folgende Konsonantenbuchstabe also verdoppelt werden muss oder nicht. Außerdem werden viele Deutschlerner im nichtdeutschsprachigen Raum zunächst mit dem Schriftbild konfrontiert (vgl. Földes 2000:203), sie kennen die Aussprache des deutschen Wortes zunächst also gar nicht.(*4: Földes (2000:204) weist darauf hin, dass umgekehrt die neue Rechtschreibung zum richtigen Ausspracheerwerb beitragen kann. Wenn ein Deutschlerner nämlich wisse, dass das Wort mit <ss> geschrieben wird, könne er verlässlich auf die Vokalquantität schließen.)

Der zweite Kritikpunkt betrifft Änderungen im Zusammenhang mit dem Stammprinzip. Diese führen zwar zu durchaus konsequenten Neuschreibungen wie Schifffahrt, aber auch zu Schreibungen wie Gämse, behände, Stängel und schnäuzen. Ickler (1997:39) kritisiert die Inkonsequenz dieser Neuregelung: „Man hat ganz wenige Wörter herausgepickt und sie mit anderen in einem mehr oder weniger künstlichen Zusammenhang gebracht.“ Warum schreibe man Gämse (wegen Gans), warum Schänke (wegen Schank), aber nicht einwänden (wegen Einwand)? Was habe schnäuzen mit Schnauze, behände mit Hand zu tun? Synchron betrachtet lasse sich zwischen einigen Wörtern gar kein Zusammenhang herstellen. Einige seien außerdem etymologisch gar nicht miteinander verwandt, würden also zu Unrecht angeglichen (z. B. Quäntchen/Quantum, belämmert/Lamm, verbläuen/blau, Tollpatsch/toll). (*5: Die Rechtschreibkommission hatte in einem Änderungsvorschlag vom Januar 1998 einige der Altschreibungen als Schreibvariante wieder zugelassen (z.B. Quäntchen/Quentchen; Tollpatsch; belämmert/belemmert; einbläuen/einbleuen), sie waren aber von der Kultusministerkonferenz (KMK) nicht angenommen worden (vgl. Pressemitteilung der KMK vom 12.02.1998, abgedruckt in Ickler 1999).  Durch die Neuschreibungen soll natürlich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Laie hier eine Verbindung sieht. Ob es aber Aufgabe der Sprachwissenschaft ist, solche Volksetymologien zu verfestigen, bezweifelt Ickler (1997:42) zu Recht: „Soll der Sprachwissenschaftler, der es besser weiß, dem nachgeben oder gar bewußt das Falsche zur Ehre der Wörterbücher erheben?“ Andererseits argumentiert Földes (2000:203) aus der Perspektive des Auslandsgermanisten, dass die neuen Schreibungen einfacher lernbar und besser im Gedächtnis einprägbar seien. Dem kann man entgegen halten, dass der Schreiber in jedem einzelnen Fall wissen muss, welches Wort die Basis für die Angleichung bildet. Und selbst wenn er die Ableitungsrichtung kennt, kann er doch nicht sicher sein, dass eine Stammschreibung vorliegt. Bei dem Wort Eltern beispielsweise ist die Schreibung unangetastet geblieben: „In wenigen Wörtern schreibt man ausnahmsweise e. Das betrifft Wörter wie: Eltern (trotz alt); schwenken (trotz schwanken)“ (§ 15). Ickler (1999:43) schreibt hierzu: „Überraschenderweise ist darin von nur ‚wenigen Wörtern’ die Rede, die trotz a-haltiger Grundform ausnahmsweise mit e geschrieben werden. In Wirklichkeit gibt es unzählige: heften (wegen haften), prellen (prallen), schellen (schallen), wecken (wachen) und andere Kausative.“

 

