Humboldt-Universität zu Berlin   ·   Homepage des IfG

- Historikergalerie des Instituts für Geschichtswissenschaften -

Otto Hintze (1861-1940)

Otto Hintze gehört nicht zu den oft genannten Berühmtheiten unter den deutschen Historikern. Allerdings, höchste Wertschätzung genießt er heutzutage in Fachkreisen allzumal. Jürgen Kocka und Felix Gilbert sind sich einig in dem Urteil, er könne als der wohl bedeutendste deutsche Historiker des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik gelten. Die Zeiten, da man ihn, gegen seinen Willen, als Preußenhistoriker festlegen und vereinnahmen wollte, sind längst vorbei. Heute interessieren besonders seine Leistungen im Bereich der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, in der vergleichenden Geschichte und nicht zuletzt seine methodischen und theoretischen Reflexionen, ein Werk, das ihn in den Rang eines Vordenkers einer modernen politischen Strukturgeschichte erhebt.

Hintze, der 1861 als Sohn eines mittleren Beamten und einer Pastorentochter in der hinterpommerschen Kleinstadt Pyritz geboren wurde, kam nach Beginn seines Geschichtsstudiums in Greifswald 1880 nach Berlin, eine Stadt, die für ihn Arbeits- und Lebensmittelpunkt bis zu seinem Tod im Jahr 1940 blieb. Seine berufliche Laufbahn war überaus geradlinig: Nach Abschluß seines Studiums mit einer mediävistischen Dissertation 1884 und vertiefenden rechts- und staatswissenschaftlichen Studien gewann ihn Gustav Schmoller 1887 für die Mitarbeit an den Acta Borussica, einem Editionsprojekt der Königlichen Preußischen Akademie, das den preußischen Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts gewidmet war und in dessen Rahmen er bis 1910 sieben umfangreiche Quellenbände zur Wirtschaft und v.a. zur Behördenorgansiation in Preußen, jeweils flankiert von grundlegenden historischen Forschungsarbeiten, herausgab. 1895 habilitierte er sich bei Treitschke und Schmoller und wurde an der Berliner Universität ohne den üblichen Wechsel der Hochschule 1899 außerordentlicher, 1902 ordentlicher Professor auf einem neu eingerichteten Lehrstuhl für Verfassungs-, Verwaltungs-, Wirtschaftsgeschichte und Politik.

Aus der Reihe bekannter Lehrer Hintzes prägten ihn in besonderer Weise Johann Gustav Droysen und Gustav Schmoller. Ihre unterschiedlichen Einflüsse, zum einen die penible Rekonstruktion der Entscheidungen der großen Politik aus den Akten sowie die individualistisch-hermeneutische Methode, zum anderen die gründliche Aufarbeitung der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen verband er zu einem eigenen Ansatz, in dem er Hermeneutik und Strukturanalyse zu verbinden suchte. Ranke blieb ihm lebenslang ein Vorbild. Wie er in einer vielzitierten Wendung in seiner Antrittsrede in der Königlichen Akademie der Wissenschaften 1914 formulierte, hatte er es sich zum Ziel gesetzt, " eine allgemeine "Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staatenwelt", eine "vergleichende Behandlung der politischen und sozialen Einrichtungen der verschiedenen zu dem Kulturkreis der abendländisch-christlichen Welt gehörigen Völker" zu schreiben. Die preußische Geschichte, mit der er sich in jahrzehntelangen Aktenstudien, nicht zuletzt aus Gründen des Broterwerbs, wie kaum ein zweiter vertraut gemacht hatte, geriet ihm in seinen eigenen Worten zum "Paradigma" für seine weit ausgreifenden Studien zur modernen Staatsbildung, die er unter einen bedingten Supremat der Außenpolitik stellte. Äußerer Höhe- und Schlußpunkt seiner Arbeiten zu Preußen bildete die in höchstem Auftrag, nach persönlicher Instruktion durch den Kaiser entstandene und dennoch alle Panegyrik meidende Festschrift zum fünfhundertjährigen Jubiläum der Dynastie "Die Hohenzollern und ihr Werk", die drei Jahre vor dem unrühmlichen Ende des Herrscherhauses über die Verteilung in den preußischen Schulen in zahlreiche private Bücherschränke gelangte und heute noch als Standardwerk Anerkennung findet.

