Ror Wolf hat eine Vorliebe für das Spiel mit literarischen Genres. Er hat Heimat- und Abenteuerromane geschrieben, einen Reiseroman, in dem nur im Kopf gereist wird - und nun legt er einen ausdrücklichen "Horrorroman" vor: "Die Vorzüge der Dunkelheit. Neunundzwanzig Versuche die Welt zu verschlingen". Entstanden ist das Buch nach einer Krebsoperation, es geht auch auf Vorstellungen und Visionen des Kranken zurück, die er in wachen Phasen notierte. Was hier beschrieben wird, sind halluzinatorisch-groteske Geschehnisse: Körperteile kommen abhanden, Länder und Kontinente werden in kürzester Zeit durchmessen, Zeiten verwischen, Identitäten bleiben unklar.

Surrealismus in Text und Bild

Wer ist der einsame Erzähler, wer sind die Personen, mit denen er es zu tun bekommt, wer der immer wieder auftauchende "Mann neben mir"? Und welche Rolle hat jener schwer greifbare "Doktor Q", der Wolf-Kennern schon aus Hörspielen vom Ende der 60er-Jahre bekannt ist und nun wieder auftaucht? Der Text im neuen Buch von Ror Wolf wird von ganzseitigen Bild-Collagen begleitet, die den Surrealismus des Geschriebenen halten. Ror Wolf bedient sich bei historischen Illustrationen und technischen Zeichnungen und versetzt sie in eine traumhafte, auch albtraumhafte Welt - und wie im Traum kommen Vagheit und Präzision in Text und Bild sehr gut miteinander aus.

Romane, Prosa-Miniaturen, Hörspiele

Dies sei sein letzter Roman, hat Ror Wolf im Interview mit Denis Scheck gesagt, denn nun habe er das entsprechende Alter erreicht - und die Absicht, an eine Art Autobiografie zu gehen. Viel zu berichten hätte er: über den reichen intellektuellen Kosmos, aus dem er schöpft, aber auch von der Frühzeit der beiden deutschen Nachkriegsstaaten, von der alten Bundesrepublik, ihren politischen Wandlungen und ihrer literarischen Szene. Und das, obwohl er selbst zumeist eher eine Randfigur des berühmten Betriebs geblieben ist.

Ror Wolf wurde 1932 im thüringischen Saalfeld geboren. Nach dem Abitur war er Betonbauer in der DDR, seine Bewerbungen für ein Studium wurden abgelehnt. 1953 verließ er die DDR, ein Jahr später begann er in Frankfurt am Main Literatur, Soziologie und Philosophie zu studieren. Er veröffentlichte erste Prosa-Arbeiten, Lyrik, Bild-Collagen und Kritiken. Nachdem er für einige Zeit als Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk gearbeitet hatte, wagte Wolf 1963 ein Leben als freier Schriftsteller. Seinen Debütroman "Fortsetzung des Berichts" (1964), gelegentlich als deutscher "nouveau roman" bezeichnet, veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag. Ende der 60er-Jahre entdeckte Wolf das Hörspiel als literarische Gattung, die seiner Collage-Technik entgegenkam. Es entstanden seine legendären Fußball-Hörspiele, Montagen aus Originaltönen von Reportern und Fans. Text, Bild, Ton: Ror Wolf war lange ein multimedial arbeitender Künstler, bevor der Begriff in Umlauf kam.

Kapriolen des Weltwissens

Ror Wolf hat einen besonderen Blick für das Alltägliche, die Grotesken und Fährnisse des Lebens, die Schräglagen des Moments. Seine Prosa reflektiert diesen Blick, vom Romantext bis zur Miniatur, was bei ihm aber nicht heißt, das seine Arbeiten etwas Biedermeierliches hätten. Inhaltlich verweigern sie die schlüssige Fabel, formal geben sie sich nie als das Leben selbst, sondern immer als Sprachkunstwerke. Schon 1966 schrieb Wolf in einer Selbstauskunft zu seinem literarischen Verfahren, es gehe ihm nicht darum, sein Material "im Rohzustand" aneinanderzukleben oder frei wuchern zu lassen: "Die Stofftrümmer" würden stattdessen "eingeschmolzen und mit allen Handgriffen der Stilisierung bearbeitet. Wortreihen und Satzperioden sind auf Rhythmus und Klangwirkung aus; Motive verabreden sich miteinander und werden kaleidoskopisch abgewandelt".

Den Ordnungswillen des Verstandes gegenüber den Rätseln und der Vielgestaltigkeit der Welt hat Wolf mit speziellem Vergnügen literarisch bearbeitet. Unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer, das ein Anagramm seines ersten Vornamens Richard ist, veröffentlichte er von Beginn der 80er-Jahre an ironisch-surreale Enzyklopädien, die mit Zitaten aus historischer Ratgeberliteratur, Parodien, Imitationen und Illustrationen arbeiten. Was Weltwissen sei oder nicht sei, das wird hier mit Sinn für das Randständige und den Sprachklang neu definiert.

Die Werke Ror Wolfs werden im Schöffling-Verlag herausgegeben. Dort ist neben dem neuen Roman "Die Vorzüge der Dunkelheit" gerade eine Ausgabe der Hörspiele mit beiliegender CD erschienen: "Die Einsamkeit des Meeresgrunds". Für den Diwan stellt Kathrin Hillgruber die Neuerscheinungen vor und gratuliert Ror Wolf zu seinem 80. Geburtstag. Zu hören ist ihre Würdigung in der Sendung am Samstag, 23. Juni 2012 ab 14.05 Uhr auf Bayern 2.