3.3       Getrennt- und Zusammenschreibung

An der Neuregelung der Getrennt- und Zusammenschreibung wird von fachlicher Seite die meiste Kritik geübt. Gegenstand der Diskussion sind z.B. die Wortverbindungen, in denen ein Verb als rechter Bestandteil auftritt. § 34 präsentiert eine geschlossene Liste mit knapp 100 Partikeln, die bei Kontaktstellung mit dem Verb zusammengeschrieben werden; alle anderen, die sich nicht auf der Liste finden, stehen nunmehr getrennt. Ickler (1997:52) merkt an: „Geschlossene Listen sind ein gefährliches Werkzeug. Man darf nämlich nichts vergessen. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass die hundert Partikeln offenbar vom Zufall zusammengeweht sind. dabei, dafür, dagegen, daneben und dazwischen sind angeführt, nicht aber dahinter, darin, darüber, darunter und davor. Es muß also künftig geschrieben werden: dazwischentreten, aber dahinter treten, danebenschreiben, aber darunter schreiben.“ Wenn in der Erläuterung E1 davon die Rede sei, dass bestimmte Partikeln aus dieser Liste doch getrennt vom Verb stehen (z.B. dabei (bei der genannten Tätigkeit) sitzen, wieder (erneut, nochmals) gewinnen), fehle der Hinweis darauf, dass es sich im einen Fall um ein Adverbial (dabei sitzen), im anderen Fall um einen Verbzusatz (dabeisitzen) handle. In der Tat erfasst E1 diesen grammatischen Unterschied nicht, obwohl gerade dieser ausschlaggebend für die Getrennt- bzw. Zusammenschreibung ist. Der Reformer Burkhard Schaeder verteidigt dies damit, dass „durch den Gebrauch grammatischer Fachterminologie (z.B. der Bezeichnung Adverbial) das Verständnis des Textes“ (1997:358), unnötig erschwert worden wäre. Das Argument greift nicht: In einem Erlass, der unter anderem als Grundlage für die Erstellung der Wörterbüchern dient, muss der Anwendungsbereich einer Regel so exakt wie möglich dargestellt werden. Außerdem wird der linguistische Laie ohnehin eher didaktisch aufbereitete Nachschlagewerke benutzen. Schließlich fehlt auch der Hinweis auf ein anderes formales Kriterium, dessen Anwendung keine linguistischen Vorkenntnisse erfordert: die Betonung. (*6: Allerdings ist die Betonung nur für den Schreiber eine Hilfe, der sich auf seine Kompetenz in der Aussprache verlassen kann.) So wird der hörbare Unterschied zwischen wiéder sehen und wiederséhen in der Regelformulierung nicht berücksichtigt.

Ein weiteres Problem stellt sich bei Verbindungen aus Adjektiv und Verb: Wenn das Adjektiv weder erweiterbar noch steigerbar ist, dann schreibt man, so ist in § 34, E2 (2.2) zu lesen, zusammen (vgl. fernsehen). Selbst für den Muttersprachler lässt sich mit diesem Kriterium nicht immer eine klare Entscheidung treffen (z. B. lahm legen oder lahmlegen, bekannt machen oder bekanntmachen?) Ickler (1997a:264) kritisiert aber nicht nur die praktische Umsetzung dieser Regel, er stellt sie prinzipiell in Frage: Ausschlaggebend für die Zusammenschreibung sei, ob es sich bei dem Adjektiv um einen Verbzusatz handle, nicht, ob das Adjektiv weder erweiterbar noch steigerbar sei. Durch die Substantivierung dieser Wortverbindungen entstünden außerdem stark gewöhnungsbedürftige Schreibungen (vgl. die schwer Behinderten, die schwer Verletzten). Einige seien in den Neuauflagen der Wörterbücher denn auch nicht mehr vorgesehen (vgl. Duden 2000), obwohl sie nach der Amtlichen Regelung die einzig mögliche darstellen. Analysiert man die ersten Bestandteile dieser Syntagmen als Adjektive, so stehen sie überdies im Widerspruch zu der grammatischen Regel, dass pränominale attributive Adjektive im Deutschen flektiert werden. Kritisiert wird von Ickler (1997:65) auch die -ig,-isch,-lich-Regel in § 34, E3 (3), die die Getrenntschreibung von Adjektiven mit den Suffixen -ig, -isch und -lich erzwingt: „Jeder fragt sich, was die Adjektivausgänge mit der Getrennt- und Zusammenschreibung zu tun haben. Die Antwort muß lauten: gar nichts. Die willkürliche neue Regel entspringt nur dem Wunsch, die Zusammenschreibungen auf Biegen und Brechen zurückzudrängen“. Man schreibe nun übrig bleiben, obwohl diese Wortverbindung zusammengeschrieben werden müsste, da übrig weder erweiterbar noch steigerbar ist. Schaeder (1997: 362) hält dem entgegen, dass in der alte Rechtschreibung aus verschiedenen Gründen einmal getrennt, einmal zusammengeschrieben wurde (z.B. fertig packen, aber fertigkochen). Seit der Reform gebe es eine einheitliche Regelung, die keine Ausnahmen mehr kenne.

