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Das Wort Kurzgeschichte ist eine
Lehnübersetzung des amerikanischen Gattungsbegriffs short story, ist aber mit diesem
nicht deckungsgleich, da die deutschsprachige Kurzgeschichte gegen
andere etablierte Formen der erzählenden Kurzprosa (z. B. Novelle,
Anekdote, Kalendergeschichte) abzugrenzen ist. Insbesondere die
Dominanz der Novelle verhinderte eine frühe Entwicklung der
Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum. Erst nach 1945
setzte eine produktive Rezeption der am. short story ein, wobei
die jungen deutschen Schriftsteller sich vor allem von Ernst Hemingway
beeinflussen ließen.
Im folgenden wird auf die
deutschsprachige Kurzgeschichte unter folgenden Aspekten näher
eingegangen:
1)
Geschichte/Entstehungsbedingungen
2) Themen
3) Formale Eigenschaften
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1)
Geschichte/Entstehungsbedingungen
Die Geschichte der
deutschsprachigen Kurzgeschichte ist sehr jung und beginnt erst mit dem
Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese Geschichte hat mit der
literarischen Situation in Deutschland nach dem Dritten Reich zu tun.
Kurz gesagt, bot sich mit der Kurzgeschichte eine Gattung an, die
'unbelastet' war, die ideologisch noch nicht mißbraucht war. Man suchte
nach einem literarischen Neuansatz, und diese Suche war verbunden mit
der Suche nach neuen literarischen Formen. Man wollte sich von der
Vorkriegs- und Kriegsliteratur distanzieren und nahm vor allem von der
pathetischen, nationalsozialistischen Dichtung Abstand.
Die Kurzgeschichte bot sich an,
eine neue, unbelastete Sprache zu finden und ubernahm damit eine
Pionierfunktion. Sie war eine Gattung, die den Forderungen nach dem
literarischen 'Kahlschlag' am ehesten nachkam.
'Kahlschlag' bezeichnet eine
Waldfläche, auf der alle Bäume gefallt worden sind bzw. das
Schlagen/Fallen von Bäumen in einem Wald; im vorliegenden,
literaturhistorischen Zusammenhang bedeutet 'Kahlschlag' den radikalen
Neuanfang; das bedeutet natürlich auch, daß man sich mit der
Vergangenheit nicht mehr auseinandersetzen muß. Alfred Andersch sprach,
um die Situation der Literatur nach 1945 zu kennzeichnen, von der
'Stunde Null'. Ein frühes Zeugnis fur diese Position ist Wolfgang
Weyrauchs (1907-1980) Feststellung in seiner berühmten Anthologie Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher
Geschichten :
"Die
Männer des Kahlschlags [...] wissen, oder [...] ahnen es doch
mindestens, daß dem neuen Anfang der Prosa in unserem Land allein die
Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind. Die Methode der
Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den
Preis der Poesie. Wo der Anfang der Existenz ist, ist auch der Anfang
der Literatur." (Wolfgang Weyrauch: Tausend Gramm. Sammlung neuer
deutscher Geschichten. Hamburg 1949, S. 194-219, hier: S. 217.)
Weyrauch behauptet aber nicht
allein, daß die Gattung Kurzgeschichte diejenige Gattung ist, die in
der damaligen historischen Konstellation der Situation der Literatur
und der Autoren am ehesten entsprach. Er insistiert auch auf einer
Erkenntnisfunktion ("Wahrheit"!) der Literatur und unterscheidet
verschiedene Kategorien Schriftsteller:
"Die einen schreiben das, was
nicht sein sollte. Die anderen schreiben das, was nicht ist. Die
dritten schreiben das, was ist. Die vierten schreiben das, was sein
sollte. Die Schriftsteller des Kahlschlags gehören zur dritten
Kategorie." (Ebd.)
Wichtig für die Verbreitung der
Kurzgeschichte war die Gruppe 47.
Ihr gehörten Schriftsteller an, die bekannte Kurzgeschichtenautoren
waren (Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Alfred Andersch, Martin
Walser).
