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Sommersemester 1966

Zu Beginn des Sommersemesters 1966 wurde an der juristischen und an der Medizinischen Fakultät die "Befristete Immatrikulation", d.h. die "Zwangsexmatrikulation" eingeführt. Aus Protest gegen diese Maßnahme trat die Studentenvertretung der juristischen Fakultät zurück, da sie der Meinung war, eine derartige Maßnahme könne erst am Ende einer durchgreifenden Studienreform – wenn überhaupt – erfolgen. Der Konvent beauftragte am 24.5.1966 den Konventvorstand mit der Durchführung einer Urabstimmung. Dabei sollte den Studenten folgender Antrag vorgelegt werden: "Die Studentenschaft der Freien Universität Berlin lehnt jede Form von Zwangsexmatrikulationen an ihrer Universität ab".

Der Rektor verbot die Urabstimmung mit formalen Gründen; der Senator für Wissenschaft und Kunst, der vom AStA als Rechtsaufsichtsbehörde angerufen wurde, schloß sich der Meinung des Rektors an. Ein Versuch des AStA, den Rektor im Wege einer einstweiligen Anordnung durch das Verwaltungsgericht Berlin zu zwingen, die Urabstimmung zu gestatten, schlug aus formalen Gründen fehl. Ob eine Urabstimmung über die Frage der Zwangsexmatrikulation zulässig sei oder nicht, wurde inhaltlich nicht geklärt. Professor Bettermann, der Beauftragte des Rektors, machte jedoch klar, daß das Rektorat nur aus rechtlichen Gründen gegen die Urabstimmung auftrete, im Rektorat sei bekannt, daß die Mehrheit der Studenten gegen die Zwangsexmatrikulation sei: "Wir nehmen es hin, daß wir diese Maßnahme gegen den Willen der Mehrheit der Studenten eingeführt haben". Mit dieser Bekundung Professor Bettermanns wurde auch den unpolitischen Studenten vorgeführt, daß die Vertretung der Studenten im institutionellen Rahmen des Berliner Modells gescheitert war, da sich die akademische Verwaltung nicht mehr gewillt zeigte, die Interessen der Studenten innerhalb der Institutionen zu berücksichtigen. Für die Studentenvertretung bedeutete dies, daß sie sich – wollte sie ihre Arbeit nicht nur als folgenloses Sandkastenspiel verstehen – an spontanen plebiszitären Akten der Studenten beteiligen mußte. Am 18. Juni l966 folgte der erneuten inhaltlichen Aufgabe des Berliner Modells durch die Einführung der Zwangsexmatrikulation auch die formale Aufgabe des Berliner Modells durch die akademische Verwaltung. Am Morgen dieses Tages, an dem die Immatrikulationsfeier stattfand, sprachen sich die professoralen Mitglieder des Akademischen Senats ab, der Feier fernzubleiben, weil die Rede des 1. AStA-Vorsitzenden (die ihnen vorgelegen hatte) "Unwahrheiten und Halbwahrheiten" enthalte. Erst als der AStA unter dem Beifall der Versammelten das Auditorium Maximum verließ, nachdem der Rektor diese Behauptung nach der Rede des 1. AStA-Vorsitzenden wiederholt hatte, nahmen die professoralen Mitglieder ihre Plätze im Saal ein.

Im Hinblick auf das Vorgehen Professor Bettermanns vor dem Verwaltungsgericht, auf das Verhalten des Rektors anläßlich der Immatrikulationsfeier und die Weigerung, die Zwangsexmatrikulation zurückzunehmen, beschloß am 21.6.1966 eine Vollversammlung aller Fakultäten, am 22.6.1966 eine Protestversammlung während der Sitzung des Akademischen Senats abzuhalten.

