Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart  Jg. 7 (2006), Heft 3


 

Georges Bataille: Die Tränen des Eros. Herausgeg. und übers. von Gerd Bergfleth. Mit einer Einleitung von Lo Duca & unveröffentlichten Briefen Batailles. 3. Aufl., Matthes & Seitz Berlin 2005, 258 S. mit über 200 Abbildungen, ISBN: 3882212160, 39,80 €

„Sein Werk gibt dem Irrtum seine größte Chance“ (Marguerite Duras über Georges Bataille)

„Die Tränen des Eros“ („Les Larmes d’Éros“) ist Georges Batailles (†1962) letztes Werk, welches 1961 bei Pauvert, Paris, publiziert wurde. Beim Verlag Matthes & Seitz erschien 1981 erstmals eine deutsche Ausgabe, die nun – lange Zeit vergriffen – unverändert in der 3. Auflage 2005 im selben Verlag vorliegt. Dem Buch ist eine Auswahl an Briefen Batailles an J. M. Lo Duca beigegeben, mit dem er während des Projektes von 1959 bis 1961 im Austausch stand. Diese Briefe geben anhand persönlicher Daten und Ideen, verschiedenen Konzeptionsentwürfen und Diskussionen einen kleinen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Werkes. Des Weiteren steuert Lo Duca einen Einführungstext bei, der nicht so sehr interpretativen Charakter hat, sondern eher einer persönlichen Reminiszenz an den Autor gleichkommt.

„Die Tränen des Eros“ steht in inhaltlicher Beziehung zu den Themen aus Batailles „Lascaux oder die Geburt der Kunst“ (1955) und „Die Erotik“ (1948-1957), aber auch, vom Aspekt der Darstellung und Analyse bildender Kunst her, der Studie zu „Manet“ (1955).

Das wiedergegebene Bildmaterial, welches von prähistorischen Darstellungen (Malereien aus der Höhle von Lascaux) einen großen Bogen bis hin zu zeitgenössischer (Ende der 1950er Jahre) bildender Kunst schlägt, ist von raumgreifender, geradezu überbordender Präsenz. Der Band versammelt über 200 Abbildungen. Von den Schachtszenen aus Lascaux zu Dionysos-, Satyrn- und Mänaden-Darstellungen in der Antike, über frühneuzeitliche Höllendarstellungen hin zu Dürer, Cranach, Grien, der Schule von Fontainebleau, Rembrandt, Rubens, dann Füssli, Goya, Delacroix bis zur klassischen Moderne und letztlich hinführend zu Batailles Zeitgenossen und Weggefährten Masson, Bellmer, den Surrealisten, Bacon. Besonderheit und Kulminationspunkt sind die fotografischen Abbildungen der „chinesischen Folter der 100 Teile“ („Leng-Tsch’e“) am Ende des Buches. Hier stellt Bataille im Text die besondere persönliche Bedeutung dieser Fotografien heraus und betont deren Initiationscharakter für sein eigenes Schreiben.

Die Sujets der Abbildungen sind Nacktheit, Entblößung, Erotik, Tod, ekstatische Zustände, Gewaltsamkeit usf., all jene Elemente, die Bataille in den philosophisch/anthropologischen Diskurs hineinholt und sie dem Denken aussetzt, der sich einheitlich wähnenden Vernunft, einem Bewusstsein, welches mit der Gewalt seines Ausgeschlossenen in Berührung zu treten gezwungen wird. Dies kann nur durch Erschütterungen praktiziert werden, die die Sich-Selbst-Gleichheit der Vernunft durchstreicht, durchkreuzt. Was der Autor der „Expérience intérieure“ so eindringlich und konsequent in seinen philosophischen Hauptwerken am Körper der Sprache exerziert – denn für Bataille ist die Zerrissenheit des sprachlich strukturierten Bewusstseins zentraler Aspekt seines Denkens – erfährt in „Die Tränen des Eros“ eine Akzentverschiebung. Der sprachliche Gestus ist zurückgenommen und macht dem Überborden visueller Eindrücke Platz. Bataille setzt hier auf die Überzeugungskraft der Bilder. Der Text, der hier nicht mit der sonst so starken rhetorischen Kraft auftritt, die man stilistisch von Bataille gewohnt ist, ist knapp und äußerst kondensiert. Er begleitet die Abbildungen und steckt eher den Hintergrund ab, als direkt auf sie einzugehen und sie zu interpretieren. So sehr hier aber auf die Überzeugungskraft des Visuellen gesetzt wird und die Rhetorik zurückgenommen ist, scheint es Bataille wichtig gewesen zu sein, den Text nicht den Bildern zu subordinieren. Das Bild setzt nicht die Rede fort oder ersetzt sie gar, wo sie unzureichend wäre, wie Lo Duca in seiner Einleitung mutmaßt, sondern Sprache und Bild laufen parallel und unhierarchisch, wenn auch der Schwerpunkt konzeptionell beim Bild gesetzt ist.

Ausschnitt aus einer Szene des Schachts in der Höhle von Lascaux, um 13.500 v. Chr.