Die Gruppe 47, 1947 von Hans
Werner Richter gegründet, war eine Gruppe von Kritikern und
Schriftstellern, die die westdeutsche Literatur etwa 20 Jahre lang
beherrschte. Kritiker und Schriftsteller trafen sich in unregelmäßigen
Abständen und lasen auf Einladung Richters aus unveröffentlichten
Texten vor. Seit 1950 wurde der "Preis der Gruppe 47" verliehen, der
einer der renommiertesten Literaturpreise in der BRD werden sollte.
Preisträger und -trägerinnen waren u. a. Günter Eich, Heinrich Böll,
Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Günter Grass,
Johannes Bobrowski, Jürek Becker) .
Ästhetisches Programm dieser
Gruppe war der Verzicht auf Poetisierung. Die Schriftsteller wollten
eine schmucklose, präzise, schlichte Beschreibung der aktuellen
Situation in einer realitischen, zeitgemäßen Sprache.
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2) Themen
Die Themen der Kurzgeschichte
änderten sich im Laufe der Zeit und waren einem inhaltlichen Wandel
unterworfen.
Charakterisierte die
Kriegsthematik die Kurzgeschichten bis in die 50er Jahre (z. B.
Alltagsszenen aus kriegszerstörten Städten), so fanden danach auch
andere aktuelle Themen Eingang: Arbeit, Politik (Kulturpolitik, vgl.
die Texte von Hildesheimer und Fuchs!), Umwelt, zwischenmenschliche
Beziehungen.
Aber auch die späteren
Kurzgeschichten zeichnet aus, daß sie einen engen Bezug zur
Zeitgeschichte herstellen. Sie sind gegenwartsbezogen, gesellschaftlich
engagiert und treffen eine moralisch-politische Aussage.
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3) Formale Eigenschaften
Hans Bender, ein wichtiger
Kurzgeschichtenautor der deutschen Nachkriegsliteratur, nannte die
Kurzgeschichte einmal ein "Chamäleon der literarischen Gattung" (Hans
Bender: Ortsbestimmung der Kurzgeschichte. In: Die amerikanische
Kurzgeschichte. Hrsg. von Hans Bungert, Darmstadt 1972, S. 333-354,
hier: S. 335) Man könnte diese Aussage so verstehen, dass sich die
Kurzgeschichte als Genre jeder gattungsspezifischen Festlegung entzöge. Das
wollte H. Bender freilich nicht sagen. Seine Behauptung reflektiert
vielmehr den Sachverhalt, daß die Kurzgeschichte historisch gesehen (im
Unterschied zum Roman, zur Novelle) eine junge literarische Gattung ist
und daher eine Gattungsdefinition schwerfällt. Je jünger die Gattung,
desto höher ist der Legitimationsbedarf.
Der Begriff deutet an, daß Kürze eine zentrale Eigenschaft der Gattung
ist. Kürze ist hier nicht nur quantitativ (vom geringen Umfang),
sondern qualitativ zu verstehen: Kürze meint sprachliche Verdichtung,
konzentrierte Gestaltung.
Verdichtende/intensivierende
Formmittel:
- ausschnittsweise/fragmentarische
Darstellung eines Geschehens
- Abruptheit des Erzählanfangs;
unvermittelter Erzähleinsatz (in medias res)
- zeitliche Sprung-, Raffungs und
Oberlagerungstechniken
- Figurenarsenal beschränkt sich
auf 2-3 Personen
- pointierte Dialogisierung;
kurze, knappe Dialoge
- parataktischer Satzbau
- Rätselcharakter des Titels
- knapper, nüchterner Erzählstil
Der Ausschnittcharakter der
Kurzgeschichte – es handelt sich oft um eine literarische
Momentaufnahme – kam einer Generation entgegen, die nur über
Schockerlebnisse verfügte, und die diese Erlebnisse nicht in einen
großen Zusammenhang bringen konnte. Diese Generation stellte sich die
Frage, wie erzählt werden soll bzw. kann. Die Grundlagen des eigenen
Schreibens wurden in der Nachkriegszeit neu überdacht und neu
reflektiert: Beschrieben werden kann nur, was der einzelne erlebt hat.
Daher wird in Kurzgeschichten selten über ein Geschehen reflektiert, es
werden nicht übergreifend Zusammenhänge dargestellt.
