HÄMOSTASE, THROMBOSE UND EMBOLIE
Historische Konzepte zur Physiologie
und Pathologie der Blutgerinnung
 

AXEL W. BAUER und KERSTIN MALL

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. habil. Axel W. Bauer
Institut für Geschichte der Medizin
Universitätsklinikum Heidelberg
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Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in:
Hämostaseologie 15 (1995) 92-99


Hämostase, Thrombose und Embolie: Historische Konzepte zur Physiologie und Pathologie der Blutgerinnung

Axel W. Bauer und Kerstin Mall

Zusammenfassung:

Die Beschreibung von Physiologie und Pathologie der Blutgerinnung folgte in ihrem historischen Verlauf seit der griechischen Antike dem jeweils vorherrschenden Konzept der Medizin. Dementsprechend wurden unterschiedliche Hypothesen und Theorien über die vermutlichen Ursachen der Hämostase aufgestellt. Während unter dem Einfluß der Humoralpathologie vor allem die spekulative schwarze Galle in ätiologischer Hinsicht bedeutsam schien, wurden seit dem 17. Jahrhundert im Gefolge neuer solidarer, iatrophysikalischer und iatrochemischer Konzepte zunehmend die korpuskulären Blutbestandteile sowie die physiologischen Mechanismen der Hämostase untersucht. Dabei traten mehrere Theorien in Konkurrenz zueinander, die entweder physikalische Faktoren oder biochemische Reaktionen stärker betonten. Das interdisziplinäre Zusammenwirken vieler Wissenschaftler im Rahmen eines längerfristigen historischen Prozesses wird anhand des mehr als zweihundert Jahre dauernden mehrstufigen Forschungsweges von William Harveys Theorie des Blutkreislaufs (1628) bis zur Formulierung von Rudolf Virchows Embolie-Konzept (1856) erläutert.

Schlüsselwörter:
Geschichte der Hämostase, Geschichte der Blutgerinnung, Geschichte von Thrombose und Embolie


Hemostasis, Thrombosis, and Embolism: Historical Concepts in Physiology and Pathology of Blood Coagulation

Axel W. Bauer and Kerstin Mall

Summary:

Since Greek Antiquity, predominant medical concepts have had a organizing influence on the history of discovery of the blood coagulation's physiology and pathology. Accordingly, different hypotheses and theories about the presumable causes of hemostasis were put forward. Under the influence of humoral pathology, mainly the speculative black bile seemed to be important in etiological respect. Since 17th century, however, corpuscular blood constituents and physiological mechanisms of hemostasis had been increasingly researched. This was a consequence of the new solidistic, iatrophysical, and iatrochemical concepts. Several theories, which either stressed the physical factors or the biochemical reactions, entered into competition with each other. Interdisciplinary cooperation of many scientists during a longer-term historical process can be illustrated with the example of a multistage pathway of research which lasted for more than two hundred years: From William Harveys theory of blood circulation published in 1628 to Rudolf Virchow formulating his concept of embolism in 1856.

Key words:
history of hemostasis, history of blood coagulation, history of thrombosis and embolism


1. Einleitung

Denn die Geschichte zeigt,
dass die Anschauungen der Späteren
immer wieder auf Punkte zurückkommen,
welche die frühere Beobachtung
schon erledigt zu haben glaubte.
(Rudolf Virchow, 1855)


Schon der Urmensch wußte aus der Alltagserfahrung, daß angeschossenes Wild, das viel Blut verlor, durch eine Hetze durchaus noch erlegt werden konnte, wohingegen Wild mit nur geringer Blutung, sei es aufgrund einer unbedeutenden Verwundung, sei es aufgrund einer besonders guten Gerinnung, wohl Sieger einer Hetze bleiben werde. Das Wild verblutete dann, wenn die Gerinnung aufgrund des durch die Hetze erhöhten Herzzeitvolumens nicht ausreichend war. Ebenso konnte man leicht erkennen, daß Blut außerhalb des Körpers gerann, indem sich das Serum vom Blutkuchen absetzte, oder daß extrakorporales Blut (falls man durch Rühren das sich bildende Fibrin entfernte) nicht fest wurde. Es ist verständlich, daß man sich das Phänomen der Blutgerinnung erklären wollte, und so versuchte jede Kultur im Rahmen ihrer jeweiligen geistigen, technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten, sich ein ätiologisches oder ein pathogenetisches Konzept aufzubauen. Der historisch früheste Schritt scheint die Assoziation von Blut und Sperma gewesen zu sein, da beide Stoffe potentiell Leben in sich bargen; so lesen wir in der alttestamentarischen Formulierung von 3. Mose 17, 14: "Denn des Leibes Leben ist in seinem Blute, solange es lebt".
 

