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21.07.2012

Tour de France

Interview mit dem Radprofi vom Team Radio Shack-Nissan-Trek

Jens Voigt und das Kaleidoskop der Emotionen

Jens Voigt ist als Erster aus dem Mannschaftsbus des Teams Radio Shack-Nissan-Trek gestiegen, um Stellung zu nehmen zu der anormalen A-Probe sein Mannschaftskollegen und Freundes Fränk Schleck. Voigt, 40, ist zum 15. Mal bei der Tour de France am Start. Im Interview mit sportschau.de spricht er über den Fall Schleck, das Bild des Radsports, harte Arbeit und warum er immer noch dabei ist.

Jens Voigt; Bildrechte: dpa Lupe groß

Stellung beziehen, wann immer nötig: Jens Voigt

Herr Voigt, wann haben Sie davon erfahren, dass Fränk Schleck positiv auf das Diuretikum Xipamid getestet worden ist?

Jens Voigt: Wir haben es am Dienstagabend beim Essen erfahren. Ich dachte, Fränk wäre noch mit seiner Familie unterwegs. Dann kam die Teamleitung und hat es uns erzählt. Für einen Moment war es ganz still, weil wir diese Nachricht erst einmal verarbeiten und über die Konsequenzen nachdenken mussten.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Voigt: Ich empfinde einfach nur Leere. Wenn so etwas im eigenen Team passiert, ist das keine leichte Situation.

Fränk Schleck ist nicht nur ein Kollege, sondern auch ein Freund. Haben Sie eine Erklärung für die anormale A-Probe?

Voigt: Nein, ich bin genauso überrascht wie er selbst vermutlich auch. Jetzt lasst uns mal die B-Probe abwarten und sehen, was Fränk zu sagen hat. Freundschaft besteht ja nicht nur bei Sonnenschein, sondern auch wenn es regnet. Sobald die Möglichkeit besteht, werde ich mit Fränk reden. Ich will von ihm wissen, was hier los ist, denn das sind bedrückende Neuigkeiten. Ich werde nicht so tun, als sei nichts passiert. Totschweigen ist kein Rezept. Aber ich glaube an ihn.

Können Sie verstehen, wenn nun ein Großteil der Öffentlichkeit mit den Schultern zuckt und sagt, schon wieder?

Voigt: Ja, das geht mir ja auch so. Alles, was ich mir in den vergangenen fünf Jahren gewünscht habe, ist, dass wir mal wieder eine ruhige und friedliche Tour de France erleben, bei der wir uns nur auf den Sport konzentrieren, einen spektakulären Kampf in den Bergen und den Zeitfahren bieten und einen großartigen Gewinner im Gelben Trikot feiern. Stattdessen sehen wir jedes Jahr die unschöne Seite. Das ist wirklich schlimm.

Das ging ja schon bei ihrer ersten Tour 1998 los. Stichwort Festina-Skandal.

Voigt: Natürlich, meine erste Tour – und direkt: paff. Damals dachte ich: Was zum Geier machen die hier? Sind die alle bescheuert?

Das Bild der Radsportler vor allem in der deutschen Öffentlichkeit ist schon länger ramponiert. Wie sehr trifft Sie das persönlich?

Voigt: Ganz klar, da haben uns die Doper keinen Gefallen getan. Deshalb bin ich auch kein großer Freund von zweiten Chancen. Die Doper haben mir echt wehgetan. Ich hatte 'ne recht lange, gute Karriere. Aber natürlich höre ich, wie die Leute hinter meinem Rücken tuscheln: Der Voigt, der Voigt, 40 Jahre alt, fährt hier immer noch. Glauben Sie nicht, dass mir das die Seele vergiftet? Klar ist das ein Scheiß.

Sie selbst werden von vielen Fans aber auch bewundert für Ihren Kampfgeist.

Jens Voigt; Bildrechte: dpa Lupe groß

"Ich war immer ich." Jens Voigt

Voigt: Die Leute mögen mich, weil ich immer loyal war, weil ich immer da war. Ich war nie das Talent, ich war nie der junge Flippige. Ich war immer ich. Andere kamen und gingen. Ich nicht. Ich habe glücklicherweise recht früh erkannt, dass Radsport ein Sport für Arbeiter ist. Je mehr du arbeitest, desto besser wirst du. Erst ganz am Ende kommen Talent, Material, Taktik, Ernährung.

Haben Sie selbst daran geglaubt, dass Sie mit 40 immer noch da sein würden?

Voigt: Ganz sicher habe ich das nicht so geplant. Ich habe dafür aber auch eine ganze Menge aufs Spiel gesetzt. Es ist ja nicht so, dass wir hier Pingpong spielen. Ich habe 25 Nägel und Schrauben in meinem Körper gehabt, ich bin mit ungefähr 110 Stichen überall genäht worden, hatte acht gebrochene Knochen. Wahrscheinlich habe ich im Laufe meiner Karriere einen Quadratmeter Haut erneuert.

Was ist hängen geblieben von 15 Jahren bei der Tour?

Voigt: Die Tour ist das ganze Kaleidoskop der Emotionen. Das ging gleich bei der ersten Tour los, als ich in Pau Zweiter der Etappe wurde und das Bergtrikot erhielt. Am nächsten Tag bin ich gestürzt und habe eine halbe Stunde und das Trikot verloren. Aber dann kommt diese Ehrenrunde auf den Champs Èlysées: Eine Million Menschen am Straßenrand, du rollst da langsam berghoch, die Leute klatschen und schreien, du siehst den Triumphbogen vor dir. Da denkt man: Genau dafür machst du das. Was noch? 2001 der erste Etappensieg und Gelbes Trikot, 2006 nochmals das Gelbe Trikot und eine Etappe, 2008 der Toursieg mit Carlos Sastre und der Sieg in der Mannschaftswertung. Schön war, dass da alle neun Fahrer bis nach Paris gekommen sind. Das kommt nicht so oft vor. Das habe ich in den 15 Jahren vielleicht zwei, drei Mal erlebt. Das war der Höhepunkt, besser kann es kaum werden.