§ 34, E2 (3) listet „Zusammensetzungen aus (teilweise auch verblasstem) Substantiv + Verb mit den folgenden ersten Bestandteilen“ auf. Diese werden weiterhin mit dem Verb zusammengeschrieben: heim-, irre-, preis-, stand-, statt-, teil-, wett- und wunder- (vgl. heimkehren, irreführen, preisgeben, standhalten, teilnehmen, wettmachen, wundernehmen). (*7: Die Liste ist nicht vollständig. Günther (1997:12) weist darauf hin, das not-fehlt.) In allen anderen Fällen erfolgt Getrenntschreibung (z.B. Auto fahren, Eis laufen, Schlange stehen) – und zwar, wie die Gegenüberstellung der Beispiele Eis laufen vs. Eis essen zeigt, unabhängig davon, ob es sich um eine Univerbierung handelt oder nicht (s. u.). Das ist einer der entscheidenden Unterschiede zur bisherigen Regelung. Neu ist auch, dass Verbindungen aus -einander + Verb bzw. -wärts + Verb stets getrennt geschrieben werden müssen (vgl. aneinander hängen, vorwärts blicken), auch wenn Bedeutung und Betonung zwei verschiedene Lesarten nahe legen (vgl. die Schüler auseinander setzen vs. sich mit einer Sache auseinander setzen). Hier werden Unterscheidungsschreibungen aufgegeben, die nicht nur semantisch, sondern auch grammatisch motiviert waren: „Es geht [...] um den auch grammatisch faßbaren Unterschied zwischen reziprokem Pronominaladverb (= „den einen Schüler vom anderen wegsetzen“) und (in diesem Fall) nichtreziprokem Verbzusatz“ (Ickler 1997a:268). Hartmut Günther (1997:12) stellt mit Blick auf Schreibungen wie Eis laufen fest: „Das neue Schriftbild, in dem immer getrennt wird, signalisiert durch das Spatium syntaktische (!) Analysierbarkeit, wo keine vorhanden ist; dies wird verschärft durch die Vorschrift, den nominalen Teil stets groß zu schreiben.“ In der Tat sind die beiden Syntagmen Eis laufen und Eis essen nur an der Oberfläche parallel. Das Substantiv Eis stellt in der Konstruktion Eis laufen keine selbständige Ergänzung dar, es rückt vielmehr in die Nähe eines Verbzusatzes. Es kann nicht in den Plural gesetzt werden und weder einen Artikel noch ein Adjektiv zu sich nehmen (vgl. *das Eis laufen vs. das Eis essen). Während in der alten Regelung der Unterschied über die Getrennt- bzw. Zusammenschreibung zum Ausdruck gebracht wurde (vgl. eislaufen vs. Eis essen), gilt dies für die Neuregelung nicht. Die nunmehr obligatorische Getrenntschreibung steht damit, so Günther (1997:11), „im Gegensatz zum wohldokumentierten Trend zur Univerbierung in der gesprochenen und der geschriebenen deutschen Sprache in den letzten 500 Jahren.“ Dies gilt auch für Verbindungen aus Partikel und Verb. Steht die Partikel nicht in der oben erwähnten Ausnahmeliste, schreibt man sie vom Verb getrennt, selbst wenn sie als Verbzusatz zu analysieren ist. Ein solcher Eingriff muss aus linguistischer Sicht mit Skepsis betrachtet werden. Auch wenn die neue, einheitliche Getrenntschreibung leichter lernbar sein mag – sie steht im Widerspruch zu immanenten Systemveränderungen unserer Sprache.

Nun zu Verbindungen aus Substantiv, Adjektiven, Verbstämmen, Adverbien oder Pronomen mit Adjektiven oder Partizipien (§ 36): Steht der erste Bestandteil für eine Wortgruppe, schreibt man zusammen (vgl. freudestrahlend), ansonsten getrennt (vgl. Furcht einflößend). Zwei Probleme treten hier auf: 1) Ob erste Bestandteil eine ganze Wortgruppe ersetzt, lässt sich, so kritisiert Ickler (1997a:272) zu Recht, nicht immer zweifelsfrei ermitteln. Hinzu komme, dass grammatisch parallele Strukturen aufgrund dieses Kriteriums unterschiedlich geschrieben werden (vgl. arbeitsuchend, aber Wohnung suchend). Im einen Fall schreibe man zusammen, denn es wird kein Artikel eingespart (Arbeit suchen), im anderen Fall getrennt (eine Wohnung suchen). 2) Verbindungen, die in prädikativer Verwendung mit sein auftreten, können gesteigert und erweitert werden, erfüllen damit aus linguistischer Sicht ein wichtiges Kriterium für Zusammensetzungen – und müssen doch der Neuregelung zufolge getrennt geschrieben werden (vgl. eine noch Furcht einflößendere Geschichte). Problematisch sind auch die Schreibungen, die aus der Substantivierung solcher Verbindungen folgen (vgl. die Erholung Suchenden, die Rat Suchenden). Dieter E. Zimmer hebt in der ZEIT-Beilage zur neuen Rechtschreibung gerade diesen Punkt kritisch hervor (10.6.1999, S. 40): „Bei der Neuregelung wurde anscheinend auch nicht bedacht, dass die meisten dieser Verbindungen als Ganzes gesteigert und außerdem substantiviert werden können – und dass dieser Umstand zu widersinnigen, ‚unmöglichen’ Schreibungen wie das nahe Liegendste, das nichts Sagendste führen würde.“

 

3.4       Groß- und Kleinschreibung

An dieser Stelle sollen nicht die Argumente wiederholt werden, die die Befürworter der gemäßigten Kleinschreibung seit Jahren gegen die Substantivgroßschreibung vortragen. Es interessieren hier vielmehr nur die Kritikpunkte, die – die Substantivgroßschreibung als gegeben vorausgesetzt – in Bezug auf die Neuregelung vorgebracht werden. Als problematisch gelten insbesondere drei Fälle: 1) die Großschreibung von Leid und Not in der Verbindung mit tun, 2) die Schreibung von Wortgruppen aus Adjektiv und Substantiv, die zu festen Verbindungen geworden, aber keine Eigennamen sind, und 3) die Schreibung von Substantivierungen.

