Beziehung

Die Türkei wird also nicht bei der EURO dabei sein. Als die Türkei auch die EURO 2004 verpasst hatte, genauso wie die WM 2006 und auch 2010, da war ich noch am Boden zerstört. Diesmal geht es mir seltsamerweise irgendwie so gar nicht nahe. Vielleicht gewöhnt man sich mit der Zeit an solche Rückschläge, vielleicht haben die äußerst schlechten Leistungen eine Art protestierende Ignoranz und Gefühllosigkeit entstehen lassen.

Umso mehr Emotionen rief das türkische Scheitern bei einem User hervor, dessen Kommentar ich auf einer deutschen Sportseite sah und den ich nicht mehr exakt, sondern nur grob wiedergeben kann:

“Sehr schön, EM ohne die Türken! Jetzt muss ich mir schon nicht das überhebliche Gelaber von denen anhören, von wegen wir hauen euch Kartoffeln eh weg usw…Beschimpft mich ruhig als Rassisten, aber seid doch mal ehrlich! Wer hat sowas noch nicht zu hören bekommen?”

Ein Kommentar, der sich in erster Linie nur auf den Fussball bezieht, bei näherere Betrachtung aber das Zusammenleben von Deutschen und Türken hierzulande und die Problematik dieser Beziehung nicht besser hätte auf den Punkt bringen können.

Da sich die Ankunft der ersten türkischen Gastarbeiter in diesen Tagen zum fünfzigsten Mal jährt, findet zurzeit ja eine schöne, romantisierende Verklärung statt. Die Männer von damals werden für öffentliche Auftritte zurückgeholt, Politiker stellen sich an ihre Seite und grinsen in die Kameras, in den Medien werden toll integrierte Deutschtürken als Vorzeigemigranten präsentiert.

Die Realität spiegelt sich aber nicht in den schönen Blitzlichtgewitter-Events wieder, sondern in dem obigen Kommentar. Er deckt alle Schwierigkeiten ab, die sich in diesen fünf Jahrzehnten entwickelt haben.

Der User hat vielleicht in der Schule oder in der Arbeit mit einem türkischen Mitmenschen zu tun, der gemeinhin als “typischer Prolltürke”bezeichnet wird: aggressiv, machohaft, überheblich, antideutsch. Vielleicht begegnete er immer wieder und überwiegend solchen Türken, da dies in Deutschland oft genug passieren kann.

Diese Erfahrungen führen bei ihm dazu, dass er beim Begriff “Türken in Deutschland” zu allererst an diejenigen denkt, die ihm negativ auffallen, zu einer generellen Abneigung also, die sich in diesem Fall dadurch äußert, dass er bei einem Scheitern der türkischen Nationalmannschaft, die ihm garnichts angetan hat, Schadenfreude empfindet.

Ich selber kenne diese mehr oder weniger latente Abneigung auch sehr gut, und zwar auf beiden Seiten, in unzähligen Facetten. Als ich vor einigen Jahren ein einjähriges Intermezzo bei einem türkischen Verein hatte und zum Ende der Saison bekannt wurde, dass ich den Vetrein wieder verlassen und zu einer deutschen Mannschaft wechseln würde, wurde ich als Verräter bezeichnet und bekam in den verbleibenden Wochen den schönen Spitznamen “Deutscher”.

Als wir vor der aktuellen Saison ein Pokalspiel bei einem Dorfverein hatten, ging ich zur Seitenlinie, um einen stinknormalen Einwurf auszuführen, und hörte in meinem Rücken: “Geh dahin zurück, wo du herkommst, du Schwarzkopf!” Schwarzkopf. Ich stand kurz davor, etwas zu tun, was zu einer mehrmonatigen Sperre geführt hätte. Und genau das Meinungsbild des pöbelnden Zuschauers bestätigt hätte.

Vorbehalte führen zu Abneigung, und Vorbehalte und Abneigung auf der einen Seite führen zu Vorbehalten und Abneigung auf der anderen. Das ist das große deutsch-türkische Problem, und es gibt dabei keine Seite, die dafür alleine verantwortlich und vollständig daran schuld wäre.

“Du bist echt gar nicht wie ein typischer Türke!”, sagte letztens eine Kommilitonin zu mir. Es sollte ein Kompliment sein.

“23 Jahre bin ich nun schon hier, und immer noch hab ich mich nicht an diese Deutschen gewöhnen können”, sagte letztens ein türkischer Kumpel zu mir.

Es ist noch ein sehr langer Weg.

Martin

Martin ist ein sehr guter Fussballer. Nur wissen das die wenigsten.