2. Humorale und solidare Konzepte der Hämostase

Im Rahmen der Humoralpathologie, die auf der durch die Hippokratische Schrift Über die Natur des Menschen (um 400 v. Chr.) zur Viersäftelehre weiterentwickelten Elementenlehre des Empedokles (490-430 v. Chr.) beruhte, wurden periphere Varizen als Metastasen der schwarzen Galle interpretiert, da die schwarze Galle, die von trockener und kalter Qualität sei, das Blut zum Gerinnen bringe. Therapeutisch wurde in der Regel nicht interveniert, da man diese Metastáseis als Heilreaktionen des Körpers ansah, die dem Körperkern ein Übermaß an schwarzer Galle entzögen, um so als Selbsttherapie die Eukrasie, das gesunde Säftegleichgewicht, wieder zu erreichen.

Unter dem Einfluß der frühneuzeitlichen Iatrochemie schrieb 1701 Steven Blankaart (1650-1702) in seinen Opera Medica, Theorica, Practica et Chirurgica: "Viele Krankheiten entstehen durch ein Übermaß der Säuren im Blut. Wenn sich Partikel verhaken und nicht mehr recht bewegen können, oder auch durch Abkühlung des Blutes, entstehen gefährliche Gefäßverstopfungen in der Peripherie".

Während aufgrund der humoralpathologischen Vorstellungen der Blick nur auf die unterschiedliche Blutzusammensetzung, die Dyskrasien gerichtet gewesen war, sensibilisierte Blankaart den ärztlichen Blick für die Strömungsverhältnisse und die Rolle der korpuskulären Bestandteile, die eine wichtige Rolle bei der Thrombogenese spielen. Allerdings wurde im 18. Jahrhundert von dem Physiologen Albrecht von Haller (1708-1777) mit seinem Werk Elementa Physiologiae die Forschung auf die Struktur der Gewebe gelenkt, wodurch die zentrale Rolle des Blutes gegenüber solidarpathologischen Vorstellungen in den Hintergrund trat.

Schon die Hippokratischen Ärzte im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus wie auch Galen (129-199 n. Chr.) sahen Fibrae im zirkulierendem Blut, die nach dem Gerinnungsvorgang im Blutkuchen wiederzufinden waren. Marcello Malpighi (1628-1694) stellte im Jahre 1666 fest, daß nach dem Waschen eines Blutgerinnsels ein klebriger Faserstoff übrig bleibe. Der Nachweis dieses Faserstoffes gelang 1832 dem Anatomen und Physiologen Johannes Müller (1801-1858) mit Hilfe eines Tierversuchs: Durch Filtration von Froschblut konnte Müller das Vorhandensein von gelöstem Fibrin im Blut zeigen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren im Rahmen des iconisch- symbolischen Analogiedenkens der Humoralpathologie den vier Schichten des abgestandenen und geronnenen Aderlaßblutes die vier Körpersäfte zugeordnet worden: dem dunklen, erythrozytenreichen Gerinnsel die schwarze Galle, dem hellen, plättchenreichen Gerinnsel das Blut, dem Serum die gelbe Galle und der obersten Lipidschicht der Schleim.

Erste experimentelle Versuche unternahmen 1731 Jean-Louis Petit (1674-1760), der eine Blutstillungstheorie mit Gerinnselpfropf (bouchon) und Gerinnseldeckel (couvercle) vertrat, sowie 1736 Sauveur-François Morand (1697-1773). Morand war Vertreter der Kontraktionstheorie, nach der durch den Verletzungsreiz eine längsgerichtete Kontraktion die Blutstillung bewirken sollte. Hier irrte er, da aufgrund der Gefäßanatomie nur eine quergerichtete Kontraktion möglich ist. Am Ende des 18. Jahrhunderts war man infolge des Aufstiegs der Pathologischen Anatomie eher der morphologisch-mechanischen Kontraktionstheorie zugeneigt; erst mit der stärkeren Einbeziehung biochemischer Fragestellungen im späteren 19. Jahrhundert wurde wieder die Blutstillungstheorie von Petit vertreten. Den Versuch einer geistigen Synthese beider Theorien machte erstmals 1805 Frederick D. Jones (1779-1834), der für die definitive Blutstillung die Gerinnung, die Gefäßkontraktion und die entzündungbedingte Gewebsreaktion forderte. Erst gut einhundert Jahre später konnte von Heinrich Gustav Magnus (1802-1870) die Arterienkontraktion und von Paul Oskar Morawitz (1879-1936), dem Begründer der klassischen Gerinnungslehre, die Relevanz beider Mechanismen dargelegt werden.

