David Berger

„Man könnte meinen, man sei im Irrenhaus“

Herbert Vorgrimlers Lebenserinnerungen

In Zeiten, in denen die Theologie sich auf weite Strecken von einem philosophischen und emotionalen Subjektivismus bestimmen lässt bzw. die anthropozentrische Wende vollzogen hat, spielt die Biographie des jeweiligen Theologen natürlich als Verständnisschlüssel zu seinem Werk eine große Rolle. Während die traditionelle Theologie sich ganz der Objektivität der natürlichen und übernatürlichen Wahrheit hingibt und so die meisten Theologen sich in ihrem Werk vornehm zurücknehmen resp. auf das Verfassen von Selbstbiographien mit wenigen Ausnahmen verzichten, ist dies in den letzten Jahrzehnten anders geworden: Bedeutende Theologen und jene, die sich für solche halten oder von der öffentlichen Meinung gehalten werden, schreiben ihr Lebenserinnerungen oder lassen sich Biographien nach ihren Vorstellungen verfassen. So verwundert es nicht, dass auch der ehemals in Münster an der Universität tätige Herbert Vorgrimler während seiner ruhigen Tätigkeit als Klinikseelsorger vom September 2005 bis zum Juni 2006 seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben hat, die nun unter dem ganz passenden Titel „Theologie ist Biographie“ im Aschendorff-Verlag Münster erschienen sind.[1] Der Verlag kündigt das Buch entsprechend an: „Herbert Vorgrimler gehört zu den großen deutschen Theologen, die die Ära nach dem II. Vatikanischen Konzil geprägt haben.“

Aus dem Leben Prof. Vorgrimlers

Auf fast 400 Seiten erzählt der 1929 in Freiburg im Breisgau geborene Theologe von seiner Familie, seiner Kindheit und Jugend in der süddeutschen Provinz: der Leser erfährt von der „unterschwelligen antiklerikalen Stimmung bei (seinen) Eltern“ (21), von seinen frühen Berührungen mit der Anthroposophie („Es gibt sehr vieles, was mich mit Anthroposophen verbindet“, 41), von den schlechten Erfahrungen, die er mit jenen Priestern machte, die die Liturgie „im alten Stil“ zelebrierten („seltsam“, „sadistisch“), und im Kontrast dazu von den durchwegs positiven Eindrücken, die der Diözesandirektor Alois Eckert bei ihm hinterließ, der „Gottesdienste, Eucharistiefeiern und Andachten im neuen liturgischen Stil abhielt“ (34). Der damaligen ebenso fromme wie kluge Freiburger Diözesanbischof, Conrad Gröber, lehnte dies natürlich vehement ab und wird deshalb auch immer wieder als „der braune Conrad“, der sich „bei den Nazis ... angebiedert hatte“, bezeichnet (22, 25 u.ö.) und sein Leiden unter den Nazis verhöhnt („Während dieser Predigt zündete die Hitlerjugend einen Knallfrosch am Erzbischöflichen Palais. Seither fühlte sich Gröber als Nazi-Verfolgter“: S.61). Pauschal urteilt Vorgrimler: „Gröber neigte zu unüberlegtem, selbstherrlichem Geschwätz.“ (123) Nach all den schlechten Erfahrungen mit Geistlichen und seinem minimalistischen Blick auf den Wert des Priesteramts[2] verwundert es dann doch etwas, dass Vorgrimler sich 1948 am Collegium Borromaeum anmeldet, um Priester zu werden. An der Ausbildung und Atmosphäre dort lässt er kein gutes Haar: Hermann Schäufele war damals Direktor des Hauses, wie viele andere richtungsweisende Geistliche jener Zeit am Collegium Germanicum ausgebildet, das nach Vorgrimler „absolut konforme, dem Papst bedingungslos ergebene, kritiklose Figuren“ „produziert“ (88). 1950 machte er bei Hugo Rahner Exerzitien. Grundlage war die „Nachfolge Christi“, ein Buch, das wie der Autor zugibt, „mir wegen seiner negativen Weltsicht und seiner individualistischen Spiritualität unsympathisch war, und er garnierte seine Ausführungen mit Zitaten aus den zahlreichen Reden Pius XII., der mir schon deshalb unsympathisch war, weil er für Schäufele das Ein und Alles darstellte.“ (93) Nach einem ähnlichen Motivationsschema kommen auch die späteren Urteile des Emeritus zustande!

