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Das 27 000-Steine-Puzzle

Puzzle Foto: Andreas Labes

Martina Doering

An einem Tag im Sommer 2001 rollen Sattelschlepper in Berlin-Friedrichshagen an. Ihre Fracht wird auf dem Hof vor den ausgedienten Versuchshallen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt ausgeladen. Es sind Gitterboxen und Paletten mit insgesamt 80 Kubikmeter Basaltgestein. Dunkel wie Kohle. Eine Masse aus kleinen und kleinsten Steinen in den Boxen, als kilo- bis tonnenschwere Fragmente auf den Paletten. Das ist alles, was von der berühmten Tell Halaf-Sammlung übrig ist.

Niemand, der diese Splitter und Brocken sieht, würde vermuten, dass sie Teile von Greifen, Löwen und Götterstatuen sind und zu jenen einzigartigen Objekten gehören, die der deutsche Diplomat und Forschungsreisende Max von Oppenheim 1899 in Tell Halaf am Rand der syrischen Wüste entdeckt, auf eigene Kosten ausgegraben und nach Deutschland gebracht hat. Es sind Zeugnisse eines Volkes aus dem frühen 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, das von Westen nach Nordsyrien zog und dort kleine Fürstentümer gründete. Die von Oppenheim entdeckten Bildwerke eines Palastes bilden die größte Sammlung aramäischer Bildwerke außerhalb ihres Herkunftsgebietes, der heutigen Türkei und Syrien.

Einen kleinen Teil der Objekte lässt Oppenheim in Syrien und finanziert im syrischen Aleppo die Gründung eines Museums, in dem sie ausgestellt werden. Den Hauptteil aber präsentiert er in einem privaten Museum in Berlin-Charlottenburg, nachdem alle Verhandlungen mit den Königlichen Museen zu Berlin scheiterten. Über die Eröffnung des Tell Halaf-Museums am 15. Juni 1930 wird weltweit berichtet. Aber dreizehn Jahre später, bei einem Bombenangriff auf Berlin im November 1943, wird das Museum vollständig zerstört. Die Exponate aus Holz, Gips oder Kalkstein verbrennen. Die vom Brand erhitzten Basaltskulpturen zerspringen im kalten Löschwasser-Regen in tausende Stücke. Die zerstörte Sammlung kann jedoch trotz der Kriegswirren in den Wochen nach dem Angriff geborgen werden. Der Schutt der Statuen wird im Depot des Vorderasiatischen Museums gelagert, wo er nahezu unbeachtet die Jahrzehnte überdauert.

Als die Fragmente, Splitter und Brocken nach mehr als 60 Jahren in Friedrichshagen eintreffen, werden sie dort von einem kleinen Spezialistenteam sehnlichst erwartet. Der Archäologe Lutz Martin, damals 46, seine Kollegin Nadja Cholidis, 37, und der Restaurator Stefan Geismeier, 36, wollen die Tell Halaf-Statuen wieder auferstehen lassen.

Die letzten Bruchstücke des
Riesenpuzzles. / Foto: Andreas Labes

Es ist ein grandioses, aber auch irrwitziges Projekt. Die Sammlung gleicht einem riesigen, dreidimensionalen Puzzle aus rund 27 000 Teilen, und Martin, Cholidis und Geismeier ahnen nur, was auf sie zukommt. Sie wissen nicht, wie sorgfältig die Bergungstrupps im November 1943 gearbeitet haben und wie viele Teile verloren sind. Sie können nicht sagen, wie die Großplastiken wirken werden, wenn sie aus tausenden Stücken wieder zusammen gesetzt sind. Und ihr größtes Problem ist, wie sie die Einzelteile überhaupt einem Objekt zuordnen sollen. Auf manchen Brocken sind Reliefs zu erkennen, Federn oder Fell. Auf anderen sieht man Muskelstränge, eine Nase oder ein Auge. Doch bei den Fragmenten aus dem Inneren der Figuren fehlen solche eindeutigen Merkmale völlig.