Seit nun fast zwei Jahren spielen wir in der gleichen Mannchaft. Er hatte sich mit seinem alten Trainer nicht mehr verstanden, und unseren kannte er noch aus gemeinsamen Zeiten in der Jugend, da er damals von ihm trainiert wurde, also wechselte er zu uns. Er tat sich sehr lange schwer damit, sich in den Mannschaftsalltag zu integrieren, und eigentlich tut er das immer noch. Martin ist ein sehr in sich gekehrter junger Mann, er ist immer ruhig, spricht wenig und eigentlich immer nur, wenn er angesprochen wird, er lacht so gut wie nie.

Als er schon einige Monate als Fremdkörper bei uns hinter sich hatte, traf sich die Mannschaft einmal bei einem Teamkollegen abends zum Playstation zocken. Martin war nicht dabei. Als irgendeiner dann über den seltsamen Neuen sprach und alle anderen schnell mitdiskutierten und spekulierten, sagte ein anderer, unser Trainer habe ihm gesagt, es wundere ihn nicht, dass Martin so verschlossen sein. Sei Vater sei vor zwei Jahren bei einem Unfall gestorben, seitdem müsse er sich mit seiner Schwester, Mutter und Großmutter eine kleine Dreizimmerwohnung teilen. Danach sprach niemand mehr über ihn.

Fussballerisch gesehen war jedenfalls jeder schon nach ein paar Trainingseinheiten von ihm überzeugt. Er spielt ganz rechts in der Viererkette, und er bringt alles mit, was man dafür braucht: Schnelligkeit, Technik, Stellungsspiel, Offensivdrang. Und genau auf dieser Position suchten wir schon seit langem händeringend einen wenigstens soliden Mann. Das passte also auf den ersten Blick.

Wenn da nicht das eingangs angedeutete Problem wäre. Martin hat es zwar an sich richtig drauf, doch immer dann, wenn es ernst wird und darauf ankommt, kann er es nicht abrugen. Im Training spielt er alle an die Wand, im Spiel versagt er. So gut wie immer. In der letzten Saison wurde ihm das noch verziehen, teilweise weil er noch neu war, teilweise weil kein geeigneter Ersatz da war.

Doch wir sind inzwischen aufgestiegen, und mit der neuen Liga kamen neue Ansprüche, neue, noch höhere Anforderungen und vor allem neue Spieler. Der Konkurrenzkampf ist nun naturgemäß höher als zuvor, und so ist Martin, der Trainingsweltmeister, der im Spiel vor lauter Nervosität kaum einen Ball an den Mann bringt, inzwischen regelmäßig außen vor. Ein anderer, in der Sommerpause verpflichteter Rechtsverteidiger spielt und bringt Leistung, Martin sitzt Woche für Woche auf der Bank.

Einmal war beim Trainer, vor einigen Wochen. Er fragte ihn, warum er denn gar keine Chance mehr bekomme, und der Trainer antwortete, dass er zwar ein ganz netter Kerl sei, doch als Trainer müsse er nach dem Erfolg der Truppe schauen, auf Einzelschicksale könne er nunmal keine Rücksicht nehmen. Irgendwann benutzte er dann ein Wort, dass seine Ansicht und gleichzeitig das ganze Dilemma Martins auf den Punkt brachte: “Haifischbecken”. Es sollte wohl symbolisieren, dass sich in einer Fussballmannschaft immer nur die Stärksten durchsetzen, und dass es Martin nunmal an Stärke fehle.

Das alles weiß ich, weil er es mir erzählt hat. Seit zwei Monaten sitzen wir jeden Morgen im gleichen Zug, und bis er an der Haltestelle in der Nähe seiner Fachhochschule aussteigt, haben wir immer 25 gemeinsame Minuten. Anfangs bestanden diese hauptsächlich aus Anschweigen und ein paar Brocken erzwungenen Smalltalk, doch mit der Zeit wurde er immer lockerer, offener und redseliger mir gegenüber, also das komplette Gegenteil zu seiner Art, die ich aus der Kabine kannte.

Heute sahen wir uns wie jeden Tag wieder im Zug und fingen an, uns zu unterhalten. In den letzten Wochen war es dabei nur selten um Fussball gegangen. Sein Dasein als Dauerersatzspieler nagt ziemlich an ihm, und er redet nicht so gerne darüber, doch heute war es anders. Unser nächstes Spiel nämlich, das wird für Martin wichtig, sehr wichtig. Sein ihm stets vorgezogener Konkurrent hat am Wochenende die Rote Karte gesehen und ist nun wochenlang gesperrt. Martin wird diese Woche spielen, jeder weiß es, der Trainer hat es ihm bereits gesagt. Wenn er wieder versagt, wird spielt nächste Woche wieder jemand anderes. Das hat der Trainer zwar nicht gesagt, doch das musste er auch garnicht.