Im Spätherbst des Jahres 1950 setzt Vorgrimler seine Studien in Innsbruck fort: auch hier lässt er an der Atmosphäre des Canisianum jener Zeit kein gutes Haar („Gefängnis“, in den Zimmern Flöhe), er begegnet aber dort Karl Rahner: eine Begegnung, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen wird. Zusammen mit Adolf Darlapp, Walter Kern und Georg Muschalek wird er in Rahners Doktorandenseminar aufgenommen. Sozusagen als „Gegenleistung“ finanziert er Rahners  teure Leidenschaft, das Fliegen „mit einer kleinen einmotorigen, dreisitzigen, mit Segeltuch bespannten Maschine“ (117) über die Alpengipfel. Schnell lernt er in Innsbruck andere „Paradiesvögel“ (120), die sich aus den harten Vorschriften des Seminarlebens nichts machen, kennen und genießt seine Zeit (ebd.).

1953 wird er zum Priester geweiht. Auch hier ist er recht bald stolz darauf, sich nicht an die Vorschriften der Kirche zu halten: „Damals waren noch die Gebete Leos XIII. nach der Messe, drei Ave Maria und das Gebet zum Erzengel Michael gegen den Teufel, vorgeschrieben. Auch musste man auf dem Weg zum und vom Altar das Birett auf dem Kopf tragen. So wie ich es bei Karl Rahner erlebt hatte, ließ ich beides weg.“ (127). 1957 promoviert er bei Rahner über die Geschichte des Bußsakramentes, fällt aber durch das Dogmatikrigorosum, weil er – wie er schreibt - zuviel Nescafe trinkt und gleichzeitig Beruhigungsmittel nimmt (135), 1958 gelingt die Sache dann im zweiten Anlauf. Daran schließt sich die Mitarbeit an der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche an. Auch hier wartet Vorgrimler mit Interessantem auf. So etwa dem selbstherrlichen Verhalten Rahners gegenüber verdienten Theologen, die nicht seiner kirchlichen Richtung entsprachen: „Den Artikel ‚Gemeinschaft der Heiligen’ des berühmten Laterantheologen Piolanti schrieb Rahner völlig neu, nicht ohne Folgen für die römische Stimmung ...“ (139). Auch scheint es Praxis gewesen zu sein, dass Rahner und Vorgrimler ihre eigenen Produktionen „von Freunden unterzeichnen“ ließen, um das Spektrum der an dem großen Werk mitarbeitenden Wissenschaftler größer aussehen zu lassen (139).

Daneben muss der junge Doktor auch Religionsunterricht am Gymnasium erteilen: dieser scheint nicht sehr anziehend gewesen zu sein, denn allzu viele Schüler verzogen sich weg vom Unterricht in den Keller des Gymnasiums um sich dort sportlichen Aktivitäten hinzugeben, so dass Vorgrimler nach wenigen Wochen von dieser Aufgabe dispensiert wurde. Stattdessen betreute er nun das „Männerwerk“ des Verlags Herder, wo er „Tischmessen außerhalb der Legalität“ einführte (143).

Für Psychologen dürfte der Termin nicht uninteressant sein: Beim Requiem für seine Mutter im Jahr 1961 lernt Vorgrimler „eine junge sportliche Studentin namens Sigrid Loersch“ (151) kennen. Von dieser Bekanntschaft, die die ganze weitere Autobiographie fundamental prägt, wird noch zu reden sein. Auf Vermittlung von Rahner beginnt er 1963 eine Habilitation bei Ratzinger, die er nie vollenden wird. Auf Vermittlung wiederum von Rahner (der sich in diesem Fall für Vorgrimler und gegen dessen ebenfalls unhabilitierten Gegenkandidaten Karl Lehmann entschied) und anderen speziellen Freunden kann er ohne jede Habilitation dennoch in Luzern Professor werden (174). Die politischen Eskapaden Vorgrimlers führten schließlich dazu, dass sich der sensus fidei der Schweizer in einer Volksabstimmung gegen eine Beförderung der personal so bestückten theologischen Fakultät zu einer Fakultät mit normaler Universitätsausstattung entschied (189).

