Taktische Erfolge der Koalition, aber die Zivilbevölkerung leidet am meisten

Laurent Joachim 19.01.2012

Verletzte und Verlassene auf den Feldern Afghanistans - Teil 2

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Teil 1: Die Kontrahenten / Die Asymmetrie des Krieges

Seit einigen Monaten kann ein taktischer Rückzug der Taliban in Richtung pakistanische Grenze beobachtet werden.

Dieser Rückzug dürfte nicht zuletzt auf die Erfolge der nächtlichen Zugriffsaktionen und der gezielten Tötungsoperationen der USA zurückzuführen sein. Diese von General David Petraeus favorisierte Taktik soll zum Beispiel in der Provinz Kunduz die Eliminierung der Hälfte der Taliban-Kommandeure ermöglicht haben[1].

Es ist bemerkenswert, dass genau diese Taktik, die durchaus gute militärische Erfolge zu verzeichnen hat, keine Unterstützung der afghanischen Regierung erfährt, ganz im Gegenteil: Die afghanische Regierung macht vehement ihren Einfluss geltend, damit diese Operationen eingestellt oder an die afghanischen Sicherheitskräfte übertragen werden (was höchstwahrscheinlich eine faktische Einstellung zur Folge hätte)[2]. Noch Ende Dezember signalisierte Hamid Karzai, dass er das wichtige Abkommen zur strategischen Partnerschaft mit den USA nicht unterschreiben würde, wenn diese Operationen nicht beendet werden.

Die zweite Taktik[3], welche die Amerikaner in Afghanistan aktuell implementieren, besteht darin, lokale Milizen wie die Afghan Local Police (ALP) oder die CIP-Guards[4] ins Leben zu rufen und auszurüsten. Diese Taktik ist jedoch sehr umstritten. Zunächst, weil sie den Prinzipien der afghanischen Verfassung zuwider läuft, wonach das Gewaltmonopol beim Staat angesiedelt ist. Parallelstrukturen treten also in direkter Konkurrenz mit der afghanischen Nationalarmee (Afghan National Army - ANA) und der Polizei (Afghan National Police - ANP).

Und abgesehen davon werden diese Milizen naturgemäß sehr wenig kontrolliert, vor allem nicht durch die Instanzen der Zentralregierung. Konkret heißt das, dass diese Milizen vor allem den Privatinteressen von Lokalkommandeuren dienen und es ist offenkundig, dass eben diese Milizen die Bevölkerung im Alltag erpressen und terrorisieren[5]. Es ist also höchst wahrscheinlich, dass die bescheidenen Erfolge, die diese Milizen in Sachen augenscheinliche Sicherheitsverbesserung erzielen können, den strategisch höher gesetzten Zielen der Alliierten zuwiderlaufen: die Errichtung eines starken, zentralen Rechtsstaat wird durch die Aufstellung von Milizen zersetzt.

Konsequenz dieses zehnjährigen Krieges: Der Blutzoll ist sehr hoch und die Zivilbevölkerung wird in schlimmster Weise in Mitleidenschaft gezogen.

Die Schätzungen über den Blutzoll des Krieges in Afghanistan differieren und sind jeweils umstritten. So sind auch die Angaben, die Wikipedia in der List of Taliban fatality reports in Afghanistan zitiert, mit einiger Vorsicht zu behandeln, aber die 35.000 Männer, welche die Taliban in Afghanistan verloren haben, geben eine plausible Größenordnung an. Weitere 17.000 Männer sollen die Taliban bei Kämpfen verloren haben, die in Pakistan stattgefunden haben.

Größere Kampfhandlungen finden heute immer noch statt. Anfang November 2011 wurden zum Beispiel 60 Taliban während eines Überfalls auf eine Basis der Koalition in Bermal, im Süden Afghanistans, getötet. Die Koalitionstruppen hatte anläßlich des Vorfalls keine Verluste zu beklagen. Zwischen 2004 und Oktober 2011 haben die amerikanischen Drohnen mindestens 2.308 Menschen auf pakistanischem Hoheitsgebiet getötet. Diese Zahlen machen deutlich, dass der "Krieg gegen den Terror" keineswegs nur innerhalb der Staatsgrenzen Afghanistans geführt wird.

