Georg Scherer


Geboren am 2. März 1906 in Pasenbach, Bezirksamt Dachau, gestorben am 8. April 1985 in Dachau

Auf allen Stationen seines Lebens, als KZ-Häftling, als Kommunalpolitiker, als Unternehmer und als Förderer des Sports, bleibt er seinen sozialen Idealen treu


Seine Jugend wird von Armut und Elend überschattet. Georg Scherer verliert schon früh seine Mutter. Der Vater zieht mit der Familie von Pasenbach nach Dachau, wo er in der ehemaligen Pulver- und Munitionsfabrik Arbeit findet. Für den Besuch der Schule bleibt dem Jungen wenig Zeit, da er oft während des Unterrichts zum Arbeiten auf die Felder geschickt wird »Für ein Butterbrot«, wie er sich ausdrückt. hat er außerdem nicht selten einen Ochsen stundenlang im Moos zu hüten. Weil daheim für eine Lehre kein Geld vorhanden ist, wird Georg zu einem Bauern nach Breitenau bei Dachau gegeben. wo er sich den Lebensunterhalt selbst verdienen muß. Sein sehnlichster Wunsch ein Handwerk zu erlernen, erfüllt sich erst nach dem Tod des Vaters, der bei der Demontage von Munition ums Leben gekommen ist. Die »Deutschen Werke«. welche die Anlagen der Pulver- und Munitionsfabrik im Jahre 1920 übernommen haben. bieten dem Sohn eine Lehrstelle an, damit er später mit dem erlernten Beruf die Familie ernähren kann.

Werkmeister bei BMW

Nachdem Scherer als Eisendreher ausgelernt hat. blickt er wieder voller Sorgen in die Zukunft. Sein Lehrbetrieb schließt, und er ist ohne Arbeit. Schließlich findet er bei den »Bayerischen Motoren Werken« (BMW) in München eine Stelle. in der er es zum Werkmeister bringt. Die Position hat er jahrelang inne. Scherer behält seinen Wohnsitz in Dachau. Dort tritt der begeisterte Sportler im Jahre 1923 dem »Arbeiter-Turn- und Sportverein« (ATSV) bei, der ihm auch, wie er später immer wieder betont, zur »politischen Heimat« wird. Als Geräteturner, Handballer und Leichtathlet macht er bald von sich reden. So nimmt er sogar an der 1. Internationalen Arbeiter-Olympiade teil, die vom 24. bis zum 28. Juli 1925 in Frankfurt am Main stattfindet. und gewinnt dort den 1500-Meter-Lauf. Der Dachauer Verein schickt ihn auch zum Besuch der »Bundesschule des deutschen Arbeiter-Turn- und Sport-Bundes« (ATSB) nach Leipzig, wo Lehrwarte, Schiedsrichter und Übungsleiter ausgebildet werden.

Opfer eines Provokateurs

Dem Nationalsozialismus steht Scherer von Anfang an ablehnend gegenüber. An seiner Haltung ändert sich auch nach der »Machtergreifung« Hitlers nichts. Standhaft weigert er sich gegenüber dem Betriebsleiter bei BMW, in die NSDAP einzutreten. Mit seinen Äußerungen gegen das NS-Regime. die er offen am Arbeitsplatz macht. zieht er sich die Feindschaft des Vorgesetzten zu. Um Scherer zu Fall zu bringen. wird auf ihn ein Spitzel der Bayerischen Politischen Polizei (später wie in Preußen »Geheime Staatspolizei« genannt) angesetzt. Der Ahnungslose vertraut dem Fremden und läßt sich von ihm Flugblätter mit regimefeindlichem Inhalt aushändigen, die er in Dachau unter Freunden verteilt. Wiederholt trifft er den Provokateur nach Arbeitsschluß an einem geheimen Ort unweit von BMW in München, wo er neues Material übernimmt. Die Tätigkeit wird Scherer zum Verhängnis. Am 22. Dezember 1935 erscheint plötzlich die Polizei in der Turnhalle an der Brunngartenstraße in Dachau und nimmt den Überraschten fest, der dort gerade eine Weihnachtsfeier für den Arbeitersportverein einstudiert hat.