Zu 1): Leid und Not werden von den Reformern in Verbindung mit tun als Substantive klassifiziert (vgl. § 55 (4)). Betrachtet man Schreibungen wie Es tut mir so Leid, stellt man fest, dass sich aus dieser Klassifikation ein Problem ergibt. Es ist grammatikalisch nämlich nicht möglich, ein Substantiv mit einer Gradpartikel wie noch, sehr oder ziemlich zu verbinden. Gradpartikeln modifizieren Adjektive, nicht Substantive (vgl. Ickler 1999:75). Analoges gilt für die irreführende Großschreibung Recht haben (vgl. wie Recht du doch hast). Auch die Großschreibung in der Konstruktion Pleite gehen wird von Ickler (1999:125) kritisiert: Eine Konstruktion vom Typ [Substantiv + gehen] gebe es gar nicht, man hätte es bei der analogen Schreibung zu kaputt gehen oder entzwei gehen belassen können.

Zu 2): § 63 regelt, dass Adjektive in Wortgruppen, die zu festen Verbindungen geworden sind, kleingeschrieben werden (z.B. die goldene Hochzeit, der blaue Brief), in § 64 werden vier Fallgruppen benannt, die Ausnahmen zu dieser Regel darstellen: Titel und Ehrenbezeichnungen (z.B. der Regierende Bürgermeister), fachsprachliche Bezeichnungen (z.B. die Gemeine Stubenfliege), Bezeichnungen für besondere Kalendertage (z.B. der Heilige Abend) und Bezeichnungen für historische Ereignisse und Epochen (z.B. der Westfälische Friede). Das Problem ist, dass prinzipiell unklar bleibt, unter welchen der beiden Paragraphen eine Wortgruppe fällt: „Was ist denn der Unterschied zwischen der Gemeinen Stubenfliege und dem schnellen Brüter, und wie schreibt man denn nun das schwarze oder das Schwarze Loch der Astronomie, das in keinem der beiden Wörterbücher [Duden u. Bertelsmann, C.D.] enthalten ist?“ (vgl. Ickler 1997:95). Hinzu kommt, dass durch die nunmehr erforderliche Kleinschreibung in Fällen wie die erste Hilfe und das schwarze Brett nicht angezeigt wird, ob es sich um eine feste Wortverbindung handelt. Die Reform ist hier nicht dem Usus vieler Schreiber gefolgt, die einen Phraseologismus über die Großschreibung des ersten Bestandteils der Wortverbindung markieren (vgl. Schwarzes Brett (= Anschlagbrett) vs. schwarzes Brett). Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Schreibung fremdsprachiger Wortverbindungen (vgl. § 55 (3)). Die substantivischen Bestandteile im Innern dieser Verbindungen werden großgeschrieben, wenn die ganze Einheit substantivisch verwendet wird (vgl. die Alma Mater, die Ultima Ratio). Wie aber weiß der Laie, ob es sich um substantivische Bestandteile handelt? Und müsste man dann konsequenterweise nicht für die Kleinschreibung eintreten, wenn die fremdsprachige Wortverbindung mit einem Adjektiv beginnt, also z.B. big Band oder black Box schreiben?

Zu 3): Alle Substantivierungen werden großgeschrieben (vgl. § 57). Das führt zu neuen Schriftbildern wie im Dunkeln tappen, im Trüben fischen, wo die Unterscheidungsschreibung nach wörtlicher und übertragener Bedeutung aufgegeben ist. Doch gibt es nicht weniger als sechs Fälle, in denen Adjektive, Partizipien und Pronomen weiterhin kleingeschrieben werden, obwohl sie formale Merkmale der Substantivierung aufweisen (vgl. § 58). Dies betrifft Verbindungen aus Präposition und Adjektiv ohne vorangehenden Artikel (z.B. von weitem, bis auf weiteres), Pronomen, „auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven gebraucht werden“ (§ 58, E2 (4)) (z.B. mancher, mit den beiden) und die Zahladjektive viel, wenig; (der, die, das) eine bzw. (der, die, das) andere. Gallmann/Sitta (1996:177) schreiben in ihrem Regelkommentar, dabei handle es sich um „eine Konzession an den bisherigen Schreibgebrauch“. Ickler (1997:97) bemerkt hierzu bissig: „Das ist es, und man kann sich alle Pseudobegründungen sparen. [...] ‚Nachschlagen!’ ist das Gebot der Stunde.“

 