Auch wenn Hintze zumindest bis in die Jahre des Weltkriegs, in dem er die Sache des deutschen Machtstaats von einem gemäßigt liberal-konservativen Standpunkt aus vehement publizistisch verfocht, eine traditionelle politisch-gesellschaftliche Position einnahm, eine Orientierung, die sich auch in seiner besten sozialgeschichtlichen Studie, zum "Beamtenstand" (1911), niederschlug, so überraschen doch seine Sensibilität und seine wachsende Kühnheit in Fragen der Methodologie und Theorie, die unmittelbar aus seinem Unbehagen in der alltäglichen Forschungspraxis und nach 1918 aus einem tiefen politischen Krisenbewußtsein erwuchsen. Seine fraglose Ausrichtung auf den Staat relativierte er früh, für seine Zeit durchaus ungewöhnlich, durch einen vergleichsweise elaborierten Gesellschaftsbegriff. In Auseinandersetzung u.a. mit Karl Lamprecht, Max Weber, Franz Oppenheimer, Ernst Troeltsch und Werner Sombart öffnete er die Historie zunächst behutsam, in seinem Spätwerk immer entschiedener für die Soziologie und entwickelte als Begriffsinstrument in Anlehnung an Weber den Typus der "anschaulichen Abstraktion", der der Vergleichbarkeit wie der Hervorhebung der Singularität historischer Phänomene gerecht werden sollte.

Der als Trauma erlebte Untergang des Kaiserreiches in Niederlage und Revolution, der berufliche Einschnitt, den sein durch ein Augenleiden bedingtes frühzeitiges Ausscheiden aus der universitären Lehre im Jahr 1920 bedeutete, bildeten zweifelsohne den Hintergrund für verstärkte Bemühungen um Neuorientierung. Bereits 1912 hatte die Eheschließung des Einundfünfzigjährigen mit der jungen selbstbewußten Schülerin Hedwig Guggenheimer, die sich aufgrund ihrer jüdischen großbürgerlichen Herkunft, ihrer Forschungsinteressen auf dem Gebiet der französischen Revolutionsgeschichte und ihrer linken Sympathien nicht leicht einpassen ließ in die festgefügte Welt eines preußischen Professors, das Leben des "Ritters mit dem ständig geschlossenen Visier" (G. Oestreich) tief verändert. Die Krankheit und der Verlust der politischen Heimat, aus der heraus ihm nicht zuletzt auch die Koordinaten für sein wissenschaftliches Arbeiten erwachsen waren, ließen ihn nicht in Resignation und Verbitterung versinken. Im Alter fand er vielmehr die Kraft zur beeindruckenden Weiterentwicklung seines Werks. Die Versachlichung seines Staatsbegriffs, die definitive Abwendung vom Primat der Außenpolitik, die entschiedene Hinwendung zum soziologischen Denken schlugen sich in seinen brillanten späten Abhandlungen über "Wesen und Verbreitung des Feudalismus" (1929), über die "Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes" (1930) sowie die "Weltgeschichtlichen Bedingungen der Repräsentativverfassungen" (1931) nieder. Sein Opus magnum, eine "Allgemeine vergleichende Verfassungsgeschichte", die er nicht mehr in den Druck gab, ist dagegen am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Großteil wohl für immer verlorengegangen.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte Hintze seine Publikationstätigkeit eingestellt. Seine Frau wurde der hart erkämpften Privatdozentur an der Friedrich-Wilhelm-Universität beraubt und floh kurz vor Kriegsbeginn in die Niederlande. Hintze erlebte diese Trennung nur um wenige Monate. Sein Schüler Fritz Hartung versuchte, durch eine von ihm besorgte Werkauswahl mitten in Kriegszeiten die Rezeption seines Lehrers in systemkonforme Bahnen zu leiten. Erst seit den sechziger Jahren begann, auch international, eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Oeuvre, die durch eine von Gerhard Oestreich besorgte Neuausgabe ermöglicht wurde. Auch für die Zukunft wird das Werk Hintzes paradigmatischen Charakter beanspruchen können.


Autor der biographischen Notiz: Martin Baumeister     -   Datum der letzten Überarbeitung: 13.01.98


  zurück zur Homepage