Bewaffnete Drohne MQ-9 Reaper. Bild: US Airforce

Aber auch die Länder der Koalition haben erhebliche Verluste zu beklagen, wenngleich im weitaus geringerem Umfang. Bis Ende 2011 werden von der Site www.icasualties.org 2.847 Tote gezählt. Die USA haben alleine 1.185 Tote zu beklagen. Mit 395 Toten sind die britischen Truppen auch maßgeblich in Mitleidenschaft gezogen worden, wenngleich die Verluste der Briten 2011 im Vergleich zu 2010 um die Hälfte auf 46 gesunken sind. Dieser hohe Blutzoll (2009: 108 Tote, 2010: 102) erklärt sich besonders dadurch, dass sie in der Unruheprovinz Helmand (auch Zentrum des Mohnanbaus) im Süden des Landes eingesetzt werden[6]. Die Verluste der anderen Koalitionspartner sind in den letzten vier Jahren ungefähr gleich geblieben mit ca. 100 Toten pro Jahr.

Bemerkenswert ist, dass seit 2007 die Verluste der Koalition größtenteils (40-60%) auf sogenannte IEDs (Improvised Explosive Devices) - zu deutsch: "Unkonventionelle Spreng- und Brand-Vorrichtungen" (USBV) - zurückzuführen sind. Im Jahr 2010 wurden 14.661 Anschläge mit unkonventionellen Spreng- und Brand-Vorrichtungen gezählt, das heißt 62% mehr als im Vorjahr. Diese Anschläge haben 2010 den Tod von 268 amerikanischen Soldaten gefordert (von den insgesamt 499 in Kampfhandlungen gefallenen US Soldaten).

Unkonventionelle Spreng- und Brand-Vorrichtungen haben 2010 ca. 60% mehr Tote als noch 2009 gefordert. Zusätzlich zu den Toten haben USBV 3.366 US Soldaten verletzt und verstümmelt, das heißt 178% mehr als ein Jahr zuvor. Um dieser Bedrohung entgegenzuwirken, sah sich der amerikanische Kongress dazu gezwungen, Ausgaben in Höhe von sieben Milliarden Dollar zu bewilligen.

Eindeutige Barbarisierung des Krieges

Im Endeffekt erlebt man in den letzten Jahren eine eindeutige Barbarisierung des Krieges, denn viele Anschläge werden so ausgeführt, dass nach der ersten Explosion, die vorbei eilenden Rettungskräfte von einem weiteren Folgeanschlag - oder sogar von mehreren aufeinander folgenden - getroffen werden. Rettungskräfte werden also zu Opfern und zu Zielscheiben der Aufständischen, die sich damit erhoffen, die Moral der Kampftruppen zu zersetzen. Dabei sollte nicht unbeachtet bleiben, dass damit fest verankerte Prinzipien des Völker- und Kriegsrechts mit Füßen getreten werden.

Beispielsweise wurden die unbewaffneten und mit rotem Kreuz versehenen Rettungsfahrzeuge der Bundeswehr in Afghanistan so oft gezielt unter Beschuss genommen, dass die Bundeswehr sich gezwungen sah, die Markierungen zu entfernen und die Fahrzeuge zu bewaffnen.

Bis Anfang August 2011 hatte die Bundeswehr in Afghanistan insgesamt 34 Tote durch Feindeinwirkung, sowie 18 sonstige tödliche Vorfälle zu beklagen. Darüberhinaus kamen drei deutsche Polizisten durch Feindeinwirkung ums Leben, desweiteren ist von 304 Verwundeten die Rede. Frankreich hat einen noch höheren Blutzoll entrichten müssen: Zwischen 2005 und 2011 zählt man insgesamt 78 Tote, 16 Soldaten sind im Jahr 2010 und 26 im Jahr 2011 gefallen.

Mit einem Drittel der Gesamtverluste ist 2011 also das verlustreichste Jahr für die französische Armee. Zeichen der extrem angespannten Lage vor Ort: Die zwei letzten Gefallenen wurden nicht durch Kugeln der Aufständischen getötet, sondern durch Schüsse eines Soldaten der afghanischen Nationalarmee. Zwischen 2005 und 2011 wurden weit über 500 französische Soldaten verletzt, die meisten davon in den letzten drei Jahren.

Diese Zahlen sind der unwiderlegbare Nachweis dafür, dass der Krieg sich in den letzten Jahren intensiviert hat statt nachzulassen.