Wieder war es Rahner, der 1971 dafür sorgte, das Vorgrimler nun als sein Nachfolger nach Münster gehen konnte, nachdem Lehmann  ebenfalls ohne vorausgehende Habilitation Dogmatiker in Mainz geworden war (197). Kardinal König, der mit Vorgrimler ein besonderes Interesse teilte, von dem noch zu sprechen sein wird, sorgte dafür, dass die drei Anzeigen, die inzwischen gegen Vorgrimler bei der Glaubenskongregation vorlagen, „aus den Akten entfernt wurden“ (202), so dass dieser Beförderung nichts mehr im Wege stand. Der schlechte Ruf Vorgrimlers in den traditionell katholischen Kreisen war ihm natürlich nach Münster vorausgeeilt, so dass er in der Seelsorge nicht eingesetzt werden konnte: „Ich hielt (unerlaubt, aber gültig!!) Eucharistie in kleinen und kleinsten Gruppen, sogenannte Haus- oder Tischmessen. Sie würden mich mit ihren Verboten nicht finden.“ (209) Erst nachdem Lettmann Bischof von Münster wird und auf Vermittlung von Frau Loersch, ändert sich das Klima für Vorgrimler deutlich. 1994 wird Vorgrimler emeritiert und arbeitet seitdem als Krankenhausseelsorger in einer großen Klinik in Münster.

Eine sportliche Hose für den Bischof

Die referierten großen Rahmendaten werden häufig nur allzu kurz ausgeführt. Viel öfter  erzählt Vorgrimler periphere Dinge: wie von seiner Zeit am Gymnasium und dass er sich im Religionsunterricht langweilte; dass der spätere Bischof von Aachen, Klaus Hemmerle in seiner Klasse war und beim Sportunterricht einmal seine Badehose verloren hat, was die ganze Klasse zu einem Lachanfall reizte. Überhaupt erfährt der Leser die ganze Zeit über viele Details von großem Allgemeininteresse nicht nur für die neuere Theologiegeschichte: wann, wo und unter welchen Umständen welche seiner Mitarbeiterinnen oder Bekannten sich das Bein verstaucht oder mit ihm die Oper oder auch ein Musical besucht hat, in welchem Lokal er gerne isst, dass sein Garten in Münster im harten Winter 2005 nur einige schöne Äste verloren hat, welche Hose sich der Bischof von Münster in der Ben-Yehuda-Straße in Jerusalem kaufte[3], und dass er mit Bischof Lettmann am Steuer in Nottuln wegen zu hoher Geschwindigkeit 2002 geblitzt wurde (57, 293, 304, 308, 354 u.ö.) usw.

Zu den vielen privaten Angaben passt die sprachliche Gestaltung der Lebenserinnerungen: sie erinnert etwas an die Kunst der naiven Malerei, wie man sie bevorzugt in Volkshochschulkursen in den 70er und 80er Jahren erlernen konnte: kurze, einfache Sätze; inhaltlich nicht selten durch reine Stichwortassoziationen zusammengehalten (cf. etwa S.84: Herderverlag!). Bisweilen wird ein Thema eröffnet, das dann aber nicht fortgeführt wird: so kündigt er S. 342 den Bericht einer schlechten Erfahrung an, die er im Mai 1998 gemacht hat, berichtet dann aber auf allen Folgeseiten von der Bösartigkeit der Autoren der „Una Voce Korrespondenz“, den Sedisvakantisten, den „Initiativkreisen katholischer Laien und Priester“, Hans Urs von Balthasar und der Zeitschrift „Theologisches“. Man merkt, dass hier die Emotionen beim Schreiben noch einmal besonders stark aufflammten und eine klare Gliederung der Gedanken verhinderten. Zurecht hat der berühmte Historiker Thomas Nipperdey (+ 1992) immer wieder das „Gebot der Diskretion“ hochgehalten, was bedeute, „andere nicht mit seinen Subjektivitäten zu behelligen“: Vorgrimler zeigt sich über sein ganzes Buch hinweg bis weit über die Grenzen der Peinlichkeit hinaus als Meister im Brechen dieses Gebotes.

Die gegebenen Wertungen sind häufig verbal sehr ausfallend gehalten und erinnern in ihrer Logik nicht selten an jene, die an Stammtischen gepflegt wird. So etwa wenn er zum Jahr 1991 schreibt: „Bei einer Friedenswallfahrt nach Telgte erzählt Bischof Lettmann Sigrid, ein gewisser Schönberger von der „Una Voce Korrespondenz“ habe ihn und mich bei der Glaubenskongregation angezeigt. In der Welt führen sie Krieg[4], und in der Kirche feuern die Dreckschleudern.“ (301) Erinnert dies nicht an die Logik jener, die sich am Stammtisch bitter darüber beschweren, dass sie von der Polizei angehalten wurden, weil sie bei Rot und betrunken über die Ampel gefahren sind, während in Afrika täglich so viele Menschen verhungern würden?