Die Bilderfolge lässt sich lesen als ein Illustrationskatalog über Wesen und Wandel der Erotik, wobei Erotik verstanden wird als Erfahrung der Transgression, in welcher das Bewusstsein nicht mehr über sich selbst verfügt sondern sich einer Bewegung der Verausgabung überlässt. Bataille findet diesen Kern der Erotik in den dargestellten Kunstwerken materialisiert, sie werden zu Zeugen seiner Anthropologie und er verfolgt diese Bildspur durch die Epochen hindurch in ihren kulturellen Determinationen und Ausprägungen. Die anthropologische Dimension tritt dabei klar hervor: sie zeugt nicht vom Menschen als einem Mängelwesen, sondern vom Menschen, der sich verschwendet und Energie verausgabt, jenseits jeglicher Zwecksetzung und serviler Institutions-Verwiesenheit. Er ist ein Wesen der Grenze, er erschafft sich die Welt der Arbeit, der Vernunft und Erkenntnis (die Welt des knechtischen Bewusstseins), trägt aber das Bewusstsein des Todes in sich, dessen Präsenz er mit Tabus und Verboten belegt, dessen Signatur aber auf dem Grund seines Bewusstseins eingeschrieben ist und dessen Gewaltsamkeit er sich nicht entziehen kann, da sie die Chiffre seines eigenen Begehrens ist. Die Einbrüche, die Risse im knechtischen Bewusstsein, die ängstigen und anziehen zugleich, die die Vorboten eines ekstatischen Selbstverlustes sind, sind die Wirklichkeitsbereiche, die Bataille immer wieder schreibend umkreist. Den intimen Zusammenhang von Erotik und Tod, von Eros und Thanatos, bewusst zu machen, ist Thema des Buches. Wenn Bataille hierzu die bildende Kunst als Repräsentationsmodus heranzieht und eine quasi kunsthistorische Linie zeichnet, so interessiert ihn weniger diese kunstimmanente Entwicklungslinie, als das Herausstellen der Erfahrung dieser menschlichen Wirklichkeit. Kunst hat für Bataille hier nicht den Charakter reflexiver Wirklichkeitsverarbeitung, sondern transgressiver Wirklichkeits(über)steigerung. Das Medium der Kunst fungiert als ästhetische Manifestation der Grenzüberschreitung.

Bataille vertraut auf die Evidenzkraft der Bilder und vertraut auch darauf, dass der Leser diese Bewegung nachvollziehen vermag. Die Abbildungen haben sicherlich unterschiedliche Qualität und können nicht immer diese Wirkung evozieren. Die Darstellung von Nacktheit, Erotik und Gewaltsamkeit erreicht nur dann diese Ebene, wenn der Bildgegenstand die Abwesenheit eines repräsentierenden Sinns, eine Spur der ungegenständlichen Differenz aufzeigt, die nicht vom Bewusstsein eingeholt, aufgehoben werden kann, die also die Repräsentationsfähigkeit des Bewusstseins strapaziert, überschreitet. Batailles Buch ist daher vielleicht am stärksten in der Wiedergabe der Fotografien der chinesischen Folter, die für sein eigenes Schreiben so wichtig waren, ihre Wirkung ist die des „ästhetischen Terrors“, in welchem der Bildgegenstand der Verfügungs- und Vereinnahmungsbewegung der Vernunft entgleitet.

Bataille setzt die moderne Selbstkritik der Vernunft fort, die sich, transzendental obdachlos, über ihre eigene Konstitutions- und Verdrängungsgeschichte aufklären muss. Die Präsentation der Koinzidenz von Erotik und Tod verweist auf die Haltlosigkeit und den inneren Bruch einer sich selbst begründenden Vernunft. Und so gilt es, den Raum bis zu seiner Grenze zu durchschreiten und mit der schauerlichen Paradoxie von Erotik und Tod einen Schritt zu tun, „der uns wegführt von den Kindereien der Vernunft. Der Vernunft, die nie verstand, ihre Grenzen auszumessen“ (S: 22). Dabei stellt Bataille unmissverständlich klar: „Wir haben keinen anderen Ausweg als das Bewußtsein. Mit dem vorliegenden Buch verfolgt der Autor nur ein Ziel: den Zugang zum Selbstbewußtsein freizulegen“ (S: 174). Dieses Freilegen bedeutet keine Gegenbewegung zur Erkenntnis, sondern gelangt zu deren Abjekten, die im Ausgeschlossenen, nicht Subordinierbaren liegen, im blinden Fleck des knechtischen Selbstbewusstseins.

Ausschnitt aus einer Fotografie des "Leng-Tsch'e", der "chinesischen Folter", ca. 1905

Das Diktum Michel Leiris’ über Batailles „halb objektive, halb leidenschaftliche Schreibart“ gilt auch für die „Tränen des Eros“. Die Frage nach der Einordbarkeit in Ethnologie, Anthropologie, Philosophie, Kunsthistorie etc. muss unbefriedigt bleiben. Wer nach geschlossener Systematik sucht, findet nur eine Hälfte davon, nicht deren Fehlen, aber eine halbierte, eine in sich gebrochene. Das Werk muss dem Spezialisten unverständlich sein, der in seiner abgesicherten Enklave ruhig um sich selbst kreist. Es muss ihm sogar ein Ärgernis sein, alles andere als seriös. Bataille durchkreuzt die funktional differenzierten Areale, in denen Wirklichkeit nach Verwertungslogiken handhabbar gemacht und reduziert wird. Er steht somit quer zu einer Systemlogik, die sich durch formale Operation Wirklichkeit in zurechtgeschnittenen Portionen zuführt.
Den unversöhnlichen Dualismus von Erotik und Tod, den „Die Tränen des Eros“ aufspannt, zu umfassen und festzuhalten erfordert Akte der Kraftanstrengung, auch vom Leser. Dies ist keine leichte Lektüre. Man muss bereit sein, sich dem auszusetzen. So bleibt dem Leser entweder nur, das Buch zuzuklappen, oder sich als Komplize zu fühlen, der teilhat an diesem Durchschreiten und Durchstreichen des Bewusstseins, der Zeuge wird einer sich entziehenden Wahrheit, die auch die seine ist.

Lars Steinmann

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