3.5       Zeichensetzung

Der Schreiber kann zwischen gleichrangigen, konjunktional verbundenen Teilsätzen und bei Infinitiv-, Partizip- und Adjektivgruppen ein Komma setzen, um die Gliederung des Ganzsatzes deutlich zu machen, er muss es aber nicht mehr (vgl. Der Vorhang fiel(,) und alle klatschten). Beurteilt man diese Neuregelung (vgl. § 72, § 73 und § 76) ausschließlich aus der Schreiberperspektive, so mag man die Liberalisierung der Kommasetzung begrüßen. Einwände kommen vor allem aus zwei Richtungen. Zum einen wird argumentiert, dass der Nutzen einer Schreibregel aus der Leser-, nicht aus der Schreiberperspektive gesehen werden müsse – und aus dieser Perspektive ist die Freigabe des Kommas in bestimmten syntaktischen Konstruktionen ein Rückschritt. Ickler (1997:170) weist am Beispiel von Sätzen wie Sie forderte ihn auf die Wohnung zu verlassen darauf hin, dass es durch das Weglassen des Kommas zu „lesehemmenden Mißverständnissen“ kommen könne. Generell würde durch die Reform die grammatische Kommasetzung wieder durch die altertümliche rhetorische Kommasetzung verdrängt. Die Kommasetzung wird, schreiben Gallmann/Sitta (1996:219) „mehr dem Stilwillen überlassen“. Dies führt uns zum zweiten Einwand gegen die Freigabe des Kommas: Sprachliche Regeln, die im Zentrum des Sprachsystems stehen, sind, so Primus (1997), deterministisch, sie entscheiden über jeden Einzelfall. Kommaregeln, die einerseits dem Schreiber individuelle Wahlmöglichkeit lassen, andererseits einen zentralen Bereich der Orthographie ausmachen, schaffen hier einen Konflikt: „Der in weiten Teilen der Öffentlichkeit bekundeten Begeisterung für die Liberalisierung der Kommasetzung, als handle es sich hier um eine schwer errungene politische oder soziale Freiheit, soll hier die Skepsis von Sprachwissenschaftlern gegenüber einem neuen, im Sprachsystem nicht verankerten Typ von Regel bzw. Norm gegenübergestellt werden. [...] Es bleibt zu hoffen, daß die Schreibenden von der Liberalisierung nicht Gebrauch machen werden und somit die Norm vereinfachen und deterministisch auslegen werden“ (Primus 1997:483).

Drei weitere kritische Anmerkungen zur Zeichensetzung können an dieser Stelle nur aufgelistet werden: 1) Was verhindert, dass Kommas gesetzt werden, die durch die Neuregelung zwar zugelassen, aber aus grammatischen Gründen vollkommen ausgeschlossen sind, wie in dem von Ickler (1997:107) angeführten Beispiel Der Bagger drohte in den Graben zu stürzen? 2) Der Schreiber kann nicht davon ausgehen, dass die Kommasetzung bei Infinitiv- und Partizipialsätzen prinzipiell freigegeben ist. Vielmehr muss er in jedem Einzelfall prüfen, ob die Konstruktion ein Zusatz oder Nachtrag ist, der durch ein hinweisendes Element angekündigt wird (vgl. § 77 (5)). Ist dies der Fall, so ist die Kommasetzung weiterhin obligatorisch. In einem Satz wie Er hatte es satt, zu arbeiten muss beispielsweise ein Komma stehen, in dem Satz Er hatte es schwer eine Familie zu ernähren nicht. 3) Die Reihung von drei Satzzeichen nach der direkten Rede ist nicht nur ästhetisch unbefriedigend, wie das Beispiel „So?“, gibt Maria Sybilla zurück unmittelbar vor Augen führt (vgl. Ickler 1999:195). Das neue Komma ist auch „überflüssig und pedantisch“ (Ickler 1999:194) und stellt im Rechtschreibunterricht „eine beträchtliche Fehlerquelle“ (Baudusch 1997:494) dar. Renate Baudusch (1997:494) zitiert eine Lehrerin, die darauf hinweist, „daß es für die Schüler ohnehin schon schwierig genug ist, hier zwei Satzzeichen zu setzen; eine Häufung von drei verschiedenen Satzzeichen hielt sie für nicht lehrbar.“ Nicht nur Schüler vergessen es häufig, auch Schulbuchbearbeiter: „Während die neue ss-Regelung sofort verstanden worden ist, fehlt in einigen Bänden regelmäßig das neue Komma“ (Ickler 1999:194).

4.                     Fazit

Beurteilt man die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung aus linguistischer Sicht, muss man den Kritikern zugestehen, dass sie einige Probleme aufwirft. Es gibt Paragraphen, die nicht alle Fälle erfassen (z.B. die Änderungen der Stammschreibung). Andere führen zu grammatisch falschen Analysen (z.B. die Getrenntschreibung von Verbzusatz und Verb bzw. Substantiv und Partizip) oder stehen nicht in Einklang mit der linguistischen Theoriebildung (z.B. die volksetymologischen Neuschreibungen Quäntchen und belämmert). Auch Widersprüche treten auf (z.B. übrig bleiben, was nach der -ig,-isch,-lich-Regel getrennt, nach der Steigerbar- und Erweiterbarkeitsregel zusammengeschrieben werden müsste). Mit dieser Kritik soll nichts über den didaktischen Nutzen der Rechtschreibreform ausgesagt werden. Ob die neuen Schreibungen einfacher, systematischer, leichter lernbar sind, muss an anderer Stelle geprüft werden. Es wird auch keine Aussage darüber gemacht, ob die alten Dudenregeln ihrem Beschreibungsgegenstand eher gerecht wurden. Vielmehr sollten einige Punkte zusammengetragen werden, die bei einer Reform der Reform zu bedenken sind.