Am Nachmittag des nächsten Tages versammelten sich etwa 3.000 Studenten unter den Fenstern des Senats-Sitzungssaales. Die studentischen Senatssprecher veröffentlichten die geheime Tagesordnung der Akademischen Senatssitzung und dokumentierten damit, daß die Vertretung studentischer Interessen nun auch außerhalb der Spielregeln der körperschaftlichen Willensbildung im Akademischen Senat möglich werden muß. Die Verletzung des Prinzips der Vertraulichkeit ermöglichte es der Protestversammlung, über die einzelnen Punkte der Tagesordnung des Akademischen Senats zu diskutieren und zu versuchen, durch eine Delegation dem Akademischen Senat die Diskussionsergebnisse zu übermitteln. Die protestierenden Studenten bekräftigten ihre Forderungen nach Aufhebung der Zwangsexmatrikulation, dem Rücktritt von Professor Bettermann als Zulassungsbeauftragten, Rücknahme der Erklärung der Anschuldigungen gegen den 1. AStA-Vorsitzenden durch den Rektor, Wiedereinsetzung Dr. Krippendorffs in seine frühere akademische Position, Aufhebung der "Richtlinien über die Vergabe von Räumen" und Wiedereinsetzung Professor Sontheimers in sein Amt als Beauftragter für politische Bildungsarbeit (das er verloren hatte, als er sich gegen den "Richtlinien"-Beschluß des Akademischen Senats gewandt hatte). Nachdem der Rektor sich weigerte, zu den 3.000 versammelten Studenten zu sprechen, wurde nach einer Abstimmung beschlossen, mit einem Sit-in im Henry-Ford-Bau weiter zu protestieren. Während des Sit-in wurden hochschulpolitische Probleme rational und diszipliniert diskutiert. Nachdem eine zweite Delegation zum Akademischen Senat geschickt wurde, erschien Rektor Lieber mit einigen Mitgliedern des Akademischen Senats; anstatt inhaltlich zu den Forderungen der versammelten Studenten Stellung zu nehmen, forderte er sie mit baupolizeilichen Argumenten auf, das Gebäude zu verlassen und stellte ein Gespräch mit AStA und Konvent in den nächsten 10 Tagen in Aussicht. Nach Beratung beschloß die Versammlung, auf öffentlicher Diskussion der bestehenden Probleme zu bestehen. Am späten Abend wurde das Sit-in in ein Teach-in umgewandelt über Probleme der Studienzeitverlängerung und ihren unmittelbaren Zusammenhang mit der Ordinarienuniversität. Gegen 22 Uhr gab der Akademische Senat bekannt, daß er seinen Richtlinienbeschluß zurückgenommen habe. Gegen 1 Uhr wurde die "Resolution vom 22. Juni 1966" von den 2.500 noch versammelten Studenten einmütig verabschiedet:

"Resolution vom 22. Juni 1966
verabschiedet von den zum Sit-in versammelten Studenten der freien Universität Berlin
1. Wir kämpfen nicht nur um das Recht, längere Zeit zu studieren und unsere Meinung stärker äußern zu können. Es geht uns vielmehr darum, daß Entscheidungen, die die Studenten betreffen, demokratisch und unter Mitwirkung der Studenten getroffen werden.
2. Es gilt, die Freiheit in der Universität als Problem zu sehen, das über den Rahmen der Universität hinausweist. Aus diesem Grunde sieht die Studentenschaft die Notwendigkeit, mit allen demokratischen Organisationen in der Gesellschaft zusammenzuarbeiten, um ihre Forderungen durchzusetzen.
3. Was hier in Berlin vor sich geht, ist ebenso wie in der Gesellschaft ein Konflikt, dessen Zentralgegenstand weder längeres Studium noch mehr Urlaub sind, sondern der Abbau oligarchischer Herrschaft und die Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen.
4. Wir wenden uns gegen alle, die den Geist der Verfassung, gleich in welcher Art, mißachten, auch wenn sie vorgeben, auf dem Boden der Verfassung zu stehen."
Das Sit-in zeigte, daß eine relevante Zahl von Studenten nicht länger gewillt war, die aus der Universitätsstruktur entspringenden Zwangsmaßnahmen der Akademischen Verwaltung gegen studentische Gruppen und Einzelpersonen kritiklos hinzunehmen. In dem Maße, in dem der Akademische Senat sich auf seine institutionellen Rechte berief, um der Diskussion seiner Entscheidungen aus dem Wege zu gehen, wuchs die Quantität des studentischen Protestes. Gleichzeitig veränderten die Zwangsmaßnahmen und die Diskussionsverweigerung durch den Akademischen Senat auch die Qualität des studentischen Protests: Die Masse der Studenten erkannte die Unmöglichkeit, der Verschlechterung der Studienbedingungen entgegenzutreten, die von der akademischen Verwaltung in rechtlich unangreifbarer Weise, aber gegen den vom Akademischen Senat oft beschworenen Geist der "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden" betrieben wurde, ohne sich über die Spielregeln der institutionalisierten Mitverwaltung mit plebiszitären Maßnahmen hinwegzusetzen, entlarvten doch die Maßnahmen der Akademischen Verwaltung die "Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden" als bloße Ideologie und die Einhaltung der aus ihr entspringenden Spielregeln durch die Studenten als Mithilfe bei der Unterdrückung studentischer Interessen. Die Diskussion um die Resolution zeigte darüber hinaus, daß die Mehrheit der versammelten Studenten ihren Protest gegen die Zwangsmaßnahmen der Akademischen Verwaltung als Teil eines Kampfes um den Abbau oligarchischer Herrschaft in allen Bereichen der Gesellschaft verstand. Damit aber erreichten die zur Disziplinierung der Studenten eingesetzten Zwangsmaßnahmen der Universität das Gegenteil des Beabsichtigten.