Also redeten wir über sein kommendes Schicksalsspiel, während am Fenster eine Ortschaft nach der anderen im Morgengrauen vorbeirauschte.

“Hoffentlich verkacke ich es diesmal nicht schon wieder. Hoffentlich.” Als er das sagte, tat er mir etwas leid.
“Wirst du nicht”, sagte ich dann, obwohl ich mir dessen garnicht so sicher war, “Versuch’ doch einfach mal, auch im Spiel so locker zu bleiben wie im Training. Du hast doch alles drauf.”
“Das sagst du so einfach, aber bei mir geht das nicht. Ich nehm es mir ja auch jedes Mal vor. Aber ein kleiner Fehler, und schon ist wieder alles vorbei. Es kotzt mich einfach nur noch an.”

Es entstand nun eine längere Pause, vor allem weil ich nicht wusste, was ich als Nächstes sagen könnte.

“Diesmal hab ich mir aber etwas überlegt”, sagte er jetzt. Als ich nachhakte, erzählte er mir, was er meinte:
“Der Karl-Heinz Rummenigge, der hat sein erstes internationales Finale mit 20 Jahren gespielt. Der war davor so nervös, dass sie ihm damals einen Cognac verabreicht haben. Danach ging er so richtig ab und machte ein Hammerspiel. Kein Scheiß! Musst du mal googeln.”
“Werd ich machen”, antwortete ich, obwohl mir die Rummenigge-Story geläufig ist.
“Ich werd das auch probieren, glaub’ ich”, murmelte er und schaute seitlich zum Fenster hinaus. Ich hielt es zunächst für einen Scherz und lachte kurz, doch Martin schaute nur kurz ernst zurück.

“Im Ernst jetzt? Du willst dich vor dem Spiel betrinken?”
“Ja. Es ist so etwas wie ein Experiment. Bei mir ist es in den Spielen schon so oft schiefgelaufen. Wenn es so klappt, dann klappt es. Ich hab nix mehr zu verlieren.”
“Glaubst du aber nicht, dass du damit das Gegenteil erreichst und erst recht hops gehst? Wie willst du die Kugel kontrollieren, wie willst du die ganze Zeit hin- und hersprinten, mit Alkohol im Blut?”
“Alter, ich hab nicht vor, mich ins Koma zu saufen. Ein, zwei Jacky-Cola gegen die Anspannung vor dem Spiel, und ab gehts. Bei Rummenigge hats ja auch geklappt.”
“Hmm”, sagte ich und fand es sehr seltsam, dass es mir plötzlich und in diesem Fall gar nicht mal mehr so abwegig schien, betrunken in ein Fussballspiel zu gehen.

Dann erreichten wir seine Haltestelle. Bevor er sich verabschiedete, meinte er noch: “Wir werden sehen, wie es läuft. Erzähl aber bitte den anderen nichts davon.”

Am Freitagabend ist das Spiel. Ich bin sehr gespannt.

Blick auf die Bank

Zeit für die nächste Sozialstudie. Nachdem wir uns bereits angeschaut haben, was für Gestalten bei Gerümpelturnieren in der Halle rumlaufen, auf welche Arten man zuhause Fussball schaut und was Handzeichen von Fussballern bedeuten, schauen wir heute, wer sich warum während einer (Amateur-)Partie auf der Ersatzbank aufhält.

Die Ersatzbank, auf traditionelleren Sportplätzen in Form einer Oldschool-Bierbank in orange mit grünen Ständern, bei etwas modernerem Geländen eine überdachte Sitzreihe aus Plastik, ist auf den ersten Blick zwar ein recht unspektakulärer Ort, in Wahrheit aber Sammelstelle für verschiedenste Charaktere und Gefühle, von Selbstsicherheit über Freude bis hin zur Riesenenttäuschung.

Fangen wir mit dem Sitzplatz ganz rechts (oder ganz links, je nachdem, welcher Rand in Richtung Mittellinie steht) an:

Der Trainer

kann hier weitestgehend ausgeklammert werden. Meistens läuft der Trainer während der Partie eh die Seitenlinie auf und ab, gestikuliert, schreit Anweisungen an die Spieler oder Proteste in Richtung Schiedsrichter. Wenn er dann doch einmal Platz nimmt, dann eigentlich nur, um sich auszuruhen, seinen Notizblock aus der Tasche zu kramen und in Proficoach-Manier Notizen zu machen, oder einfach nur um etwas zu trinken.

