Programmheft Nr. 62 zum 29.05.2004

Realität und idealistischer Traum


Klavierwerke von Schumann, Liszt, Chopin, Rachmaninow, Haydn und Tan Dun

Welch glückliche Zeit, die solche Geistesgrößen in ihren Reihen weiß in der Dicht- und Dramenkunst, in der Philosophie. Das beginnende 19. Jahrhundert versammelte sie, und wer – von den Weimarer Dioskuren Schiller und Goethe oder den Auguren deutscher Befindlichkeit Heine und Hölderlin ganz zu schweigen – einmal die Namen eines Kant, Fichte und Hegel, eines Schopenhauer, Schelling und Schleiermacher in Gedanken herbeizitiert, wird von heute aus nur staunend auf diesen Abschnitt der Geschichte schauen können: einen Abschnitt, der unter dem (weitgefassten) Rubrum der romantischen Philosophie Eingang gefunden hat in die Ansichten von der Welt. Hier, als Ausgangspunkt, der Königsberger Sohn Kant, der die persönliche Erfahrung von Realität als den determinierenden Faktor unserer Konzeption von Welt in Worte setzte, und Fichte, der die Freiheit des Individuums zum Postulat des Seins erhob; dort Schelling, der die Kunst als »ein tätiges Band zwischen der Seele und der Natur« bezeichnete und in ihr gar den Gottesbeweis sah, weil sie, so der Philosoph, als »die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müsste«.

Vor allem in einer (tragischen) Künstlergestalt der Romantik findet dieses Gedankenensemble eine personelle Entsprechung: in Robert Schumann. Er verkörperte, mehr als etwa der introvertierte Chopin, der Salonlöwe Liszt und der Bildungsbürger Mendelssohn Bartholdy, vielleicht sogar in stärkerem Maße noch als der Genius Schubert den Typus des Komponisten, der die idealistische Philosophie der Romantik förmlich aufsaugte (intellektuell wie emotional) und der ihr in seinen Werken klingend Konturen verlieh. Die schroffen Gegensätze in seinen Partituren, das Übersprunghafte, die überraschenden dynamischen Veränderungen, das jähe Umschlagen des Jubels in tiefe Verzweiflung – all dies findet sich so auffällig und so konsequent durchgehalten (bis in die späten Symphonien) bei keinem anderen Komponisten des 19. Jahrhunderts. Und hat nicht die Tragik seines eigenen Lebens Nietzsche die Sentenz förmlich in die Feder gedrückt, sie, die Schöpfer des Neuen, hätten nur »die Kunst, nichts als die Kunst«, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen?

Die ersten zehn Jahre seines Komponierens, bis zu seiner Eheschließung mit Clara Wieck, widmete Schumann ausschließlich dem Klavier. Und bereits sein Opus 1, die Abegg-Variationen von 1829/30, sind das Zeugnis eines unnachahmlichen Talents – zumal, wenn man die Tatsache bedenkt, dass dieses fabelhafte Stück aus der Werkstatt eines Mannes stammte, der noch knapp zwei Jahre zuvor, 1828, von sich selbst gesagt hatte, er besitze keinerlei Kenntnisse von Harmonie und Kontrapunkt, sei lediglich ein Naturtalent und folge einfach seinen Instinkten, und der zur Zeit der Entstehung noch Student der Jurisprudenz in Heidelberg war. Tatsache ist: Schumann komponierte die Variationen nach einem (Vor-) Bild; wie lebendig dieses allerdings war, darüber lässt sich füglich streiten. Denn jene »Mlle. Pauline Comtesse d’Abegg«, der das Opus zugeeignet wurde, hat nie existiert. Hingegen wohl eine geheimnisvolle Dame namens Meta Abegg, die Schumann eines Abends auf einem Ball traf (deren richtiger Name aber vermutlich gar nicht so lautete). Angesichts der von Schumann bald darauf in großer Anzahl erfundenen (musikalischen) Fantasiefiguren darf man jedoch annehmen, in der Mademoiselle Abegg vereinten sich Realität und idealistischer Traum.

Meta – diese vier Buchstaben sind ein Anagramm, und sie bedeuten nichts anderes als »Tema«, also Thema. Und so formt Schumann ein Kantilenenfragment, welches den Noten A-B-E-G-G dieses Themas treulich folgt und anschließend sequenziert wird. Aus diesem Grundmotiv sind die fünf Variationen gestrickt, wobei die beiden letzten, mit Titeln überschriebenen Variationen (Cantabile, Finale alla Fantasia) sich zusehends entfernen von diesem motivischen Zentrum: Nur noch in Form eleganter Reminiszenzen wird der themenstiftenden (imaginären) Mademoiselle gehuldigt. Im Verlauf der Abegg-Variationen deutet Schumann schon den kaleidoskopisch-metamorphosischen Charakter seiner künftigen Klavierzyklen (Papillons, Davidsbündlertänze, Carnaval) an; auch die technischen Anforderungen (und Spitzfindigkeiten) sind immens, zumal in der ersten, zweiten und letzten Variation.