Häftling im Konzentrationslager Dachau

Nachdem Scherer zunächst ins Dachauer Amtsgerichtsgefängnis gekommen ist, wird er am Heiligen Abend ins Konzentrationslager gebracht. Hier erlebt er sein erstes Weihnachtsfest hinter dem Stacheldraht. Im Januar 1936 wird er aus dem Lager zum Verhör ins Wittelsbacher- Palais nach München überstellt, wo die Vernehmungsbeamten von ihm wissen wollen, an welchen Personenkreis er die Flugblätter verteilt hat. Doch Scherer leugnet entschieden, jemals belastendes Material erhalten zu haben. Ihm wird bewußt, daß er das Opfer eines Komplotts geworden ist. Um die andere Seite in Verlegenheit zu bringen, verlangt er, dem Mann gegenübergestellt zu werden, der ihm die Blätter übergeben hat. Als die politische Polizei erkennt, daß aus ihm nichts herauszuholen ist, schickt sie ihn nach acht Tagen schwerster Mißhandlungen ins Dachauer Lager zurück. Das Elend im KZ belastet Scherer so sehr, daß er in der ersten Zeit jeden Abend weinend auf seinem Strohsack liegt. Die Brutalität, die einzelne Häftlinge im Umgang mit ihren Mitgefangenen zeigen, erschüttert ihn mehr als das Schreckensregiment der SS. Er nimmt sich vor, die Selbstjustiz der Gefangenen, die vor allem Brotdiebe trifft, abzuschaffen, wenn dies einmal in seiner Macht liegen sollte. Scherer bleibt sich in seiner menschlichen Einstellung zu den Leidensgenossen während der ganzen Haft treu. Seine Hilfsbereitschaft, sein Mitgefühl für die Nöte der anderen, sein Mut, der ihn auch in schwersten Stunden nicht verläßt, sein Eintreten für die Schwachen und seine Ehrlichkeit bringen ihm nicht nur die Achtung der Mithäftlinge ein. Auch die SS respektiert den aufrechten Mann, der sich immer wieder schützend vor seine Kameraden stellt.

Als Dachauer Bürger darf Scherer keinem Arbeitskommando zugeteilt werden, das außerhalb des Lagers zum Einsatz kommt. Er wird ausschließlich zu Tätigkeiten im Innendienst herangezogen. So geschieht es, daß er seine Heimatstadt sechs Jahre lang nicht mehr zu Gesicht bekommt, obwohl er Dachau nie verlassen hat. Bald bringt es Scherer zum Capo. Ihm untersteht zunächst die Lagerwäscherei. Dann erhält er beim Aufbau des neuen Schutzhaftlagers in den Jahren 1937/38 einen Aufsichtsposten auf der Lagerbaustelle. Als das KZ Dachau im September 1939 vorübergehend geräumt wird, um der SS Totenkopfdivision Platz zu machen, ist Scherer einer der hundert Häftlinge, die in Dachau zurückbleiben. Bei der Rückkehr der Kameraden aus dem Konzentrationslager Mauthausen organisiert er für die Überlebenden, die der Hölle von »Mordhausen« entronnen sind, eine Hilfsaktion mit zusätzlicher Verpflegung, damit die völlig abgemagerten Mitgefangenen wieder zu Kräften kommen. Nach seiner Ernennung zum Blockältesten beweist er erneut, daß sein Platz ausschließlich auf der Seite der Häftlinge ist. Er weigert sich, der SS einen Kameraden auszuliefern, und nimmt dafür eine Bestrafung in Kauf. Zwölf Stunden lang muß er strafstehen.

Erster Lagerältester

Im Jahre 1940 bestimmt die Lagerleitung Georg Scherer zum ersten Lagerältesten seit Bestehen des KZ Dachau. Damit hat er die höchste Funktion inne, die ein Gefangener erreichen kann. Unter den Kameraden zweifelt niemand daran, daß Scherer von seiner Macht nur zum Wohle der Mithäftlinge Gebrauch machen wird. In der Tat verbietet der Lagerälteste nicht nur die Selbstjustiz der Häftlinge, sondern geht auch gegen Blockälteste vor, die es mit der gerechten Ausgabe der Verpflegung nicht so genau nehmen. Unerschrocken wagt er jedes Risiko, wenn er darum kämpft, Kameraden dem sicheren Tod zu entreißen. So lernt er Walter Neff kennen, der damals als Oberpfleger im Revier eine leitende Funktion hat. (vgl. Porträt von Walter Neff.) Er bittet Neff, Kranke, die der Schutzhaftlagerführer Egon Zill abgewiesen hat, dennoch heimlich in den Häftlingskrankenbau aufzunehmen, was der Oberpfleger auch tut. Aus diesen ersten gemeinsamen Hilfsaktionen entwickelt sich zwischen beiden eine Freundschaft, die auch nach der Haft bestehen bleibt. Scherers selbstloser Einsatz geht so weit, daß er junge Polen im Lager versteckt, um sie vor einem Todestransport zu bewahren.