Er selbst kann also hinsichtlich des Zusammenlebens auf der Bank außer Acht gelassen werden, umso größer ist aber sein Einfluss auf das Wohlbefinden der im Folgenden noch zu beschreibenden Personen, die auf den weiteren Plätzen der Bank sitzen und das nur deshalb tun, weil er es so entschieden hat. Also weiter.

Der Betreuer

Doch bevor wir zu den vom Coach auf die Bank beorderten Ersatzspieler kommen, muss noch der Betreuer erwähnt werden. Der sitzt immer auf dem Platz neben dem des Trainers, trägt einen Trainingsanzug und hat zwischen seinen Füßen eine rot-weiße Kühlbox stehen, die auch schon sein komplettes Aufgabengebiet symbolisiert und die immer nach folgendem Schema von ihm eingesetzt wird: Spieler bleibt verletzt liegen, Betreuer packt sich die Box und lauert in Gleich-aufs-Feld-sprinten-Position, der Schiedsrichter geht kurz zum Verletzten und fragt ihn etwas, dann winkt er in Richtung Seitenlinie, und schon rennt der Betreuer mit Box unterm Arm zum Patienten, um die einzige Behandlung durchzuführen, die er drauf hat:

1. Frage: “Wo tuts weh?” Antwort abwarten, dann:
2. Eisspray auf die gezeigte Stelle. Danach:
3. Eventuell beim Verlassen des Feldes den Spieler stützen.

Das wars. Auf den Betreuer lass ich jedenfalls nix kommen. Wer sich Sonntag für Sonntag freiwillig 90 Minuten auf die Bank hockt, nur um im Ernstfall die Schmerzen eines Verletzten, so gut es ihm möglich ist, zu lindern, der ist ein guter Mensch.

Der Ausgewechselte

Ist äußerlich sehr gut zu erkennen und zu unterscheiden von den anderen Mitspielern auf der Bank, denn man sieht ihm an, dass er im Gegensatz zu ihnen schon auf dem Platz war und zum Einsatz kam: verschwitzt, Schuhe ausgezogen, heruntergezogene Stutzen, dreckige Hose, Sprudelflasche in der Hand. Weil er eben noch mitten im Geschehen war und schon seinen Beitrag geleistet hat, hat er das Gefühl, dass er unter den Spielern von der Bank am meisten zu melden hat, und das äußert sich dann sichtbar darin, dass er von draußen laufend Kommandos in das Feld brüllt, seine Mitspieler pusht und noch immer voll mitgeht.

Vorausgesetzt natürlich, dass der Ausgewechselte zuvor eine gute Partie geliefert hat und mit seiner Auswechslung kurz vor Schluss völlig einverstanden war. Falls er aber schon kurz nach der Halbzeit heruntergenommen worden und darüber verärgert gewesen sein sollte, dann ist er schon längst nicht mehr hier, sondern an der Bank vorbei direkt in die Kabine gestapft.

Der Stammspieler

Der Relaxteste von allen. Er spielt normalerweise immer von Beginn und ist absoluter Leistungsträger, die Bank ist ihm völlig fremd. Dass es ihn nun trotzdem da hin verschlagen hat, ist für ihn kein Problem und war mit dem Trainer so abgesprochen, denn er war lange verletzt/konnte nicht trainieren/wird geschont.

Deshalb sitzt er während den ersten 45 Minuten ganz cool, mit verschränkten Armen und kaugummikauend mitten auf der Bank, schaut sich an, was sein Stellvertreter so abliefert und hat Spaß dabei, sich ein Spiel seiner Mannschaft mal aus dieser ungewohnten Perspektive anzuschauen und dabei mit seinen Kollegen über das Gesehene zu flachsen. Nach 45 Minuten hat er genug gesehen und schaut beim Halbzeitpfiff zu seinem Trainer und darauf, dass der sagt: “Männer, alle locker warmlaufen. (Zum Stammspieler) Du machst dich gleich richtig warm, du kommst dann gleich rein.”

Genau das tut der auch, und der Stammspieler zieht sich daraufhin zufrieden seine Schienbeinschoner an und freut sich auf seine überragende Leistung in der zweiten Halbzeit.

Der Ersatztorwart

Verdient ebenso Anerkennung und Respekt wie der Betreuer. Unter Fussballern gibt es ja den ewiggebrauchten Spruch, dass Ersatztorwart bei den Profis der Traumjob schlechthin wäre, jede Woche ein Topspiel aus guter Perspektive anschauen dürfen und dafür Millionen kassieren.