„Ein Segen für Herbert“ - Ein merkwürdiges Dreigestirn

Mit den Indiskretionen des Bischofs gegenüber „Sigrid“ sind wir schon bei den Personen angelangt, die neben dem Autor selbst den größten Raum in der Biographie einnehmen: Die „sportliche“ Sigrid Loersch und Bischof Lettmann. Glaubt man den Ausführungen Vorgrimlers, so bildeten sie gemeinsam ein merkwürdiges Dreigestirn, in dem Frau Loersch eine besonders illustre Rolle einnimmt. Wie schon erwähnt taucht diese in der Biographie Vorgrimlers zum ersten mal zu jenem Zeitpunkt auf, als die viel geliebte Mutter verschwindet. Kurz darauf bittet die junge Theologiestudentin, die bevorzugt mit einer Vespa unterwegs ist, den  jungen Priester, ihr bei der Vorbereitung Ihres Diplomexamens behilflich zu sein. Mit einer sicheren Professorenstelle ausgestattet, zieht er bereits wenige Jahre später mit der „sympathischen Sigrid“ (182) in eine gemeinsame Wohnung, die ihnen bezeichnenderweise der Rahnerschüler Johann Baptist Metz ausfindig gemacht hat. Wobei er Wert auf die Feststellung legt, dass es sich bei der Dame nie nur um eine „Haushälterin“ gehandelt habe (182): „Alle Aufgaben, die mit einem Haushalt zusammenhängen, sollten gemeinsam erledigt werden.“

Immer mehr wird Frau Loersch zur Frau an der Seite des jungen Priesters. Keine Reise angefangen von der Studiosus-Reise in die Türkei bis hin nach Madeira und Jerusalem, wo Sigrid nicht dabei wäre. Dies geht so weit, dass die beiden 1993 vom Bischof von Münster gemeinsam vor dem versammeltem Priesterseminar dem Nuntius Kada vorgestellt werden (305-306), wobei der einzige der sich bei jenem Ereignis aufregt, Vorgrimler ist, und zwar, weil der Nuntius betonte hatte, die priesterliche pietas äußere sich im häufigen Zelebrieren der Messe (306). In diesem Zusammenhang ist es auch verständlich, dass Vorgrimler schreibt: „Wir können noch am 11.6. nach Münster fahren zur Taufe von ... mit Lena und Marie haben wir nun alle ihre drei Kinder getauft.“ (330).

All seine Energie setzt Vorgrimler dafür ein, ihr dort, wo er Einfluss hat – besonders an der Universität Münster – entsprechende Arbeitsstellen und einen nicht unerheblichen Einfluss zu verschaffen. Wo dies nicht sofort gelingt, droht er den zuständigen Stellen einen „Konkordatsfall zu schaffen“ (229); d.h. konkret: den Zölibat öffentlich zu brechen und Loersch zu heiraten, dabei aber trotzdem seine gut dotierte Stelle als Universitätsprofessor zu behalten. Dass dies nicht überall gut ankommt, ist verständlich: immer wieder muss bei den Professoren der Universität der Eindruck einer persönlichen Klüngelei entstanden sein, der sie sich lange erfolgreich widersetzten (237).

Die Person Lettmanns kann dann aber doch im Hinblick auf diese Lage einiges verändern: Er scheint vom Charisma Loerschs ebenfalls sehr angetan, was gleichzeitig natürlich das Verhältnis zu Vorgrimler deutlich verbessert (240-241). Es ist interessant zu verfolgen, wie in der Perspektive Vorgrimlers der Einfluss Loerschs auf diesen zunehmend steigt (250) und sich dieser Vorgrimler gegenüber immer devoter verhält: Sie sorgt dafür, dass der mit den beiden befreundete Franz-Peter Tebartz-van-Elst den vom Bischof finanzierten Lehrauftrag für Homiletik an der Universität Münster erhält, was den ersten entscheidenden Schritt zu seinem heutigen Amt darstellt (242). Schon 1986 bietet ihr Bischof Lettmann angeblich die C-2-Professur für Feministische Theologie an der Universität Münster an (244), 1987 verschafft ihr sein Generalvikar eine Ehrenkarte als „Mitliturgin“ beim Papstbesuch in Münster (246); 1993 „predigt sie in zwei Gottesdiensten in Altenberge und Hansell über das Buch Ruth, mit sehr positivem Echo“ (311).

