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Contergan

Sie befinden sich hier: > WDR.de > Contergan > Arzneimittelgesetz in Deutschland


Montage Contergan-Packung, Contergangeschädigtes Kind; Rechte: dpa/ddp/WDR[M], Kirsch

Hundert Jahre Gesetzeslücke

Der lange Weg zum Arzneimittelgesetz in Deutschland

Von Gregor Taxacher

Das erste deutsche Arzneimittelgesetz wurde 1961 beschlossen - im Jahr des Contergan-Skandals. Die Lehren aus der Katastrophe zog der Gesetzgeber aber erst fünfzehn Jahre später.

Deutscher Bundestag um 1960; Am Pult: Elisabeth Schwarzhaupt; Rechte: dpaBild vergrößern

Bundestag um 1960

Dass der Deutsche Bundestag mit seinem Arzneimittelgesetz auf die Katastrophe rund um Contergan1 reagierte, ist ein Mythos. Das Gesetz, das am 8. Februar 1961 verabschiedet wurde, hatte mit der Katastrophe nichts zu tun. Im November 1961 drang die Nachricht von den furchtbaren Wirkungen des Schlafmittels auf Embryos an die Öffentlichkeit und das Mittel verschwand vom Markt.

Das neue Gesetz hätte an diesem Skandal nichts geändert: Es regelte lediglich ein Registrierungsverfahren für neue Medikamente. Prüfungen zur Wirksamkeit und Sicherheit wurden der Industrie nicht verordnet. Ärztekammer und SPD-Opposition hatten ein Genehmigungsverfahren mit klinischen Studien gefordert. Außerdem sollten alle neuen Medikamente rezeptpflichtig sein. Die Forderungen scheiterten jedoch im Gesundheitsausschuss.

Ein neues Ministerium bekommt gleich Ärger

Elisabeth Schwarzhaupt; Rechte: dpaBild vergrößern

Elisabeth Schwarzhaupt

Als einziges Mitglied der Europäischen Wirt-schaftgemeinschaft (EWG) verfügte Deutschland bis 1961 über kein nationales Medikamenten-Recht. Das aber forderten die Römischen Verträge zur Angleichung der europäischen Rechtsvorschriften. Deshalb ernannte die Bundesregierung am 14. November 1961 als letztes EWG-Land eine Gesundheitsministerin: Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) übernahm das Amt und wurde sofort mit dem Entsetzen über die Contergan-Schäden konfrontiert.

Dabei verfügte sie noch nicht einmal über ein funktionierendes Ministerium. Das wurde erst Anfang 1962 eingerichtet. Dennoch blieb die Arzneimittel-Überwachung Ländersache. Schwarzhaupt wurde aber von den Medien und der Opposition in die Pflicht genommen und reagierte zunächst mit einer Politik der Abwehr: Noch 1962 bestritt sie den bewiesenen Zusammenhang zwischen dem Contergan-Wirkstoff und den Missbildungen bei Neugeborenen und lehnte eine Entschädigung der Betroffenen aus Bundesmitteln ab.

1964 zog das Ministerium erste Konsequenzen und änderte das Arzneimittelgesetz: Alle neuen Wirkstoffe unterlagen ab jetzt drei Jahre lang der Verschreibungspflicht. Wie die Hersteller die Unschädlichkeit ihrer Produkte überprüften, blieb ihnen immer noch selbst überlassen.

Vom Quacksalber zur chemischen Industrie

Der Quacksalber, Gemälde von Albert Anker (1879); Rechte: akgBild vergrößern

Der Quacksalber (Gemälde 1879)

Während der Industrialisierung war Deutschland ein weltweit führender Standort chemischer Unternehmen geworden. Die Arzneimittelforschung wanderte aus den Werkstätten der Quacksalber und den Apotheken in die Fabriklabore. Die Apotheker wurden zu Verkäufern von Säften und Pillen, deren Zusammensetzung sie nicht mehr durchschauten. Deshalb forderte der Deutsche Apothekerverein schon 1876 eine gesetzliche Kontrolle des Arzneimittelmarktes. Aber dagegen stand das Prinzip des freien Unternehmertums. Ein wirksamer Verbraucherschutz bei Medikamenten blieb deshalb aus.

Heute wacht das "Befrarm"

Franz Müntefering beim ersten Spatenstich für das neue BfArM in Bonn (1999); Rechte: dpaBild vergrößern

Müntefering baut das BfArM

Unser heutiges Arzneimittelgesetz wurde 1976 beschlossen. Es brachte erstmals ein bundeseinheitliches Verfahren zur Medikamentenkontrolle. Die Beweislast im Genehmigungsverfahren liegt seither bei den Herstellern: Sie müssen in pharmakologischen und klinischen Versuchen nachweisen, wie ihr Mittel wirkt und dass es ungefährlich ist. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte2 (BfArM) kann die erforderlichen Nachweise nach dem Stand der Forschung festlegen. Es kann Nachprüfungen veranlassen und Zulassungen im Nachhinein entziehen. Erst dieses Gesetz zieht unübersehbar die Lehren aus der Contergan-Affäre.