Anders ist es beim armen Ersatztorwart einer Amateurmannschaft, der den Keeper vor ihm einfach nicht verdrängen kann und sich daher Woche für Woche, Bank für Bank, bei Wind und Regen 90 Minuten lang den Hintern platt sitzen muss. Nach einiger Zeit hat er sich aber an sein Schicksal gewöhnt und mutiert daher mit der Zeit zu einer Art Gastgeber der Bank, der die Gesprächsthemen bestimmt und für gute Laune sorgt, meistens mit dem ähnlich gutgelaunten und eben beschriebenen Stammspieler neben ihm.

Der Beleidigte

Anders ist die Laune aber beim Beleidigten, denn die ist, wie am Namen unschwer zu erkennen ist, im Eimer. Er ist normalerweise auch einer für die erste Elf und ging auch vor dem aktuellen Spiel fest davon aus, dass er wie immer auf seiner angestammten Position beginnen wird, ein Ersatzspielerdasein kam für ihn garnicht in Betracht. Also lief für ihn der Spieltag und das Vorbereiten auf die Partie so wie immer, bis der Trainer ihn zur Seite nahm und ihm die Hiobsbotschaft übermittelte. Heute leider nur auf der Bank. Boom.

Danach war für ihn der Tag gelaufen, beim Warmmachen, bei dem alle Ersatzspieler immer den Torwart warmschießen, während sich die Stammspieler zusammen warmlaufen, nahm er sich einen Ball und jonglierte lustlos in der Gegend herum. Jetzt, während der Partie, spricht er kein Wort und beteiligt sich erst recht nicht an den kollektiven Anfeuerungen seiner Mannschaft. Je nach Charakter und Ausgeprägtheit seines Eigensinns freut er sich außerdem innerlich, wenn es in der ersten Halbzeit für sein Team schlecht läuft, da dadurch seine Chancen auf eine baldige Einwechslung steigen.

Als es dann soweit ist, bekommt er vom Trainer an der Seitenlinie kurz vor seinem Einsatz noch längere Anweisungen als alle anderen, nickt aber nur mit ernster Miene und schaut dabei in die Ferne. Wenn er bei seinem Einsatz dann vielleicht sogar ein genugtuendes Tor erzielt, verweigert er jeden Jubel.

Der ewige Ersatzspieler

Er macht, er tut, er ackert in jedem Training, er redet oft mit dem Trainer über seine Situation, doch es klappt einfach nicht, es ändert sich nichts: er sitzt Woche für Woche auf der Bank. Es fehlt an Talent, Erfahrung, Sicherheit im Spiel, auf jeden Fall fehlt es an irgendwas, das der Trainer als fussballerische Voraussetzung für viel Einsatzzeit ansieht.

Außerdem muss er sich fast den gesamten Spieltag die Jammereien und Lästereien des Beleidigten anhören, der in ihm einen Verbündeten ausgemacht hat und nun bei ihm über den Trainer herzieht. Einfach nur bemitleidenswert ist dann das, was mit ihm jedes Mal abgezogen wird, wenn der Trainer die gesamte Ersatzgang in der zweiten Halbzeit hinter das Tor der eigenen Mannschaft schickt, um sich in Trainingsleibchen für einen eventuellen Einsatz warmzulaufen.

Nach und nach ruft der Coach dann die drei Spieler her, die eingewechselt werden sollen, und nach und nach sprinten die vorbei am ewigen Ersatzspieler in Richtung Seitenlinie, er selber muss dann nach dem dritten wieder an den Zuschauern vorbei in Richtung Ersatzbank trotten, für jeden klar erkennbar als der Auswechselspieler, der wie wie so häufig mal wieder als nicht gut genug für einen Einsatz befunden wurde. Wenn Bekannte oder Familienangehörige unter den Zuschauern sind, ist es umso schlimmer. Die reinste Schmach. Der Arme.

Der Hochgeholte

Am, vom Betreuer aus gesehen, anderen Ende der Bank sitzt der jüngste Vertreter der Ersatzbande. Für ihn ist das Spiel und das ganze Drumherum ein großes Ereignis, denn er spielt normalerweise in der A-Jugend und wurde zum ersten Mal berufen, da einige Spieler ausgefallen waren und der Kader aufgefüllt werden musste, und er freut sich sehr und ist stolz, dass ausgerechnet er unter den Spielern seines Jahrgangs dafür ausgewählt wurde, bei den Großen dabei zu sein.

Die Aussicht auf viel Einsatzzeit ist aber für den Anfang leider gering. Wenn er Glück hat, wird er nach einer Verletzung eines Spielers früh in der zweiten Halbzeit ins kalte Wasser geworfen, wenn es normal läuft, bekommt er in der Garbage-Time ein paar Minuten, in denen er sich zeigen darf, wenn es schlecht läuft, wird er bei einem knappen Rückstand hinter eines der Tore geschickt und muss den Balljungen geben, indem er ins Toraus geflogene Bälle schnell zurückzubringt und damit Zeit für seine Mannschaft und für die Aufholjagd spart.