Im Gegenzug für die vielen Wohltaten bereitet Loersch für den Bischof zu dessen 60. Geburtstag eine Festschrift vor. Auch eine Reise nach Israel bekommt er von den beiden 1993 geschenkt (294). Innerhalb der Universität sorgt sie etwa dafür, dass Vorgrimler an entscheidender Stelle in wichtige Berufungskommissionen kommt (292) und so die Theologische Fakultät endgültig umstrukturieren kann. Es ist bezeichnend, dass Vorgrimler stolz bemerkt, am Ende seiner Amtszeit an der Universität „war unsere Fakultät geeint und einig, es gab keine Fraktionen mehr“ (291). Die Verbesserung des Verhältnisses des Bischofs zu Vorgrimler wird von diesem anschaulich beschrieben: während er anfangs vorsichtig zu einer öffentlichen Konzelebration beim Requiem für Kardinal Höffner in Münster eingeladen wird, kommt er ab seinem 60. Geburtstag direkt ins Bischofshaus um mit dem Bischof Eucharistie zu feiern (263). Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung am Jahrestag der Primiz Vorgrimlers 1993, als dieser auf einer Reise durch das heilige Land zelebriert, der Bischof ihm ministriert und Sigrid das Lektorenamt versieht (308). Bei dem Gottesdienst zur Emeritierung Vorgrimlers ein Jahr später muss Lettmann nicht ministrieren, sondern predigt „und erhebt mich zum ‚Engel der Fakultät’“ (312). Wem das Lachen noch nicht vergangen ist, der wird nun auf einen weiterführenden Antrag des Bischofs nach Rom warten, den Titel „Doctor Angelicus“ der Diözese Münster Vorgrimler auch offiziell zuzuerkennen! Auch beim Requiem für die zwei Jahre später verstorbene Loersch überschlägt sich der Bischof: „Sigrid war ein Segen für Herbert, ein Segen für die Fakultät, ein Segen für uns alle.“ (322).

Dass sich bei soviel Lob Vorgrimler über Bischof Dyba besonders ärgerte, ist psychologisch verständlich: „Besonders infam war das unkontrollierte Geschwätz von Dyba über Theologieprofessoren im ‚Konkubinat’“ (287)!

Rahner, die Freimaurer und die Politik

Sehr ausführlich berichtet Vorgrimler auch über seinen Doktorvater Karl Rahner. Sobald das Thema angeschnitten wird, bemerkt man einen enormen Respekt vor dem umstrittenen Jesuiten; deutlich wird erkennbar, dass er diesem seine gesamte theologische Ausrichtung und auch seine wissenschaftliche Karriere zu verdanken hat. Neben den schon aus den Rahnerbiographien des Autors bekannten Daten erfahren wir etwa, dass Rahner während des Konzils seine Zeit häufig bei Luise Rinser in Rocca di Papa verbracht (240) und dass der Jesuit Vorgrimler „in den Sorgen um Sigrids Zukunft immer zur Seite gestanden“ (237) hat, dass er bezüglich der Zukunft der Kirche aufgrund des angeblich zunehmenden Zurückruderns hinter das Konzil „immer resignierter geworden war“ (237). Und er schließt: Aber ich konnte bei seinem Tod nicht wirklich traurig sein: ‚Ich bin froh, dass Du es überstanden hast.’“ (237) Froh auch, dass Rahner sich nun nicht mehr in irdischer Hülle die Kritik an seiner Person und Theologie anhören muss, die Vorgrimler auf mehreren Seiten zu stark emotional geprägten Ausfällen führt. Besonders werden hier jene „angeblich Frommen“ genannt, „denen die nachkonziliare Richtung von Bischöfen und Theologen nicht in ihr primitives Urteilsvermögen passte“ (288): angeführt von Hans Urs von Balthasar, Hubert Wolf und „Theologisches“: jede Kritik wird dabei sofort als „Hass und primitive Aggression“, „Rufmord“ und „Üble Nachrede“ verstanden (343-344).

Immer wieder hat sich Vorgrimler vorgenommen auf den Rat seines besten Freundes Lettmann zu hören: „Bellen lassen. Gar nicht zur Kenntnis nehmen.“ (344) – so recht ist ihm dies aber nicht gelungen, wie etwa sein eigener Hinweis einige Seiten später zeigt: „Das schändliche Buch, das David Berger gegen Rahner organisiert hat, bekommt von mir eine angemessene Kritik, die ich ins Internet stelle“ (379). Jeder, der ein wenig logisch denken kann und den Text liest, weiß, warum er nur im Internet auf der privaten Seite eines Münsteraner Vorgrimlerschülers zu lesen war: es ist anzunehmen, dass sich keine Zeitschrift bereit fand, den Text abzudrucken. Und das will bei der derzeitigen Lage ja schon etwas heißen!