 

 


Literatur

 

Augst, Gerhard/Blüml, Karl/Nerius, Dieter/Sitta, Horst (Hrsg.) (1997): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen: Niemeyer (= Reihe Germanistische Linguistik 179).

Baudusch, Renate (1997): „Die unproblematischsten Vorschläge sind die zur Zeichensetzung“: In: Augst, Gerhard/Blüml, Karl/Nerius, Dieter/Sitta, Horst (Hrsg.) (1997), S. 489–495.

Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 22., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hrsg. von der Dudenredaktion auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag 2000.

Eisenberg, Peter (1997): Die besondere Kennzeichnung der kurzen Vokale – Vergleich und Bewertung der Neuregelung. In: Augst, Gerhard/Blüml, Karl/Nerius, Dieter/Sitta, Horst (Hrsg.) (1997), S. 323–335.

Földes, Csaba (2000): Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung im Kontext von Deutsch als Fremdsprache und Auslandsgermanistik. In: Deutsch als Fremdsprache 37, S. 199–208.

Gallmann, Peter/Sitta, Horst (1996): Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Regeln, Kommentar und Verzeichnis wichtiger Neuschreibungen. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag (= Duden-Taschenbücher Bd. 26).

Günther, Hartmut (1997): Zur grammatischen Basis der Getrennt-/Zusammenschreibung im Deutschen. In: Dürscheid, Christa/Ramers, Karl Heinz/Schwarz, Monika (Hrsg.) (1997): Sprache im Fokus. Festschrift für Heinz Vater zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, S. 3–16.

Hua, Zongde/Hua, Rong (2000): Über die Schriftreform Deutsch/Chinesisch. Eine kontrastive Untersuchung. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur. Hrsg. v. Zhang Yushu u. Winfried Woesler, Bd. 1, S. 277–292.

Ickler, Theodor (1997): Getrennt- und Zusammenschreibung. Ein Kommentar zu § 34 und § 36 der Neuregelung. In: Muttersprache 107, H. 3, S. 257–279.

Ickler, Theodor (1997a): Die Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich. St. Goar.

Ickler, Theodor (1999): Kritischer Kommentar zur „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ mit einem Anhang zur „Mannheimer Anhörung“. 2., durchges. u. erw. Auflage. Erlangen/Jena: Verlag Palm & Ecke (= Erlanger Studien 116).

Kranz, Florian (1998): Eine Schifffahrt mit drei f. Positives zur Rechtschreibreform. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Primus, Beatrice (1997): Satzbegriffe und Interpunktion. In: Augst, Gerhard/Blüml, Karl/Nerius, Dieter/Sitta, Horst (Hrsg.) (1997), S. 463–488.

Schaeder, Burkhard (1997): Die Getrennt- und Zusammenschreibung (GZS) im amtlichen Regelwerk und aus der Sicht eines ihrer Kritiker: Theodor Icklers „Kommentar zu § 34 und § 36 der Neuregelung“. In: Muttersprache 107, H. 4, S. 354–367.

 

 


 

Dr. Ekkehard Felder

Im Rahmen von Seminarveranstaltungen kann das Internet (neben den gängigen Formen der Darstellung von Inhalten in Form von mündlichen Referaten und schriftlichen Hausarbeiten) dazu genutzt werden, neue Präsentationsformen von Seminarergebnissen zu nutzen. Dafür sind die textuellen Spezifika eines Hypertextes (= über Hyperlinks verbundenes Netz von Texten oder Teilen von Texten, Bild- und Dateneinheiten, in dem sich die Nutzer je nach Interesse bewegen können) zu berücksichtigen, die neue Textproduktions- und Textrezeptionskonzeptionen mit sich bringen. Der Audruck „Hypertext“ bezeichnet in diesem Zusammenhang randunscharf eher eine Anzahl verschiedenartiger Visionen über neue Schreib- und Lesetechniken als ein klar definiertes Konzept. Damit geht ein Perspektivenwechsel einher: Nicht nur das Textprodukt an sich, sondern vor allem auch der Text im Handlungs- und Kommunikationsprozess von Individuen (mittels Computer) wird in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.