Rettung in einem Rüstungsbetrieb

So sehen die Gefangenen den Lagerältesten mit Wehmut scheiden, als er am 17. Januar 1941 aus dem Lager entlassen wird. Scherer, der noch in der Haft gemustert worden ist, ahnt, daß der Plan besteht, ihn auf dem schnellsten Weg an die Front zu schicken. Um dieses Vorhaben zu durchkreuzen, begibt er sich noch am Tag seiner Entlassung auf Arbeitssuche. Doch BMW in München weist den ehemaligen Häftling ab. Der frühere Arbeitgeber hat keinen Platz mehr für ihn. In Dachau hat Scherer mehr Glück. Dort bewirbt er sich bei der Schraubenfabrik »Präzifix« die der SS untersteht. Der leitende SS-Führer nimmt keinen Anstoß an der Vergangenheit des Stellungsuchenden und gibt ihm unverzüglich einen Posten als Automateneinsteller. Als Scherer bald darauf, wie erwartet, den Gestellungsbefehl erhält, sorgt derselbe SS-Mann dafür, daß die Wehrmacht den Gemusterten für den Dachauer Rüstungsbetrieb freigibt. Scherer bleibt bis zum Kriegsende in der Schraubenfabrik tätig. Am 11. Juni 1941 vermählt er sich mit Kreszenz Gampenrieder, die er bereits vor der Haft beim Arbeitersportverein kennengelernt hat. Während der NS-Zeit leben die Eheleute zurückgezogen in ihrer Wohnung an der Brucker Straße am Ortsrand von Dachau. Um sich nicht in die Gefahr einer erneuten Verhaftung zu begeben, geht Scherer den Menschen aus dem Weg.

Aufstand gegen die SS

Als sich die Niederlage der Nationalsozialisten immer deutlicher abzeichnet, wächst in Scherer die Sorge um das Schicksal seiner Heimatstadt, die er nicht dem Vernichtungswillen der SS preisgeben will. Mit großer Besorgnis blickt er ebenso auf das Konzentrationslager, wo Tausende von Häftlingen in Gefahr sind, noch kurz vor ihrer Befreiung von der SS in den Tod getrieben zu werden. Die Befürchtungen teilt Walter Neff, der nach seiner Entlassung aus dem KZ am 15. September 1942 die Verbindung mit dem ehemaligen Lagerkameraden Scherer aufgenommen hat. Da er bis zum Jahre 1944 weiter für den Luftwaffenstabsarzt Dr. Rascher arbeiten mußte und deshalb freien Zugang zum Schutzhaftlager hatte, konnte er Scherer über alle Vorgänge im KZ informieren, so daß der Freund einen genauen Überblick über die Entwicklung hinter dem Stacheldraht gewann. Beide sind nun entschlossen, sowohl in der Stadt als auch im Lager jedes weitere Blutvergießen durch die SS zu verhindern. Als für sie die Stunde gekommen ist, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, wagen sie am 28. April 1945 im Verein mit verbündeten Bürgern und Häftlingen den Aufstand, der in der Tat erreicht, was sie erhofft haben: Die SS zieht sich ohne neue Repressalien gegen die Gefangenen aus dem Lager zurück und überläßt auch die Stadt kampflos den heranrückenden Amerikanern, die Dachau am 29. April einnehmen. (vgl. Bericht über den Dachauer Aufstand von Walter Neff.) Obwohl die Erhebung geboten war, macht sich Scherer sein Leben lang Vorwürfe, vielleicht doch falsch gehandelt zu haben. Er verwindet nicht, daß der Kampf sechs Menschen das Leben gekostet hat. Scherer fühlt sich für den Tod der Männer verantwortlich und kann sich in seinem Respekt vor dem Leben eines Menschen nicht damit trösten, daß der Aufstand Abertausenden von Gefangenen das Leben geschenkt hat.