Neben der Rahnerrezeption und –apologetik hat sich Vorgrimler vor allem auch um das Gespräch mit den Freimaurern verdient gemacht: Nachdem Paul VI. Kardinal König mit dieser delikaten Aufgabe betraut hatte, gab dieser den päpstlichen Auftrag, „soweit er das deutsche Sprachgebiet betraf“ (181), an Vorgrimler weiter: „1969 kam ich im Kloster Einsiedeln zu eingehenden Gesprächen mit hochrangigen Freimaurern zusammen.“ (181) Die verhängnisvolle Lichtenauer Erklärung geht im Wesentlichen auf Vorgrimlers Initiativen zurück (221). Langsam bemerkten auch die Bischöfe, dass der so geführte Dialog mehr dazu angetan war, den Katholizismus Vorgrimlers freimaurerisch werden zu lassen als die Freimaurer katholischer. Deshalb ließen sie in der Mehrheit auch diese Dialogkonzeption „einschlafen“ (222). Davon erst recht motiviert hört Vorgrimler nicht auf, eine Loge nach der anderen zu besuchen und mit führenden Freimaurern gemeinsame öffentliche Auftritte zu absolvieren (222). Alles weitere dazu hat Felizitas Küble bereits in „Theologisches“ ausgeführt und obwohl Vorgrimler behauptet, er hätte diese „berüchtigte Zeitschrift“ „nie angeschaut“ (302), hat ihn diese Analyse Kübles doch sehr verärgert (344): Die Autorin wird dort lustigerweise (eine der wenigen Stellen, an denen man vermuten könnte, Vorgrimler habe wenigstens eine homöopathische Dosis Humor) nur „Felizitas K.“ (344), wie eine Verbrecherin in einem Pressebericht der Polizei genannt.

Das dritte Element, das das intellektuelle Profil Vorgrimlers auszeichnet, ist das politische: Schon während der Schulzeit hatte sich Vorgrimler mit politischen Fragen beschäftigt. Als es nach dem Zweiten Weltkrieg gefahrlos möglich war, dies zu tun, wurde das Interesse konkret: „Meine Sympathie gehörte den Kommunisten ... Ihr Programm, Enteignung der Großgrundbesitzer, Vergesellschaftung der Industrie, kompromissloses Eintreten für Frieden und Völkerverständigung, leuchtete mir ein.“ (75) Bis zum heutigen Tag hält er die Ausführungen Karl Marx’ im Kommunistischen Manifest für „nicht falsch“ (75). Diese eindeutige Positionierung führte zu einem frühen Zerwürfnis mit dem späteren CSU-Minister Hans Maier; v.a. aber zu Vorgrimlers Tätigkeit im Zusammenhang mit der Paulus-Gesellschaft. Auch hier scheint Kardinal König ihm wieder die Wege bereitet zu haben. Sie bestand vor allem in der Gründung und Herausgabe der „Internationalen Dialog Zeitschrift“, in der sich „Menschen unterschiedlicher Weltanschauung“ äußern sollten, die de facto aber zu einem Forum linksorientierter Christen, Kommunisten, Atheisten und Freimaurern wurde (Vorgrimler nennt sie „anonyme Christen“: S.359). Man gab sich der reichlich naiven Vorstellung hin, dass eine „Verständigung am ehesten auf der Basis der Philosophie Kants möglich wäre“ (172). Der Verlag Herder übernahm die Zeitschrift in sein Verlagsangebot, aber keiner wollte diese lesen; das Niveau erreichte schnell einen solch peinlichen Punkt, dass Kardinal Bengsch nicht zögerte den Herausgeber einen „Dialog-Narren“ (210) zu nennen und der damalige Innenminister Genscher die Zeitschrift in die „Liste derjenigen Publikationen aufnehmen ließ, die bei Grenzkontrollen zu beanstanden waren.“ (213)

Vorgrimler jedoch nutzte seinen Einfluss als Sekretär des Atheismus-Sekretariats aus, um die Zeitschrift mit großen Zuschüssen der Bischofskonferenz trotz fehlender Leser weiter künstlich am Leben zu erhalten. Aber selbst diese Zuschüsse konnten den Verlag nicht davon überzeugen, die Zeitschrift weiter zu verlegen: 1975 stellte er das Erscheinen ein (217). Seitdem scheint Vorgrimler auch auf den Herderverlag einen großen Hass zu verspüren, was an zahlreichen abwertenden Bemerkungen deutlich wird.