Für ihn ist das aber nicht weiter schlimm, denn aufgrund seines Alters und seines Talents hat er gute Aussichten darauf, die Ersatzbank in Zukunft zu meiden und wenn überhaupt, dann als der relaxte, pausierende Stammspieler auf sie zurückzukehren. Von solchen Aussichten kann sein Nebensitzer nur träumen.

2002

Vor ein paar Jahren, genauer im Sommer 2002, fand im Nachbarort ein für unsere Gegend sehr lukratives Jugendturnier statt. Der Jugendleiter des ausrichtenden Vereins hatte, so erzählte man es sich, viele, europaweit reichende Connections und trommelte für das jährliche Sommerturnier dieses Mal die B-Jugend-Mannschaften mehrerer Profivereine zusammen. Borussia Dortmund war da, an Sparta Prag kann ich mich erinnern, und, für mich und meine Kumpels die Hauptattraktion und Grund für große Aufregung schon Tage vor dem Event: Galatasaray.

Als der große Tag dann gekommen war, kickten die Profiteams die Normalsterblichen aus der Gegend mit Leichtigkeit aus dem Turnier, bis sie dann in der Endrunde ungestört und unter sich waren und den Sieger ausspielen konnten. Jeder, der in der Gegend wohnte und in Sachen Fussball auch nur das kleinste Bisschen auf sich hielt, war an den zwei Turniertagen vor Ort und ließ sich den Profinachwuchs nicht entgehen.

Neben der kollektiven Begeisterung für das Niveau der Jungs wurden die Gespräche auf den Zuschauerrängen allermeistens nur von einem Thema und einer Frage beherrscht, für die jeder Seitenrandexperte natürlich immer die richtige Antwort wusste: Wer von denen packt es und wird mal Profi?

Da machte ich natürlich mit und der erste Spieler, der mir richtig auffiel, war, wie sich später herausstellte, schon ein ziemlich guter Tipp. Denn auch wenn ich den Namen in Gedanken falsch buchstabierte, dachte ich mir bei den Spielen der Dortmunder, bei denen ich oft seinen Namen hörte: “Krussker, den muss ich mir merken.”

Ich schaute mir mit meinem besten Kumpel Hakan damals jedes Spiel an, am genauesten und aufgeregtesten natürlich, wenn Galatasaray auflief. Wir beobachteten jeden Spieler ganz genau und sortierten sie nach eventuellem Profipotenzial aus, und ein Spieler stellte da alles andere, nicht nur in seiner Mannschaft, sondern auch in der ganzen, hochkarätigen Konkurrenz unter den restlichen Teilnehmern, ganz klar in den Schatten.

Er war groß, ungewöhnlich groß sowohl für sein damaliges Alter als auch für die Position, auf der er spielte, denn vom Spielertyp her war er ein Spielmacher, ein überragender Spielmacher. Der Junge war schnell, ließ oft genug zwei, drei Mann auf einmal stehen, verteilte auf dem Feld Bonbons wie Iniesta, und machte jedes zweite Tor seiner Mannschaft, die das Turnier am Ende gewinnen sollte. Wir wurden zu Fans, obwohl der Junge ein Jahr jünger war als wir.

Hakan und ich waren nicht die einzigen, die ihm die große Karriere voraussagten, denn beim Pommes-holen hörte ich einmal, wie der Jugendleiter mit den Connections, der sich neben mir angestellt hatte, zu irgendjemandem sagte: “Der Zehner bei den Türken, das wird ein Großer.” Seltsamerweise habe ich mir den Namen von Kruska, wenn auch mit den falschen Buchstaben, damals gemerkt, der des großen Zehners will mir aber nicht einfallen. Vielleicht wurde der Name nicht oft genug in meiner Gegenwart durch die Gegend gerufen, vielleicht war der Name zu lang, ich weiß ihn jedenfalls nicht mehr.

Die Jungs von Gala blieben damals für drei, vier Tage in unserer Gegend. Eine Hälfte übernachtete in einem Fremdenzimmer, die andere wurde bei türkischen Familien aus dem Ort und den Nachbardörfern untergebracht. Weder Hakans Familie noch meine war unter den Gastfamilien, doch während des Turniers lernten wir und die vielen anderen türkischen Jungs aus der Gegend die Spieler kennen und unterhielten uns oft mit ihnen. Auch wenn sie für Galatasaray spielten und wir sie möglicherweise in ein paar Jahren im Fernsehen sehen sollten, waren sie im Grunde ja ganz normale Jungens in unserem Alter, und sie waren auch alle ganz cool drauf.