Ein wichtiges Ergebnis des Sit-in für die offizielle Studentenvertretung besteht darin, daß es gelungen war, den im Kuby-Fall erstmals wiederhergestellten Kontakt zur Mehrheit der Studenten zu verbreitern. Die 3.000 versammelten Studenten führten die These von der Studentenvertretung als einer "kleinen Clique von Funktionären" ad absurdum.

Am 24.6.1966 beriet der Konvent die Ergebnisse des Sit-in und verabschiedete ein Memorandum zur Reform des Studiums an der Freien Universität, das Gesprächsgrundlage für die Zusammenkunft mit dem Akademischen Senat am 27.6.1966 sein sollte. Der Konvent bekräftigte noch einmal die Forderungen der Studentenschaft nach Aufhebung der Zwangsexmatrikulation und Inangriffnahme der Studienreform. Zur Durchführung der Studienreform forderte er

  1. "paritätisch aus Mitgliedern des Lehrkörpers und Studierenden zusammengesetzte Kommissionen auf der Ebene der Universität, der Fakultät und des einzelnen Faches, die die Konzeption der Reform des Studiums an der Freien Universität erarbeiten und
  2. die Einführung öffentlicher Versammlungen der Studentenschaft aller Fakultäten und gemeinsame Beratungen zwischen Akademischem Senat und diesen Versammlungen".

Die Versammlung von Rektor, Akademischem Senat, AStA und Konvent fand am 27.6.1966 statt. Von den Studenten wurden noch einmal die Argumente gegen die Zwangsexmatrikulation vorgebracht, doch ergab sich keine Diskussion, da sich keine Befürworter der Zwangsexmatrikulation fanden (was nicht bedeutet, daß die Zwangsexmatrikulation zurückgenommen worden wäre). Gegen die vom Konvent geforderten paritätischen Kommissionen gab es keine Bedenken; sie sollten auf der Sitzung des Akademischen Senats am 13.7.1966 beschlossen werden, wobei die paritätische Besetzung wegfiel. Nachdem eine grundsätzliche Zusage für Kommissionen erreicht war, ließ sich die Studentenvertretung auf den Kompromiß einer nicht paritätischen Besetzung ein, da sie die Hoffnung hatte, daß nach dem massiven Protest der Studentenschaft es für die Administration nicht länger möglich sein werde, die Studien- und Hochschulreform weiter zu verschleppen und an der widersinnigen Zwangsexmatrikulation festzuhalten. Mit der Bildung der Studienreformkommissionen hatte die Politik der akademischen Verwaltung, sich mit Andeutungen und Versprechungen über die Zeit zu retten, noch einmal Erfolg. Doch bieten die Studienreformkommissionen die Möglichkeit, das verschwommene Unbehagen vieler Studenten an den Erfordernissen ihres Studiums zu konkretisieren, die diese selbst in ihrer Berechtigung nicht durchschauen oder wenig bezweifeln. Wenn auch die studentischen Vertreter in den Studienreformkommissionen nicht verhindern können, daß die akademische Verwaltung auf vernünftige Ergebnisse vernünftiger Diskussionen mit Zwangsmaßnahmen zur Disziplinierung der Studenten antwortet, so wird die Glaubwürdigkeit der akademischen Verwaltung nach der Arbeit der Studienreformkommissionen geringer sein als je zuvor und der studentische Protest bewußter und radikaler.