Bereits ein Jahr zuvor hatte sich Vorgrimler zu der unglaublichen Bemerkung hinreißen lassen, „im allgemeinen würde im Ostblock kein Christ mehr um des religiösen Glaubens willen verfolgt“ (215). Das war nun selbst den liberalen Medien in Deutschland zu viel: die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte einen Artikel, der die Äußerung Vorgrimlers als „Skandal“ bezeichnete (215). Karl Rahner war einer der wenigen, die sich auch in dieser Situation noch zugunsten Vorgrimlers äußerten. Keinen verwundert es, dass Vorgrimler auf diesem Hintergrund den Zusammenbruch des Kommunismus nach 1989 und den Fall der Berliner Mauer sehr skeptisch beurteilte (290).

Polemik gegen Gegner, Verfolgungswahn und Dialogunfähigkeit

Ein grundsätzliches charakterliches Merkmal Vorgrimlers tritt bei der Lektüre seiner Lebenserinnerungen in ein immer klareres Licht: Er ist großzügig im Austeilen von Kritik, die zumeist in Form harter und ungerechter Polemik erfolgt, aber völlig unfähig mit Kritik an seiner Person, seinem Denken und seinen Idolen umzugehen.

Der erste Charakterzug wird dort besonders klar deutlich, wo er über Kirchenfürsten spricht, die nicht seinen kirchenpolitischen Optionen entsprechen: So etwa in der Beurteilung Papst Johannes Pauls II: Er habe das typisch Katholische so sehr überbetont, dass es zur Trennung der Christen beigetragen habe: „Nicht nur seine übertriebene Marienverehrung; schon sein Wappenspruch ‚Totus tuus’, den er bei Grignon de Montfort entlehnt hatte, das große M in seinem Wappen waren bedenklich. Seine bedenkenlose Bejahung der angeblichen Marienerscheinungen von Fatima ... Innerkirchlich ließ er bestimmten Kurienkardinälen zu viel Freiheiten. Die Dekrete des Kardinals Castrillon Hoyos über das Priestertum und die Laien waren verheerend, ebenso die Liturgieinstruktion des Kardinals Arinze. In seiner Kirche herrschte er nach dem Schema Befehl und Unterwerfung; herrisch verfügte er: Schluss der Debatte ...“ (350). Ähnlich dreist geht er mit Kardinal Meisner um: Dieser hatte in Trier gegen die Götzen unserer Zeit und auch die Vergötzung des Arbeitsplatzes gepredigt. Geschickt verkürzt und entstellt Vorgrimler Meisners Ausführungen, um sich dann zu der Bemerkung herabzulassen: „Leute, die lebenslang einen sicheren Arbeitsplatz haben, tun sich leicht damit, Arbeitslose auf der Suche nach einem Arbeitsplatz als Götzendiener zu kritisieren.“ (353) Dass Erzbischof Cordes Vorgrimler einen „theologischen Falschmünzer“ nannte, ist auf diesem Hintergrund nicht verwunderlich.

Ebenso wenig verwunderlich die Reaktion Vorgrimlers darauf: „Ich hätte ihn anzeigen und mit Sicherheit einen Prozess gewinnen können“ (336). Er hat es natürlich nicht getan, aber die Reaktion ist typisch. Immer wieder wird an vielen Stellen der Biographie deutlich, dass Vorgrimler auf Kritik scheinbar nur mit juristischen Drohungen oder Todschlagargumenten reagieren kann: so werden Kritiker als „psychisch gestört“, kriminell, primitiv, naiv, hasserfüllt, gallig und giftig, von „unlauteren Motiven“ getrieben usw. bezeichnet: ein wirkliches Eingehen auf die kritisierten Punkte findet nicht statt. Begründung des Dialog-Theologen: „Mit solchen Leuten ist eine Diskussion unmöglich“ (361). Wo er direkte Einflussmöglichkeiten hatte, versuchte er auch Kritiker direkt zum Schweigen zu bringen: so etwa die Münsteraner Doktorandin Angelika Senge, die sich in ihrer Dissertation kritisch  mit den „Christen für den Sozialismus“ auseinander gesetzt hatte: Der „Rat“ bemüht sich darum, dass die Note von 2 auf 4 herauf gesetzt und das Kapitel, das u.a. Rahners, Vorgrimlers und Kuno Füssels (Rahnerschüler, Mitglied der DKP, Assistent bei Vorgrimler, jetzt PDS) Aktionen kritisch analysierte, gestrichen wird (228).