Ein Erlebnis mit ihnen lässt aber den guten Hakan heute noch sehr wütend werden.
Während ich dann immer sowohl über das damals Passierte als auch über seine nicht verblassen wollende Verärgerung darüber lachen muss. Immer. Er ärgert sich, ich lache mir einen ab.

Gala hatte gerade eine Spielpause während des Turniers, und sie, die Mannschaft, und wir, die Dorfjugend, lagen bunt gemischt am Seitenrand und machten das, was Jugendliche während den Pausen bei einem Sommerturnier so machen, wir unterhielten uns alle über alles Mögliche und schauten nebenbei den anderen Mannschaften zu. Der Zehner war aber nicht da, keine Ahnung, wo der sich aufhielt, den sah ich eigentlich so gut wie nur auf dem Feld.

Und dann: einer der Spieler, der kleiner als alle anderen war, eine hervorragende Technik hatte und immer und pausenlos redete, drehte sich zu Hakan und schien irgendetwas zu ihm zu sagen, doch es war zu leise und für jeden Anwesenden unverständlich, es hörte sich zwar von der Betonung her an wie ein normaler Satz, war aber in keinster Weise zu verstehen.

Hakan schaute deshalb nur kurz verwundert und sagte dann auf türkisch: “Was?” Und der Spieler, direkt darauf, nur das hier: “Bsst.”

Ich merke gerade, dass der Streich schwer zu beschreiben ist, hoffe aber, dass das Ganze deutlich wird: Jemanden denken lassen, dass man einen ganz normalen Satz zu ihm gesagt hat, ihn nachfragen lassen und dann den genannten, komischen Laut von sich geben, um ihn wie einen Trottel dastehen lassen. Auch der komische Laut ist nicht leicht in Buchstaben zu fassen, am besten lässt es sich beschreiben wie das kurze Summen einer Mücke mit einem B davor und einem T danach. Bevor ich mich hier aber noch um Kopf und Kragen erläutere, machen wir lieber weiter mit der Story.

Jeder lachte. Jeder. Seine Mitspieler lachten, weil es für sie wohl der witzigste und beste Streich aller Zeiten war, die Leute aus der Gegend lachten, und das wohl auch, um höflich zu den Gästen und Bald-Profis zu sein, ich lachte aus einer Mischung von beidem, der Spieler lachte das Lachen eines Klassenclowns, nachdem er den Klassennerd verarscht hat.
Nur Hakan, der Arme, der grinste nur ein verbissenes Ich-könnte-ausrasten-aber-ich-will-mich-nicht-noch-mehr-zum-Affen-machen vor sich hin.

Das Ganze ist inzwischen neun Jahre her, Hakan findet es aber immer noch nicht lustig. Wir reden immer wieder mal über das Turnier und das damalige Drumherum, wir schwärmen über den großen Zehner, wir erinnern uns gerne an das spannende Finale zwischen Dortmund und Galatasaray, und wenn wir auf den Streich zu sprechen kommen (immer nur durch mich, nie durch ihn), dann sagt er nur: “Das war nicht witzig. Der kann mich mal.”

Der Scherzkeks hat es in den neun Jahren zwischen dieser Anekdote und dem Hier und Heute weit gebracht. Sehr weit gebracht.

Was aus dem großen Zehner geworden ist, wissen wir beide nicht.

Best Of Both Worlds

Das Sozialverhalten von Fussballern vor dem Training in der Kabine lässt sich grob in zwei Grundtypen einteilen.

Typ A denkt beim Betreten der Kabine einfach nur daran, dass ein Fussballtraining bevorsteht, und dass er hierhergekommen ist, um Fussball zu trainieren. Also kommt er kurz vor knapp in die Kabine, sagt kurz jedem Hallo, zieht sich um, und geht raus auf den Platz.

Typ B sieht das Training eher als soziales Gesamtpaket mit Drum und Dran. Er kommt eine halbe bis dreiviertel Stunde früher und als einer der Ersten, begrüßt jeden wie einen alten Freund, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, und vertieft sich in einem Gespräch nach dem anderen. “Und, was ging heute?”, “Bist du endlich mit deiner Sina zusamm?” Undsoweiter.

Ich bin Typ B durch und durch, und in der Kabine umgebe ich mich gerne und meistens mit weiteren B-Typen. So kann aus der bloßen Tatsache, dass man mit einem neuen, vorher völlig unbekannten Kollegen, beim ersten Training einer neu zusammengewürfelten Mannschaft nebeneinander saß, im Laufe der ersten gemeinsamen Saison und eine echte Freundschaft, mindestens aber eine solide Kumpelbeziehung entstehen. Denn dass in jeder Mannschaft nach dem ersten Training der Saison jeder seinen angestammten Platz hat, muss ich hier nicht erwähnen.