Ein Pianist, der damit keinerlei Probleme hatte, war Franz Liszt. Dieser bewunderte Schumanns Kunst, trotz gelegentlicher Trübungen in ihrem persönlichen Verhältnis; Belege dafür sind zum einen die Zueignung seines pianistischen Hauptwerks, der h-Moll-Sonate, an diesen, und zum anderen sein 1855 für die »Neue Zeitschrift für Musik« verfasster Aufsatz über Schumann, in dem es zutreffend-prosaisch heißt: »Wie könnte man Schumann gegenüber verkennen, dass er, anstatt zu suchen, zu wagen, zu erobern, zu erfinden, viel mehr dahin strebte, seinen durchaus romantischen, zwischen Freud und Leid schwebenden Sinn, seinen in seinem Innern oft dumpfe, trübe Tonalitäten annehmenden Hang zum Bizarren und Phantastischen mit der klassischen Form in Einklang zu bringen, während sich gerade diese Form mit ihrer Klarheit und Regelmäßigkeit seinen eigentümlichen Stimmungen entzog!«

Sprach da auch einer ein wenig von sich selbst? Der Hang zum (auch und gerade in harmonischer Hinsicht) Bizarr-Fantastischen, die zum Teil ungelöste formale Frage, das beständige Umschwenken, das Flüchtige – all dies sind Attribute, die sich auf viele Klavierstücke von Franz Liszt zweifelsfrei anwenden lassen. Und vergegenwärtigt man sich, dass der Virtuose während einer Konzerttournee zur Jahreswende 1841/42, die ihn von Weimar über Jena, Dresden, Leipzig, Altenburg und Halle nach Berlin brachte, en passant einige Klavierfantasien und Lieder aufs Papier warf, dann ist das in der Tat nicht verwunderlich. Eine dieser Fantasien des großen Lied- und Opernparaphrasen-Schöpfers Liszt sind die Réminiscences de Don Juan de Mozart: Ein zu Beginn hochgradig virtuoses, zuweilen krachledernes Opus, mit donnernden Oktav- und Terzläufen, welches sich dann unter anderem dem berühmten Duett »Là ci darem la mano« (Reich mir die Hand, mein Leben) zuwendet und in der folgenden Viertelstunde so manch anderen Schlager aus Mozarts Oper in pianistisch-orchestrale Preziosen umwandelt – mit allem für Liszt typischen Glamour, Glitter und Geklingel.

Schon die Genre- und Tempobezeichnung verrät, dass Frédéric Chopins im Herbst 1835 komponiertes Nocturne Des-Dur op. 27 Nr. 2 eine völlig konträre Absicht verfolgt – was übrigens Liszt, bezogen auf die Gattung der »Nachtstücke« in toto, in einem Essay über die Nocturnes des Iren John Field am Rande scharfsinnig bemerkte, als er von der Qual und Pein berichtete, die der Genius Chopin in seinen Nocturnes besungen habe. »Lento sostenuto« schreibt der Komponist vor; entsprechend ruhig, mit einer gemessenen, elegisch gehaltenen Melodie in der Oberstimme, fließt dieses im Sechsachteltakt notierte Nocturne dahin – gleichsam in einem Atemzug, wie eine Belcanto-Kavatine, stetig, bis zum Ende grundiert von gleichmäßigen Sechzehntelwellen im Bass. Die Stimmung ist introvertiert, träumerisch-traurig (das Dur hilft hier beileibe nicht weiter auf dem Wege zu einer optimistischen Weltanschauung); und selbst die knapp gefassten (dynamisch motivierten) Aufwallungen etwa im zweiten Drittel des Nocturnes und die (motivisch) variierenden Momente bleiben verhalten. Sie dienen lediglich der Intensivierung des Grundtonfalls, wie auch die Verzierungen, insbesondere in Takt 51 und 52, weit weniger brillante Ornamentik in sich bergen, als dass sie Teil der melodischen Substanz selbst sind.

In zahlreichen seiner Klavierwerke – denken wir nur an die Préludes, die Études-tableaux, die Nocturnes! – hat Sergej Rachmaninow seine hohe Verehrung für die Musik Frédéric Chopins mittels Genrebezeichnung und musikalischen Gehalts zum Ausdruck gebracht; er kann ohne jede Einschränkung als einer der rechtmäßigen Erben von Chopins Klavierstil bezeichnet werden. Im Gegensatz jedoch zum Vorbild, das in den drei Sonaten für Klavier den Schatten von Beethoven auf ingeniöse Weise überwand, ohne dessen Existenz zu leugnen, mühte sich Rachmaninow zeitlebens mit der klassischen Gattung; eine idealtypische Lösung für das Formproblem Sonate wollte ihm – Briefe an den Freund Nikita Semjonowitsch Morosow belegen dies eindrücklich – so recht nicht gelingen: weder in der Klaviersonate Nr. 1 d-Moll aus dem Jahre 1907, noch in der dreiteiligen Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 36, die er sechs Jahre darauf, fast zeitgleich mit dem Symphonischen Poem für Orchester, Chor und Solostimmen Die Glocken nach dem gleichnamigen Gedicht von Edgar Allan Poe komponierte.