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Generell gelten folgende
Merkmale für die Kurzgeschichte:
a) Die Kurzgeschichte steht in
ihrer historischen Entwicklung in engem Bezug zur deutschen
Nachkriegsliteratur: Wichtige Impulse enthielt sie von der
angelsächsischen short story.
b) Die Kurzgeschichte ist im
Ansatz realistisch, d. h. sie versucht, Stoffe aus der Wirklichkeit zu
nehmen und diese Wirklichkeitserfahrung literarisch zu gestalten (Mäusefest). Das schließt aber nicht
aus, daß nicht auch Träume oder Phantasien, also innere Dimensionen der
Wirklichkeit, die äußere sichtbare Dimension der Wirklichkeit ergänzen
können. (Beispiel: Moises Gespräch mit dem Mond.)
c) Die Kurzgeschichte ist eine
literarische Form von höchstem künstlerischem Anspruch. Da sie im
Unterschied zu anderen traditionellen epischen Gattungen (Roman,
Novelle, Erzählung) Sachverhalte nicht ausführlich darstellen kann, muß
sie mit Verknappung, Aussparung, äußerster Konzentration arbeiten. Oft
wird das Wichtigste durch einzelne Wörter oder Sätze gesagt bzw.
angedeutet.("Mäuse können das."; "wird unsere Raumflüge überdauern") Es
handelt sich um eine Technik der sprachlichen Konzentration.
d) In der Kurzgeschichte wird
meist ein bestimmter Zeitpunkt, ein bestimmter Lebensausschnitt, eine
bestimmte Situation dargestellt. Die Gesamtheit einer Lebensgeschichte
oder Lebenserfahrung (z. B. die Moises in Mäusefest; das Boulettenessen
Eosanders in einer Kneipe) ist auf einen entscheidenden Augenblick
komprimittiert. Eine belanglose Geste, eine alltägliche Situation, ein
beiläufiges Zeichen erschließen schlagartig die gesamte Dimension der
Wirklichkeit.
e) Was die Struktur des Erzählens
in der Kurzgeschichte betrifft, so entspricht der abrupte
Erzähleinstieg nicht einem abrupten Ende. Anfang und Ende sind nicht
gleichartig aufeinander zugeordnet. Vielmehr ist die Kurzgeschichte
trotz ihres häufigen unvermittelten Beginns so aufgebaut, daß die
Erzählbewegung sich auf einen Kulminationspunkt, auf eine Pointe zu
bewegt. Mit diesem Kulminationspunkt nimmt das Geschehen oft einen
unerwarteten Umschwung, durch den das im Text mitgeteilte Geschehen
einen neuen Sinn erhalt.
f) Eine eindeutige
Erzälperspektive herrscht oft vor.
- Ich-Erzähler (Hildesheimer)
- ein allwissender Erzähler (Fuchs, Bobrowski; bei Bobrowski allerdings
eine Verschmelzung von der
Erzählerrede und Figurenrede)
g) Die Themen stammen aus der
empirisch möglichen Realität (im Unterschied zu Fabel, Parabel,
Legende, Märchen). Allerdings wird manchmal auch ein Spiel mit Fiktion
und Wirklichkeit getrieben.
Heinrich Böll brachte der
Kurzgeschichte eine große Hochachtung entgegen, seine Einschätzung sei
abschließend zitiert:
"Es gibt nicht die Kurzgeschichte.
Jede hat ihre eigenen Gesetze [...]. Ich glaube, daß sie im
eigentlichen Sinn des Wortes modern, das heißt gegenwärtig ist,
intensiv, straff. Sie duldet nicht die geringste Nachlässigkeit, und
sie bleibt für mich die reizvollste Prosaform, weil sie auch am
wenigsten schablonisierbar ist. Vielleicht auch, weil mich das Problem
'Zeit' sehr beschäftigt, und eine Kurzgeschichte alle Elemente der Zeit
enthält: Ewigkeit, Augenblick, Jahrhundert. Es ist ein ganz
verhängnisvoller Irrtum, wenn etwa ein Redakteur zu einem Autor sagt:
Schreiben Sie uns doch mal eine Kurzgeschichte. Sie können das
doch...Es kann Jahre dauern,ehe ich mit einer Kurzgeschichte zu Rande
komme, das heißt, ehe ich sie hinschreiben kann [...]." (Zitiert nach
Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1968, S.
168-174, hier: S. 170.)
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