Doch der Weg bis zum Gerinnungsschema von Morawitz verlief keineswegs linear. Die große Frage lautete zunächst: Selbst wenn das Fibrin gelöst im Blut vorkommt, wie, wann und warum geht es in die ungelöste Form über? Zur Beantwortung dieses Problems stellte Johannes Müller die These auf, daß gelöstes Fibrin beim Gefäßaustritt in die ungelöste Form übergehe. Ursäch lich hierfür sollte nach William Hewson (1739-1774) die atmosphärische Luft, laut Charles Scudamore (1779-1849) der Verlust von Kohlendioxid, laut Gustav Zimmermann (1817-1866) ein Oxidationsvorgang, nach Antoine-Francois Fourcroy (1755-1809), Johann H.F. Authenrieth (1771-1835) und Rudolf Virchow (1821-1902) der Sauerstoffkontakt sein.

Nachdem Virchow 1856 eine inaktive Fibrinvorstufe postuliert hatte, konnte der Wiener Physiologe Ernst Wilhelm Brücke (1819-1892) ein Jahr später in dem Aufsatz Über die Ursache der Gerinnung des Blutes nachweisen, daß die Fibrinbildung durch Fremdkörperkontakt stärker als durch Luftkontakt beschleunigt werde und daß beim Hinzufügen von Luft in dem Gefäß keine Gerinnung und kein Kohlensäureverlust stattfänden. Auch Brücke forderte eine gelöste Eiweißsubstanz als Vorstufe und hob hervor, daß Fibrin phosphorsauren Kalk enthalte, ohne jedoch über dessen Rolle etwas Genaueres aussagen zu können.

Der Dorpater Physiologe Alexander Schmidt (1831-1894) stellte in seinem 1876 erschienenen Werk Die Lehre von den fermentativen Gerinnungserscheinungen in den eiweißartigen tierischen Flüssigkeiten eine erste komplexere fermentative Gerinnungstheorie auf. Nach ihm verbinden sich zur Fibrinbildung zwei Globuline, eine fibrinogene und eine fibrinoplastische Substanz aufgrund der Fermentwirkung. Auch Schmidt hob die Bedeutung der Kalksalze hervor, die das unlösliche Fibrin durch Salzfällung entstehen lassen. "Die Faserstoffgerinnung besteht ihrem Wesen nach in einem Umsetzungsprozeß, bei welchem unter Einwirkung eines specifischen Fermentes und bei Gegenwart geringer Mengen von neutralen Alkalisalzen aus gewissen ursprünglich löslichen Eiweißstoffen ein unlösliches Produkt erzeugt wird. Das Substrat dieser Fermentation bilden die beiden Eiweißkörper (fibrinogene und fibrinoplastische Substanz). Das Ferment präexistiert nicht, sondern entsteht erst in den betreffenden Körperflüssigkeiten".

Modifikationen dieses Schemas publizierte Schmidt 1892 in seinem Werk Zur Blutlehre. Besonders wegen neuerer Erkenntnisse des Schweden Olof Hammarsten (1841-1932), der neben der Rolle des Kalziums nur einen Eiweißkörper postulierte, gab Schmidt die Unterscheidung zwischen fibrinogener und fibrinoplastischer Substanz auf und schrieb nun, daß vom Fibrinogen Teile abgespalten würden, die, zunächst in gelöster Form vorliegend, durch Salze ausgefällt würden. Hierbei maß er nicht dem Kalzium spezifische Bedeutung bei, sondern den Alkalisalzen im weiteren Sinne. Das heißt, auch Natrium- und Kaliumsalze konnten diese Fällung bewirken. Im 18. Kapitel faßte Schmidt seine Gerinnungstheorie 1892 so zusammen:

"Die Faserstoffgerinnung hat eine Reihe von Umsetzungen im circulirenden Blute zu ihrer entfernteren Voraussetzung und besteht wesentlich (...) in drei aufeinander folgenden und voneinander abhängigen Akten und zwar:

1. in der mit erhöhter Intensität sich fortsetzenden Abspaltung des Thrombins vom Prothrombin durch die zymoplastischen Substanzen.