Studierende könnten gemeinsam ihr erarbeitetes Spezialwissen in Hypertext-/Hypermedia-Form (Hypertext-Hypermedia erfasst die netzartige Verknüpfung von Text-, Graphik-, Ton-, Bild- und Videoelementen sowie Abbildungen, Animationen, Simulationen) für eine Internetpublikation aufbereiten. Das Schreiben von Texten in Hypertextstruktur kann unter Umständen vorhandene Schreibdefizite insofern abbauen helfen, als ein in sich kohärenter und stringent aufgebauter, linearer und sequenziell geplanter Text in aller Regel als besonders schwierig empfunden wird. Hypertexte für das Internet zu verfassen entlastet die Schreiber/innen während der Textproduktion vorerst, weil ihr Text im Gesamtgeflecht von Texten oder Textbausteinen nur Teilaufgaben erfüllen muss und somit an diesen nicht die gleichen Anforderungen wie an einen traditionellen, linearen und als abgeschlossen betrachteten Text gestellt werden. Erst durch das in Schreibkonferenzen bewusste Verfassen, Zusammenfügen, Neuanordnen und Umschreiben der Textteile zu unterschiedlichen Textsequenzpfaden - sinnvollerweise ist zwischen monosequenzierten (ein vom Autor geplanter Leseweg), mehrfachsequenzierten (verschiedene Lesewege) und unsequenzierten (ohne Lesepfad) Texten zu unterscheiden [Storrer 2000: 240] - erhalten Studierende gleichsam ein Gespür für die Eigenheiten von Textverflechtungen (Aspekt der Intertextualität) und die anspruchsvolle Tätigkeit, sinnvolle und für den Rezipienten nachvollziehbare Übergänge zu explizieren. Wegen der beabsichtigten Veröffentlichung im Internet ist der Anspruch evident, dass die Texte formal, inhaltlich, sprachlich, grammatisch und orthographisch korrekt sowie sachgerecht strukturiert sein sollten und daher mehrfach überarbeitet werden müssen.

Hypertexte zu schreiben hat in Ergänzung der sonstigen universitären Schreibanlässe und praktizierten Schreibaufgaben den ergänzenden und anders gelagerten Vorteil, dass den Textproduzenten durch die Veröffentlichung im Internet bewusst wird, dass die zu verfassenden Texte für bestimmte Zielgruppen (jeweilige Adressatenspezifizierung oder Mehrfachadressierung) und deren spezifisches Vorwissen geschrieben werden müssen (Lernen durch Lehren bzw. Vermitteln als hochschuldidaktisches Prinzip). Eine solche kollektiv erarbeitete Internetpublikation kann eine wichtige Schreiberfahrung für Studierende darstellen.

Literatur:

Storrer, Angelika (2000): Was ist „hyper“ am Hypertext? In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Sprache und neue Medien. Berlin, S. 222

 

 

 


Dr. Ortwin Lämke

Ich habe die Studierenden meines Kurses gebeten, ihre Erfahrungen festzuhalten, um Interessierten einen Einblick zu geben. Eine Korrektur dieser Texte fand nicht statt. Ansonsten wird jeder selbstverfaßte Text im Kurs einer genauen Kritik unterzogen, das steht fest!

 

Studierende über die „Literaturwissenschaftliche Schreibwerkstatt“

Wo lernt man/frouwe schreiben? Jenes scribere (lat ein Nisch: ritzen, kratzen) doch wohl hoffentlich in der Grund=Schule. Doch der Mensch strebt nach höherem sucht seine handwerklichen Fähigkeiten in einer Schreib=Werkstatt zu schulen. Unter professioneller Anleitung ein Genie-Goethe werden oder den bis dato angefangenen Roman/Gedichtband/Kurzgeschichtensammelband fertig schreiben, wenigstens zur Beurteilung dem Seminarleiter vorlegen. PUSTEKUCHE.

Zwar vergißt der leidliche Student niemals die Schreib=Werk=Stadt aus dem Auge zu verlieren, jenes sinnlose Unterfangen doch mit den Buchstaben Geld zu verdienen, aber zukünftige Lehrer, weiß-Blatt-Anstarrer, Stil-Wüteriche und 1. Semester mit den bekannten Unsicherheiten sollten diese Chance ergreifen.                                                             Daniel Rieger

 

Für wen Hausarbeiten ein Buch mit sieben Siegeln sind, der ist in der literaturwissenschaftlichen Schreibwerkstatt richtig aufgehoben. Hier können Schreibblockaden gelöst, hier kann die Angst vor dem ominösen Begriff „Wissenschaft“ genommen werden. Aber auch diejenigen, die an ihrem Stil arbeiten oder ihre Arbeitsweise besser organisieren wollen, erfahren viel Nützliches. Und wo sonst an der Universität gibt es die Möglichkeit, verfasste Texte abzugeben und sie korrigiert – mit ausführlichen Verbesserungsvorschlägen versehen – zurückzubekommen?
                                                                                               
Margit Fockel

 

Die Tatsache, daß viele der Teilnehmer schon in höherem Semester sind, hat mich persönlich positiv überrascht. Positiv, da es mir zeigt, daß auch andere Studenten nach den „Startschwierigkeiten“ noch viele offene Fragen und Schwierigkeiten haben.
                                                                                               Maike Vorberg

 

Eine Werkstatt, in der man schreibt? Dort werden aber statt Hammer oder Säge andere Werkzeuge benutzt, die einem das Schreiben erleichtern können. So zum Beispiel die Methode des Clusterns.
                                                                                              Rebekka Rusche