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Jedes Medikament erhält nun auf seiner Verpackung eine Zulassungsnummer. Sie belegt, dass der Wirkstoff an meist 100 bis 300 Patienten getestet wurde. Jedes neue Medikament bleibt für fünf Jahre rezeptpflichtig. Diese Zeit gilt als erweiterte Testphase, denn viele Neben- und Wechselwirkungen zeigen sich erst langfristig und bei größeren Patientengruppen. Während dieser Testphase werden Daten über die Medikamentenwirkung zentral gesammelt. Zeigen sich unvorhergesehene Risiken, können Medikamente wieder vom Markt genommen werden - wie bei dem Cholesterinsenker Lipobay3.

Hohe Hürde für kleine Firmen

Die Prüfverfahren traten 1978 in Kraft. Allen Medikamenten, die schon auf dem Markt waren, gewährte das Gesetz eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2005, um ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachzuweisen. Für viele Mittel war dieser Beweis nicht möglich, für zahlreiche kleinere Pharmaunternehmen zu aufwändig. Tausende Präparate verschwanden vom Markt. Mittel der Alternativmedizin - rein pflanzliche Medikamente, homöopathische und anthroposophische Mittel - unterliegen ebenfalls einer Qualitätsprüfung, müssen ihre Wirkung aber nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen. Weil ihre Wirkweise nicht exakt beschreibbar ist, dürfen auf ihren Verpackungen keine bestimmten Anwendungsgebiete genannt werden.

Stichwörter

1 Contergan

Contergan löste eine der größten Arzneimittel-Katastrophen der Geschichte aus. Das Beruhigungs- und Schlafmittel galt bei seiner Einführung im Oktober 1957 als völlig sicher und frei von Nebenwirkungen, weshalb es schnell zu einem Verkaufsschlager wurde. Der Stolberger Hersteller Grünenthal pries das Mittel auch ausdrücklich für Schwangere an: Es schädige "weder Mutter noch Kind".

Wie sich später herausstellte, reichte bereits eine Contergan-Pille, um den Embryo zu schädigen. Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre wurden weltweit schätzungweise 10.000 Contergan geschädigte Kinder geboren. Eine längere Einnahme des Mittels bewirkte bei vielen Erwachsenen darüber hinaus bleibende Nervenschäden.

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2 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn ist eine selbständige Bundesbehörde und dem Bundesministerium für Gesundheit unterstellt. Hervorgegangen ist das BfArM aus dem Institut für Arzneimittel des nicht mehr existierenden Bundesgesundheitsamtes. Es beschäftigt rund 1.100 Mitarbeiter, darunter Ärzte, Chemiker und Pharmazeuten.

Das BfArM arbeitet unter anderem daran, die Sicherheit von Arzneimitteln zu verbessern und überwacht das Risiko von Medizinprodukten. Ein Schwerpunkt ist die Zulassung von Medikamenten, die in Bonn auf Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität geprüft werden. Zugleich sammelt und bewertet es Berichte zu unerwünschten Nebenwirkungen von Arzneimitteln und trifft Maßnahmen zur Risikominimierung.

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3 Lipobay

Lipobay, auch unter dem Namen Baycol vertrieben, war ein Verkaufsschlager für den Leverkusener Pharmakonzern Bayer. Das Medikament wurde Patienten verordnet, die einen zu hohen Cholesterinspiegel im Blut aufweisen (mehr als 250 Milligramm pro Deziliter). Er gilt als ein Hauptrisikofaktor für die Entstehung von Herzinfarkten, Schlaganfällen und Durchblutungsstörungen aller Art. In Lipobay ist der Wirkstoff Cerivastatin enthalten. Cerivastatin behindert die Entstehung des schädlichen Cholesterin-Anteils (LDL). Auf diese Weise kann der Cholesterin-Spiegel im Blut um 30 Prozent gesenkt werden.

In Einzelfällen, besonders wenn gleichzeitig Medikamente mit dem Wirkstoff Gemifibrozil eingenommen werden, kann es zum Zerfall von Muskelgewebe kommen, der im schlimmsten Fall tödlich endet. 2001 nahm Bayer den Cholesterinsenker vom Markt. Bislang wurden mehr als 50 Todesfälle mit Lipobay in Verbindung gebracht, sieben davon in Deutschland.

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Stand: 24.11.2006, 06:00 Uhr


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