Eine besondere Note bekommt diese Dialogunwilligkeit Vorgrimlers durch eine Art ekklesiogene Paranoia: überall, von den Initativkreisen und Una Voce über das Opus Dei bis zu den Rittern vom Heiligen Grab sieht er Denunzianten versteckt, die ihm oder Rahners Ruf schaden wollen. Sie werden als „düstere Zirkel von psychisch gestörten Personen“ bezeichnet, die sich romtreu geben und ihn und die Seinen bei den Bischöfen, dem Nuntius oder in Rom denunzieren (166, 361 u.ö.). Wie bereits erwähnt, sieht Vorgrimler in „Theologisches“ eine wichtige Instanz dieser Verschwörung: „Ich habe das abscheuliche Blatt, das vor keiner Hetze und keinem Rufmord zurückschreckte und zurückschreckt, nie angeschaut.“ Getröstet wird er wieder von Bischof Lettmann, der zu „Theologisches“ aus Ärger über die Veröffentlichung der Tatsache, dass sich Lettmann die Rede zur Verleihung seines Ehrendoktorats an der Universität Münster von Vorgrimler habe schreiben lassen, gesagt haben soll: „Man könnte meinen, man sei im Irrenhaus“ (302). Auch in der Tatsache, dass sich Professor Thomas Ruster in der Karl-Rahner-Akademie kritisch zu dem großen Lehrer äußern durfte, sieht er einen Affront; ebenso wie darin, dass man ihn für das Rahner-Heft der „Stimmen der Zeit“ nicht als Autor geladen hat: Das „zeugt von charakterschwachem Opportunismus, meine ich.“ (364)

Kirchengeschichtlich nicht uninteressant

Ganz ohne Zweifel wird der Leser der Gegenwart, der die Sensation mehr liebt als das genannte „Gebot der Diskretion“, die Offenheit, mit der Vorgrimler aus seinem Leben erzählt, besonders begrüßen. Schonungslos stellt er auch jene Aspekte dar, die ihn kaum in einem guten Licht erscheinen lassen. Freilich sind durch diese Offenheit auch andere Personen betroffen: ob er etwa seinem bischöflichen Freund durch solch indiskretes Vorgehen eine Freude gemacht hat, scheint fraglich. Interessant ist die Biographie weniger wegen der Person oder Theologie Vorgrimlers: beide werden wohl in wenigen Jahrzehnten vergessen sein. Nein, interessant ist sie vor allem auch deshalb, weil in ihr ein Typus von Universitätsprofessor der Theologie in besonders grellem Licht und starken Farben aufscheint, der für die ersten Jahrzehnte während und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im deutschen Sprachraum typisch zu sein scheint. Bischof Dyba hat dazu das Notwendige klar und ohne Beschönigungen gesagt und dafür den Hass vieler geerntet. Die depressive Grundstimmung, die die abschließenden, oberflächlichen, aber nicht ganz realitätsfernen Äußerungen Vorgrimlers (387-391) durchströmt, ist aber zugleich Ausdruck dafür, dass er einer aussterbenden Gattung angehört. Und nicht nur, aber auch das macht gerade uns jüngeren Theologen Mut!

Anschrift des Autors: Dr.phil. Dr.theol. David Berger, Manteuffelstr. 9, 51103 Köln


[1] Herbert Vorgrimler, Theologie ist Biographie. Erinnerungen und Notizen, Aschendorff-Verlag: Münster 2006, 400 Seiten, 12,80 €.

[2] Cf. S.178: „Ich konnte im Priester nicht eine Repräsentanten Jesu Christi, ein erhabenes Gegenüber zur Gemeinde sehen, nicht einen Vollmachtsträger, der etwas ‚kann’, was andere Christen grundsätzlich nicht ‚können’“

[3] Die Wiederabdruckerlaubnis einer schönen Photographie, bei der der Bischof, ausgestattet mit der neuen Hose und im „Partnerlook“ mit Vorgrimler mit diesem auf einer Bank sitzt (S.379), hat Verlag diese mit Hinweis auf das Veto Vorgrimlers verweigert.

[4] Gemeint ist hier der 1. Irakkrieg der USA.