Zweiter Bürgermeister von Dachau

Nach der Befreiung Dachaus zählt Georg Scherer zu den Männern der ersten Stunde, die das Geschick ihrer Heimatstadt in die Hand nehmen. Sie beginnen unverzüglich damit, das Erbe des Nationalsozialismus zu beseitigen, das Heer der namenlosen Toten aus dem Konzentrationslager zu bestatten, die Versorgung der überlebenden Häftlinge mit Lebensmitteln in die Wege zu leiten und die Not der Mitbürger zu lindern. Noch am 30. April 1945 ernennt der amerikanische Stadtkommandant Malcolm Vendig den überraschten Scherer zum Zweiten Bürgermeister der Stadt. Wie erfolgreich der gelernte Eisendreher sein schweres Amt wahrnimmt, bescheinigt ihm dreißig Jahre später Oberbürgermeister Dr. Lorenz Reitmeier, als er ihm am 10. März 1976 den Goldenen Ehrenring der Stadt Dachau überreicht, den die Heimatgemeinde Scherer für seine Verdienste um Dachau zum 70. Geburtstag verliehen hat: »Seine damalige Hauptsorge galt der Versorgung der Bürger mit Lebensmitteln und Bekleidung, wobei seine ganze Tatkraft notwendig war, um (...) die allgemeine Not zu lindern. Sein schon während des Dritten Reiches unerschrockenes Auftreten, verbunden mit geschickter Verhandlungsführung, bewährte sich jetzt auch gegenüber der Militärregierung und führte zur Milderung vieler harter Maßnahmen, was den Bürgern eine weitere Verschlechterung ihres Lebens ersparte.« Scherer hat das Amt des Zweiten Bürgermeisters bis zum 31. Januar 1946 inne. Vom 27. Juli 1946 bis zum 30. April 1952 ist er als Stadtrat der KPD in verschiedenen Ausschüssen tätig: im Bauausschuß, im Finanzausschuß, im Kommunalausschuß und im Werkausschuß. Zeitweise fungiert er auch als Referent für die Elektrizitätswerke, arbeitet im Beirat für die Stadtwerke mit und leitet die Stadtschneiderei, die nach Kriegsende aus einem SS-Betrieb im »Birgmannbräu« hervorgegangen ist. Sie hat die Aufgabe, die Dachauer Bürger in der Nachkriegszeit mit Kleidung zu versorgen.

Der Arbeiter als erfolgreicher Unternehmer

Als die Stadt die Schneiderei schließt, erwirbt Scherer den Betrieb und begründet mit ihm seine Laufbahn als Unternehmer. Im Jahre 1946 bezieht er mit einigen wenigen Maschinen und mit nur ein paar Bahnen Stoff eine leerstehende Baracke der »Organisation Todt« in der Münchner Straße und baut sich dort eine neue Existenz auf. Im zähen Einsatz bringt er es fertig, sich nicht nur in der berufsfremden Branche zu behaupten, sondern aus kleinen Anfängen auch noch zu expandieren. An der Stelle der Baracke entsteht eine Kleiderfabrik, die unter dem Namen »Bardtke & Scherer« bald mit ihren Zweigbetrieben und mit ihren fünfhundert Beschäftigten zu den größten Firmen der Branche in der Bundesrepublik zählt. In seinem unternehmerischen Engagement ist es Scherer ein Hauptanliegen, in Dachau die Not der Arbeitslosigkeit zu mildern.

Förderer des Sports

Bei all seinen Aktivitäten bleibt Scherer stets dem geliebten Sport treu. So ist er im Jahre 1945 maßgeblich daran beteiligt, den während der NS-Zeit verbotenen Arbeitersportverein unter der neuen Bezeichnung »Allgemeiner Sportverein Dachau« (ASV) wieder zu gründen. Er übernimmt auch das Amt des Ersten Vorsitzenden, das er bis zu seinem Tod bekleidet. Seiner Tatkraft ist es zu verdanken, daß der ASV noch 1945 als einer der ersten deutschen Sportvereine den sportlichen Betrieb auf den schnell instandgesetzten Anlage wieder aufnehmen kann. Scherer führt den Verein in der Folgezeit zu großer Blüte. Im stillen unterstützt er ihn immer wieder mit namhaften Beträgen aus eigener Tasche. In vierzig Jahren steigt die Zahl der Mitglieder, die 1945 nur etwa hundert betragen hat, auf fast 2600. Auf seine Initiative hin wird die ASV-Großturnhalle gebaut, die den Breitensport in Dachau fördern soll. Zu Recht trägt sie den Namen »Georg-Scherer-Halle«.

Tod auf dem Sportplatz

Nach einem erfüllten Leben, das mit zahlreichen Ehrungen, so im Jahre 1975 mit dem Bundesverdienstkreuz, gewürdigt worden ist, stirbt Georg Scherer am Sonntag, dem 8. April 1985. Der Tod ereilt ihn an einem Ort, für den sein Herz geschlagen hat - auf dem Sportplatz des ASV. Bei einem Fußballspiel bricht der 79jährige auf der Tribüne plötzlich tot zusammen. Am Grabe Scherers, der seine Frau und zwei Söhne hinterläßt, ehrt Oberbürgermeister Reitmeier den Toten mit den Worten: »Georg Scherer hat sich um das Wohl unserer Stadt Dachau und um das Wohl unserer Bürger verdient gemacht. Sein Name, seine Leistung, seine Menschlichkeit sollen in Dachau nicht vergessen werden.«

Dokumentation: Hans-Günter Richardi