Schon einmal etwas gehört von „Mind-Mapping“ oder „Clustering“? Was haben diese Begriffe und eine „Einkaufsliste“ bzw. ein „Arbeitsplan“ mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zu tun? Sehr viel sogar, denn Themen und Arbeitstechniken, die hinter diesen Begriffen stehen, dienen dazu, das Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit zu erleichtern. Und diese Techniken sind nicht unbedingt mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden, häufig hilft schon ein kleiner Kniff, um mit einer Hausarbeit oder einem Referat besser zurecht zu kommen.
                                                                                               Alexandra Wieneke

 

Oft hat man von der Kritik gehört, dass die StudentInnen von heute keinen Einsatz mehr zeigen und nur noch die Kurse wählen, wo man einen Schein erwerben kann. Der hohe Andrang bei der Schreibwerkstatt zeigt aber, dass der Wille durchaus da ist, nur bisher das Angebot fehlte.
                                                                                              Sabine Michel

 

Jede Hausarbeit steht und fällt mit der jeweiligen Fragestellung und der Gliederung – beide Elemente sollten im Anfangsteil wiederzufinden sein. Ohne größere Schwierigkeiten ist die Betrachtung von bereits früher angefertigten Einleitungen im Rahmen der Veranstaltung möglich. Unstimmigkeiten bei der Themenwahl, Schwächen im Ausdruck und ein inkonsequenter Aufbau fallen bei der gemeinsamen Korrektur sofort auf. Eine wertvolle Erfahrung ist dabei natürlich der Maßstab des Dozenten, der sich in gewöhnlichen Seminaren nur in Anmerkungen und der Zensur manifestiert.
                                                                                                 Irina Wolk

 

Für mich selber hat sich der Kurs auf jeden Fall gelohnt, da ich bereits eine Schwäche entdeckt habe, die mich bei jeder Hausarbeit wie ein dunkler Schatten verfolgt hat – ich war absolut unorganisiert! Von nun an werde ich mir für jede Hausarbeit einen gut durchdachten Arbeitsplan machen und damit hoffentlich Organisation in mein Hausarbeiten-Chaos bringen.
                                                                                                Yvonne Moß

 

Wir haben zwar auch viel gelesen,
konnten aber, und das war wichtig,
Texte mitbringen, und es gab nicht falsch oder richtig.
                                                                                               Vera Schäfer

 

Außerdem veränderte sich unsere Auffassung von der Schreibtätigkeit mit der Zeit dahingehend, diese als eine Art „Handwerk“ zu betrachten, vergleichbar etwa mit dem Maler- oder Schreinerhandwerk. Die angemessene Ausführung eines Handwerks bedarf einerseits einer systematischen Anleitung und andererseits harter Arbeit in Form von konsequentem Üben, was, wie wir feststellten, unserer Tätigkeit im Seminar gleichkam. Es geht folglich nicht nur um Neigungen, Talente, also Fähigkeiten, denn sie allein reichen nicht aus, es geht vor allem um Fertigkeiten. Auf die sich aufdrängende Frage, warum diese doch schon so alte Erkenntnis in unserem Beschäftigungsbereich bislang noch keine befriedigende Anwendung gefunden hat, konnten wir im Seminar leider keine Antwort geben.
                                                                                                Miriam Steinhäuser

 

Endlich – wird einem in puncto schriftlicher Hausarbeit mal mehr erklärt, als nur Schriftgröße, Zeilenabstand und Zitiertechnik. Denn die Kunst, einen eigenen Text zu schreiben, liegt nicht darin verborgen, die Formalia zu beherrschen. Viel bedeutender ist die Fähigkeit, sich systematisch in ein Thema einzulesen und eigenen Gedanken anschließend strukturieren zu können. Techniken und Arbeitsweisen, die diese Kopfarbeit erleichtern, sollte man jedem angehenden Geisteswissenschaftler zu Beginn seines Studiums mit auf den Weg geben.

Gott sei Dank – kochen Dozenten/innen auch nur mit Wasser. Sie müssen sich genau wie wir durch verschachtelt formulierte Aufsätze quälen und diese mühsam exzerpieren. Auch ihnen verlangen schriftliche Arbeiten offenbar stundenlanges Hin- und Herformulieren ab. (Fazit der offenen und ehrlichen Art, mit der Dr. Lämke über seine eigenen Schreiberfahrungen berichtete).
                                                                                                 Malte Peters

 

Das Seminar findet in lockerer Atmosphäre statt und ist jeglichem Leistungsdruck entzogen. Kurzum, es ist endlich ein Seminar, das zugleich Spaß macht und effektiv ist, in Hinblick auf das gesamte Studium.
                                                                                                   Tanja Deuß

 

Meine Idee oder mein Wunsch wäre es, eine literaturwissenschaftliche Schreibwerkstatt als offene und dauerhafte Einrichtung zu schaffen. So daß es den Studierenden möglich wäre, dort eigene Schreibversuche zu machen.
                                                                                                  Rabea Farke

 

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