Rachmaninow haderte mit dem Ergebnis seiner kompositorischen Arbeit, und seinem Biografen Alfred Swan gestand er freimütig: »In dieser Sonate bewegen sich so viele Stimmen gleichzeitig, und sie ist zu lang. Chopins Sonate [Rachmaninow bezieht sich auf dessen zweite in b-Moll op. 35] dauert 19 Minuten, und alles ist gesagt.« Obwohl sich – davon zeugen diese selbstkritischen Worte – die Erkenntnis, gescheitert zu sein, in ihm festgesetzt hatte, wartete Rachmaninow rund 18 Jahre, bis er erneut Hand an die Sonate legte. Dann aber gründlich. 120 Takte fielen der Revision von 1931 zum Opfer. Nicht genug, befand der Freund Wladimir Horowitz. Und erstellte eine (vom Komponisten autorisierte) Version der b-Moll-Sonate, ein Amalgam aus Erstschrift, revidierter Fassung und eigener Bearbeitung. Doch welche der drei »Lösungen« man auch favorisiert – diese zugleich schillernde wie seltsam widerborstige, in ihren polyphonen Strukturen tintenfischartig ausgreifende und die Möglichkeiten des Instruments bis an die Grenze austestende Fantasie-Sonate verharrt unschlüssig an der Schwelle zwischen spätromantischer, europäischer Attitüde und dem Zwang, modern, russisch-national sein zu wollen.

Eine Dame (zumeist: des Herzens) als Widmungsträgerin für eine Komposition – dieses Phänomen zieht sich wie ein roter Faden durch die Musikgeschichte. Auch Joseph Haydn war begabt in dieser Kunst der verklausulierten persönlichen Mitteilung. So komponierte er beispielsweise rund ein halbes Dutzend Klaviertrios und Klaviersonaten, die sämtlich ein und derselben Frau zugeeignet waren: seiner Klavierschülerin Teresa Jansen-Bartolozzi (für die Haydn wohl mehr als nur »pädagogische« Gefühle hegte). In dieser Reihe entstand, vermutlich kurz vor der Rückkehr von einer England-Reise ins heimatliche Wien, 1794/95 die dreisätzige Sonate C-Dur Hob. XVI Nr. 50. Der Kopfsatz (Allegro) zeigt Haydn auf der Höhe der Variationskunst im Rahmen der Sonatenhauptsatzform: Das Kernmotiv, ein absteigender C-Dur-Dreiklang über einer federnden Achtelfigur im Bass, wird sofort nach seinem Erscheinen aus der tonalen Verankerung herausgerissen und in der Folge harmonisch, melodisch und rhythmisch in einer Art und Weise variiert, wie sie für die Zeit selten war – ein Prozess, der in seiner Kühnheit Beethovens Variationstechnik antizipiert, aber weit knapper gefasst ist als bei diesem. Der Mittelsatz, ein in der Grundstimmung melancholisches Adagio in F-Dur (Haydn komponierte es aller Wahrscheinlichkeit nach früher als das Allegro), nimmt das Prinzip der Variation eines Grundgedankens auf, wirkt aber – betrachtet man die Sonate als Ganzes – wie ein klassisches Interludium, expressiv und mit Verzierungen geschmückt. Entschieden tänzerisch gibt sich das abschließende Allegro molto, ein verkapptes Scherzo im Dreivierteltakt. Es kann als eines der herausragendsten Beispiele für den Humor, ja mehr noch für die stilistische Keckheit Haydns gelten; Belege hierfür sind die siebentaktige Anfangssequenz, die jeder Purist der Klassik dem Komponisten um die Ohren gehauen hätte, sowie einige unaufgelöste, mit Pausen kombinierte Harmonien und nicht zuletzt die frappierende Kürze dieses Finales: Nicht einmal drei Minuten dauert das C-Dur- Vergnügen.

Robert Schumann komponierte sein Opus 1, die bereits erwähnten Abegg-Variationen, im Alter von 20 Jahren. Tan Dun, geboren 1957 und gegenwärtig wohl einer der bekanntesten Komponisten Chinas, war ähnlich jung, als er die Eight Memories in Watercolor (Acht Erinnerungen in Aquarellfarben) als sein erstes offizielles Stück auf die Werkliste setzte. Inspiriert sind die acht Miniaturen durch Volkslieder sowie die Atmosphäre im China der Nachwirren der Kulturrevolution. Bereits die Titel der acht Stücke deuten auf den kontemplativen Charakter des Zyklus hin. Und in der Tat: Zu hören sind klingende Reflexionen eines Augenblicks oder einer Naturszene, Moments musicaux, mit hauchdünnem Stift gezeichnet. Der impressionistische Debussy scheint durch – etwa in Missing Moon, Red Wilderness oder auch Blue Nun – hier und da klingt die spielerische Mechanik eines Jacques Ibert an. Und doch findet Tan Dun einen ganz eigenen Tonfall, der die Einflüsse des »Westens« ebenso wenig verleugnet, wie er an einer typisch chinesischen Idiomatik festhält.

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