Obgleich jeder gefallene Soldat, ein Soldat zuviel ist - sei es unterstrichen - ist die Zahl der gestorbenen Soldaten für die Länder der Koalition demographisch gesehen keinesfalls gefährdend. Seit Anfang der Operation in Afghanistan sind insgesamt 55 deutsche Soldaten gefallen und 304 wurden verletzt, aber die Bundesrepublik zählt über 82 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu betrug 2010, in einem einzigen Jahr also, die Zahl der in Verkehrsunfällen tödlich Verunglückten auf den Strassen Deutschlands 3.648, und die der Schwerverletzten 62.620.

"Neue Expeditionskriege"

Somit wird klar, dass im Fall der "Neuen Expeditionskriege", die weit von der Heimat geführt werden, die Bevölkerung der hochgerüsteten Expeditionsarmeen in höchstem Maße von den Leiden des Krieges verschont bleiben, im Gegensatz zur Bevölkerung in den Einsatzgebieten. Dieser Typus von Krieg wird also nicht demographisch und nicht primär militärisch entschieden, vor allem nicht durch den Sieg in einer einzigen, symbolträchtigen Schlacht, sondern ökonomisch und vor allem politisch.

Franz Josef Jung. Bild: Regani. Lizenz: CC-BY-3.0

Es ist beispielhaft dafür, dass der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) aufgrund der "Kunduz-Affäre" und der damit verbundenen Vertuschungsversuche, die seinem Ministerium angelastet wurden[7] nach nur 33 Tage aus dem Amt ausschied. Ähnlich erging es dem Deutschen Präsidenten Horst Köhler (CDU), der nicht wegen des Verlustes von deutschen Soldaten sich zum Rücktritt gezwungen sah, sondern deswegen, weil er in einem Interview mit Christopher Ricke im Deutschlandradio seine Einschätzung öffentlich kundtat:

Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern.

Die zivile Bevölkerung vor Ort ist also die wahre Leidtragende der politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen, denn sie ist sich selbst überlassen, ohne echte Hoffnung darauf, sich den Missständen des Konfliktes entziehen zu können.

Die sowjetische Invasion Afghanistans und der Bürgerkrieg, der darauf folgte, hatten die Bevölkerung mit verheerenden Leiden heimgesucht und dauerhafte demographische und gesellschaftliche Schäden hinterlassen. Nun hat sich die Situation der Zivilbevölkerung, seitdem die Koalition 2001 intervenierte, wesentlich verbessert. Aber auch im ersten Halbjahr 2011 zählte die UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) 1.462 getöteten Zivilisten am Rande der Kampfhandlungen, das heißt 15% mehr als für den gleichen Zeitraum im Vorjahr.

Ein Grund für diese hohe Opferzahl ist die vermehrte Anwendung, seitens der Aufständischen, von IEDs, die häufig auch Unbeteiligte erfassen, wenn sie explodieren. Im ersten Halbjahr 2011 sind 444 Zivilisten durch die Einwirkung solcher Bomben getötet worden, das ist rund ein Drittel aller getöteten Zivilisten. In 80 Prozent der Fälle sind die Aufständischen für den Tod von Zivilisten verantwortlich.

Aber die Taktiken der Koalition stehen keinesfalls außerhalb jeder Kritik. Im Laufe der Jahre haben die Luftschläge der Koalitionstruppen Hunderte von zivilen Leben gefordert[8]. Stellvertretend für diese Problematik ist der von einem deutschen Offizier, Oberst Georg Klein, befehligte Luftangriff bei Kunduz am 4. September 2009 mit dem Ziel zwei von den Taliban entführten Tanklastern zu zerstören. Nach NATO-Einschätzung verloren bei dem Angriff circa 142 Menschen meist Zivilisten, darunter Kinder, ihr Leben[9].

Auch die seit 2007 gesteigerte Anwendung von bewaffneten Drohnen[10] ist höchst problematisch, denn Kollateralschäden sind naturgemäß kaum zu vermeiden und könnten laut einer amerikanischen Studie die Vernichtung von bis zu zehn unschuldigen Menschenleben für jeden getöteten Feind zur Folge haben.

Teil 3: (Un-)sicherheitslage und Politik

http://www.heise.de/tp/artikel/36/36226/1.html
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