Stefan Geismeier Stefan Geismeier hat neue
Klebeverfahren gesucht und nach
geeigneten Materialien gefahndet.
Foto: Andreas Labes

Der Restaurator Stefan Geismeier hat in dieser Zeit viele schlaflose Nächte. Er grübelt, ob die restaurierten Götterstatuen ohne eine aufwendige Halterung stehen werden. Er denkt über die Klebetechnik nach und fragt sich, ob sie die Erfolgsaussichten nicht doch etwas zu optimistisch beurteilt haben. Seinen Kollegen sagt er nichts von seinen Zweifeln. Lutz Martin und Nadja Cholidis sind voller Enthusiasmus und glauben, dass sich schon irgendein Weg finden wird. „Die beiden haben das Ziel gesehen,“ sagt Geismeier. „Ich aber musste den Weg suchen, wie man dorthin kommen kann.“

Lutz Martin hatte als erster der drei die Reste der Tell Halaf-Sammlung gesehen. Es war Ende der siebziger Jahre, er war Student und absolvierte gerade ein Museumspraktikum im Vorderasiatischen Museum in Ost-Berlin. Was er sah, waren Schuttberge, und nie im Leben hätte er gedacht, dass sich daraus Bildwerke restaurieren lassen können. Auch keiner der Dozenten, Museumsmitarbeiter oder Forscher glaubte daran. Weggeworfen wurde der Schutt nicht, denn er gehörte der Max-von-Oppenheim-Stiftung in Köln.

Puzzle Lutz Martin ist Archäologe.
Anfangs glaubt er, dass man
zwei bis drei Teile retten kann.
Am Ende sind alle restauriert.

Lutz Martin kommt aus dem Erzgebirge. Nach der Schule hat er Geologiefacharbeiter gelernt, anschließend an der Humboldt-Universität Asienwissenschaften studiert, ist dann aber zu den Altertumswissenschaften gewechselt, in das Fach, das ihn seit seiner Kindheit interessierte. 1987 fährt er mit zwei Kollegen nach Syrien, wo er auch die Stadt Aleppo und dort das von Oppenheim gegründete Museum besucht. In diesem Museum, in dem Raum mit den in Syrien gebliebenen Tell Halaf-Funden, sagt Lutz Martin, habe er eine Vorstellung von der Dimension des Verlustes bekommen, den die Menschheit in jener Bombennacht 1943 erlitten hat.

Einige Jahre später, die Mauer ist inzwischen gefallen und Lutz Martin als Mitarbeiter im Vorderasiatischen Museum tätig, bekommt er es erneut mit der zerstörten Tell Halaf-Sammlung zu tun. Die Leitung des Vorderasiatischen Museums will die Depots besser nutzen. Der Schutt soll in ein Lager nach Hohenschönhausen gebracht werden. Mit dem Transport wird der Restaurator Stefan Geismeier beauftragt. Er bemerkt, dass die Steine in den Boxen so aneinander reiben, dass sie allmählich zerbröseln. Sollen die Teile aufbewahrt werden und nicht zu Staub zerfallen, muss man sie sichern. Der Restaurator sucht einen Ansprechpartner beim Museum – und trifft dort Lutz Martin und damit genau den Richtigen.

Ein-, bis zweimal im Monat fahren die beiden fortan von der Berliner Museumsinsel ins Lager nach Hohenschönhausen. Sie beginnen, einige Gitterboxen auszuräumen, die Fragmente zu sortieren und zu nummerieren. Zwei Jahre machen sie das ohne Auftrag, ohne Dienstanweisung. In dieser Zeit reift bei ihnen die Überzeugung, dass man zwei oder drei Statuen restaurieren könnte. Aber sie erkennen auch, dass sie das auf diese Weise und allein nicht schaffen.

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