Dann kam 2009 der schwere Sturz.

Voigt: Ja, genau, ja, ja 2009... Zum Glück erinnere ich mich nicht mehr an allzu viel. Diese Erinnerung braucht aber auch keiner.

Warum haben Sie danach trotzdem weiter gemacht?

Voigt: Ich kenne mich. Ich hätte ein Leben lang mit mir gehadert und mich ewig wie jemand gefühlt, der weggelaufen ist. Das wollte ich nicht. Ich wollte kein bitterer alter Mann werden und darüber grübeln, was geschehen wäre, wenn ich nicht aufgehört hätte.

Es heißt, es gebe bei jeder Tour einen Tag, an dem Sie verzweifeln. Gab es den diesmal auch schon?

Voigt: Ja, am Montag war so ein Tag, wo ich dachte: Wie soll ich jemals nach Paris kommen? Es ging den ganzen Tag rauf und runter. Bei solchen Etappen kannst Du dich nicht verstecken. Das sind so Tage, wo die vorne um den Sieg fahren und die hinten ums Überleben. Keiner wartet auf keinen, es gibt keine Struktur, kein Gruppetto. Da heißt es: Rette sich wer kann! Wenn du an solchen Tagen nicht super gut drauf bist, leidest du unheimlich.

Ist Aufgeben in solchen Momenten nie ein Thema für Sie?

Voigt: Doch, manchmal denkt man schon: Jetzt so ein kleiner, schicker Schlüsselbeinbruch wäre weniger schlimm als weiterfahren.

Baut man sich auf so einer Etappe dann gegenseitig auf?

Voigt: Ja, das macht man schon. So ab der letzten Woche ist der Respekt unter den Fahrern größer. Je mehr man zusammen leidet, desto mehr schweißt das zusammen – egal welche Nation, Mannschaft, Religion. Aber das ist auch nur bei der Tour so.

Hat sich Ihre Rolle im Laufe der Jahre verändert? Sind Sie jetzt mehr derjenige der Zuspruch gibt?

Voigt: Ganz sicher. Nach 15 Tour-Teilnahmen weißt du, dass es immer weiter geht. Auch wenn du meinst, jetzt bist du an der Wand. Im Idealfall ist es wie ein geschlossener Kreislauf: Du bist jung, unerfahren, kriegst Hilfe. Dann bist du im oberen Drittel des Kreises und wirst dafür bezahlt, Resultate zu bringen. In dem Moment bist du egoistisch. Du nimmst mehr, als du gibst. Und am Ende schließt sich der Kreis wieder und du gibst mehr als du nimmst. Was ich als junger Profi an Unterstützung erhalten habe, gebe ich jetzt zurück. Im Idealfall ist die Balance zwischen Geben und Nehmen am Ende ausgeglichen.

Der Kreis soll sich dieses Jahr aber noch nicht schließen?

Voigt: Neulich lief ein Fan am Berg hinter mir her und hat gerufen: Jeeeens, unterschreib noch einmal für 15 Jahre, wir können nicht genug von dir kriegen. Da habe ich gedacht: Seid ihr verrückt? Aber ein Jahr würde ich gerne noch dranhängen.

Warum? Was steckt dahinter?

Voigt: Ich denke, ich bin einer der wenigen glücklichen Menschen auf dieser Welt, die es geschafft haben, etwas zu finden, worin ich a) gut bin, was mir b) Spaß macht und was ich c) zu meinem Beruf machen konnte. Das gibt es, glaube ich, nicht sehr oft. Ich habe das Glück, dass das alles zusammenpasst. Dadurch war es immer relativ einfach weiterzumachen.

Wenn Sie noch ein Jahr dranhängen, werden Sie dann auch die 16. Tour in Angriff nehmen?

Voigt: Ich werde meinen Platz natürlich nicht freiwillig aufgeben. Aber der Körper wird ja nicht jünger, es wird also nicht leichter.

Und was machen Sie dann im Sommer?

Voigt: Wissen Sie, wie toll es ist, in meinem Garten zu grillen? Das ist das Allerbeste. Früh aufstehen, am Morgen angeln, ein paar Brötchen heimbringen, frühstücken, dann mal trainieren. Am Nachmittag schmeißt du dann den Grill an, und genau wenn die Tour de France im Fernseher anfängt, hast du ein riesiges Steak auf dem Teller und Bier im Glas. So stelle ich mir das vor.

Sie würden sich die Tour im Fernsehen anschauen?

Voigt: Ich denke schon.

Ganz ohne Sehnsucht? Im Leben nicht.

Voigt: Doch. Ich verstehe nicht, dass die Leute daran zweifeln. Auf keinen Fall fasse ich dieses Fahrrad noch einmal an, wenn ich aufgehört habe. Mein Herz müsste ein Affe sein. Nee, um das Rad kommt 'ne fette Kette drum, da wachsen dann Spinnweben dran. Zwei Mal im Jahr fahr ich damit zum Eisessen mehr nicht.

Das Interview führte Michael Ostermann

Stand: 19.07.2012, 08:46

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