2. In der Wirkung des Thrombins, welche in der Spaltung des Paraglobulins (= fibrinoplastische Substanz) und der Überführung der aus dieser Spaltung hervor gehenden fibrinogenen Substanz in den flüssigen Faserstoff und

3. in der Fällung des letzteren durch die Plasmasalze in unlöslicher Modifikation".

Andere Theorien lehnten die Fermentnatur der Gerinnung ab und besagten, daß die Gerinnung ein Kolloidbildungs- oder Agglutinationsvorgang sei, oder wie Leonard Charles Wooldridge (1857-1889) es formulierte, eine Reaktion zweier Fibrinogene zu Lezithin und Fibrin.

Ein weiterer strittiger Dikussionspunkt war die Rolle der Kalksalze. Man war sich zwar einig, daß diese essentiell seien und den Gerinnungsvorgang beschleunigten; Maurice Arthus (1862- 1935) und Calixte Pagès (1857-1912) zeigten 1890, daß Oxalatplasma ungerinnbar ist, daß es aber nach Kalziumsalzzugabe (Rekalzifizierung) sofort gerinnt. Dessen Funktion und Angriffspunkt kannte man jedoch nicht. Hier brachte Olof Hammarsten Licht in die Forschung. Durch Ausfällung mit Kochsalz und Thrombin gelang ihm eine Reindarstellung von Fibrinogen, und er konnte zeigen, daß Fibrinogen genausoviel Kalk wie Fibrin enthält, es also keine Kalksalzverbindung ist. Weiter zeigte Hammarsten, ebenso wie 1891 Cornelius A. Pekelharing (1848- 1922), daß die typische Fibrinbildung auch ohne Kalzium stattfindet, falls aktives Thrombin zu Fibrinogen gegeben wird. Dies bedeutete, daß "die specifische Wirkung der Kalksalze auf die Gerinnung also nicht den chemischen Vorgang bei der Umwandlung des Fibrinogens betrifft." Er folgerte daher 1896, "daß sie in naher Beziehung zu der Bildung des Fibrinfermentes steht".

Man forderte jetzt ein Prothrombin, das zusammen mit Kalzium die Gerinnungsbeschleunigung bewirkte. Das 1904 von Paul Morawitz aufgestellte uns heute vertraute Gerinnungsschema war demnach letztlich die Syntheseleistung aus den vorliegenden Forschungsergebnissen. Morawitz unterschied zwei Phasen der Gerinnung:

1. Phase : Prothrombin + Thrombokinase und Kalzium > Thrombin

2. Phase : Fibrinogen + Thrombin > Fibrin

Die Thrombokinase sollte aus den Leukozyten stammen, die übrigen Substanzen lägen im Plasma vor. Das Flüssigbleiben des Blutes im Gefäßsystem beruhe auf der nur geringen Thrombokinasekonzentration im Plasma und auf der Tatsache, daß Thrombin schnell unwirksam (Metathrombin) gemacht werde.

Mit dem Gerinnungsschema von Morawitz war der Grundstein zur plasmatischen Gerinnungstheorie gelegt, die im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts um die Fibrinolyse, die Aktivatoren und Inhibitoren erweitert wurde und zu der in jedem modernen Lehrbuch abgebildeten Gerinnungskaskade führte. Gleichzeitig nahm die Erforschung der Interaktion mit den zellulären Blutbestandteilen Aufschwung, nachdem mit der ersten Entdeckung der Blutkörperchen 1665 durch Marcello Malpighi und im 19. Jahrhundert mit der Zellentheorie des Blutes die Grundlage dafür gelegt worden war.
 