Ein Vorteil des Fussballerlebens als der B-Typ: dadurch, dass man mit jedem Kollegen im regen Austausch bleibt, weiß man genau über die Truppe und ihre Eigenheiten bescheid, lernt seine Kameraden besser kennen, und manchmal passieren dann Episoden wie jene an einem Trainingstag vor ein paar Jahren, die einem aufzeigen, wie komplex und vielschichtig das Untereinander einer Fussballmannschaft so sein kann.

Vor einer Einheit saß ich wie immer recht früh vor dem Training in meiner Kabinenecke und gönnte mir ein Gespräch mit meinem rechten Nebensitzer. Von der Wand aus gesehen war mein Platz der zweite, seiner der dritte.

“Und, wie siehts aus?” fragte ich ihn, “Was geht so?”
“Ach, eigentlich alles gut soweit” sagte er, “aber der Uni-Stress zurzeit kotzt mich an.”
“Arg viel los?” fragte ich, ganz der verständnisvolle B-Typ.
“Das glaubst du aber. Drei Prüfungen diese Woche, und nächste Woche noch einmal zwei. So ein Scheiß! Lernen, lernen, lernen. Die ganze Zeit. Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein, aber ich will spielen am Sonntag.”
“Ich fühl mit dir…Oh nein, halt, ich hab ja schon Ferien!”
“Du Penner!”

Dann band er seine Schuhe, stand auf und fragte: “Kommst du?”

“Ich bleib noch ein bisschen drin, komme dann nach”, entgegnete ich, denn ein echter B-Typ geht prinzipiell als einer der letzten nach draußen, um kein Gespräch und keine Story zu verpassen. Er ging raus, und Sekunden später kam freudestrahlend der Teamkollege rein, der den Platz links von mir innehatte, den Platz an der Ecke. Wir begrüßten uns. Und schon hatte ich mein nächstes Gespräch. Dachte ich zumindest.

Der Teamkollege aus dem Kabineneck schien ziemlich aufgeregt und an seinem Grinsen beim Betreten der Kabine und am heftigen Suchen eines Gegenstandes in seiner Sporttasche, bevor er auch nur ein Wort zu mir sagte, erkannte ich, dass er mir etwas zeigen will, und dass er auf das zu Zeigende ziemlich stolz ist.

“Schau dir das mal an, Alter!” sagte er ziemlich leise, gab mir einen Zeitungsartikel, kam näher und sagte: “Pass bloß auf, dass der Coach es nicht sieht.”

Ich las mir den Artikel durch. Er schaute mir gespannt und grinsend dabei zu. Der Inhalt in Kurzform: nach einem Streit in einer Discothek überwältigte vor einigen Monaten ein 20-jähriger einen 21-jährigen, fuhr ihn mit seinen Freunden auf einen Berg außerhalb der Stadt, wo der 21-jährige gefesselt und zurückgelassen wurde. Jetzt soll das Gerichtsverfahren losgehen, blablabla.

Er schaute mich an und wartete grinsend auf meine Reaktion. Ich war ziemlich verwirrt, denn er schien wirklich stolz auf die Aktion zu sein und völlig sicher zu sein, dass das Ganze auch bei mir auf Begeisterung stoßen würde. Um mich irgendwie aus der Affäre zu ziehen und um meinen Kabinnenachbarn nicht völlig vor den Kopf zu stoßen, sagte ich “Hammerhart! Du hast sie doch nicht mehr alle, Junge”, lachte dabei, und schüttelte den Kopf.

Er grinste immer noch, steckte das Ding wieder ein und zog sich schnell um, denn langsam war es an der Zeit, nach draußen zu gehen. Als er fertig war, sagte er: “Auf, gehen wir raus. Und behalte die Sache für dich.”
“Geh du schonmal, ich komm auch gleich raus” sagte ich und band mir jetzt auch endlich meine Schuhe zu. Er ging aus der Kabine, und ich war nun alleine in unserem Eck.

Und ich weiß noch genau, dass ich in diesem Moment über die gerade erlebten Situationen und Gespräche nachdachte und dass der krasse Gegensatz zwischen ihnen mich in Gedanken ungläubig den Kopf schütteln ließ. Vom Lernstress in der Uni und dem Ärger darüber zu einer heftigen Straftat und dem ignoranten Stolz darauf in fünf Minuten. Hammerhart.