3. Von der schwarzen Galle zur Thrombose

Obwohl man die Gerinnung bei Verletzungen als lebenserhaltendes Prinzip kannte, war die Tatsache, daß sie innerhalb des Gefäßsystems auftreten und dort Krankheiten hervorrufen konnte, ein Phänomen, das viele Fragen aufwarf. Seit der Antike hatte man sich die Thrombenbildung, die meist an den Prädilektionsstellen der insuffizienten Venenklappen und hier besonders der unteren Extremitäten auftraten, als Metastasen der schwarzen Galle erklärt. Mit dem Aufkommen der Blastemtheorie im 19. Jahrhundert wurde die Thrombusorganisation als ein Reservoir der sogenannten freien Zellenbildung aus Blastem betrachtet. Danach entstünden aus Zytoplasma Kerne, um die sich dann Zellen bilden. Noch zu Beginn der 1850er Jahre akzeptierte Rudolf Virchow diese Art der Zellentstehung für die Thrombogenese, bis er dann 1855/1858 in seiner Cellularpathologie sein Postulat omnis cellula e cellula (jede Zelle geht aus einer Zelle hervor) wissenschaftlich untermauerte. Wie schon zuvor Robert Remak (1815-1865) bestritt Virchow nun die freie Zellenbildung und forderte eine "regelmäßige legitime Succession der Generationen". Diese Zellentheorie drang in alle medizinischen Fachgebiete vor und bildete fortan die konzeptuelle Grundlage aller Subdisziplinen.

Als Virchow im Herbst 1844 seine Assistentenstelle in der Prosektur der Berliner Charité annahm, studierte er zunächst die Geschichte der Phlebitis. Seit der Pariser Pathologe Jean Cruveilhier (1791-1874) mit seinem Postulat La phlébite domine toute la pathologie die Venenentzündung für jede pathologische Veränderung unerläßlich werden ließ, wurden auch verschiedene Theorien der Phlebitis als Ursache der Thrombenbildung entwickelt. Denn Cruveilhier hatte beobachtet, daß er immer dann, wenn er eine Gefäßentzündung sah, auch eine Gerinnselbildung vorfand. Da er sich die Pathogenese nicht genau erklären konnte, schloß er daraus, daß Gerinnung eine Folge der Gefäßentzündung sei. So erhob er die Gerinnung des Blutes innerhalb der Gefäße zu einem allgemeinen Gesetz der modernen Entzündungslehre und bezog auch die gewöhnliche Entzündung auf eine Phlebitis im kleinen, die von ihm so genannte Kapillarphlebitis. Hier zeigte sich erneut eine traditionelle Krankheitsvorstellung. Die Vene als Verkünderin von Gesundheit und Krankheit ("sanitatis et infirmitatis nuncia"), wie es der englische Minorit Bartholomaeus Anglicus (+ nach 1250) im 13. Jahrhundert formuliert hatte. Die Vene verteilte das "schlechte" Blut in die Peripherie und spiegelte somit Störungen im Säftehaushalt wieder, die man zum Beispiel durch einen Aderlaß bereinigen konnte.

Sechshundert Jahre später nahm Jean Cruveilhier, seit 1836 erster Lehrstuhlinhaber für Pathologische Anatomie an der Pariser Universität, diese zentrale Rolle der Venen wieder auf, indem er postulierte, daß der größte Teil der Kapillaren venöser Natur sei und daß daher die Venen ganz allgemein als der Sitz der Ernährung, der Absonderung und der Entzündung aufzufassen seien. Er unterschied zwischen zwei Formen der Phlebitis, der adhäsiven und der suppurativen, wobei die Phlebitis immer primärer, die Thrombose mit Verschluß der Versorgung sekundärer und die ischämische Zellnekrose mit Funktionsverlust tertiärer Natur seien. Die adhäsive Phlebitis meinte jene Formen der Thrombose, bei denen das Gerinnsel der Gefäßwand anhaftet und die Thrombenorganisation komplikationslos verläuft, die suppurative Phlebitis hingegen solche Gerinnsel, bei denen es im Rahmen der Organisation zur zentralen Erweichung kommt, die man als Eiterbildung auffaßte und als Ursache der thromboembolischen Komplikationen auffaßte.

John Hunter (1728-1793) hatte im 18. Jahrhundert postuliert, daß Gerinnung dann stattfinden könne, wenn Eiter in das Gefäß gelangt. Hierfür sei die Gefäßintima als eine Art seröse Haut aufgrund eines Exsudationsvorganges verantwortlich, für den wiederum die Entzündung obligat sei. Das Exsudat übe dann eine katalytische Wirkung auf den flüssigen Faserstoff aus und initiiere somit die Gerinnselbildung. Als Erklärung, warum Thromben im venösen Bereich häufiger als im arteriellen vorkommen, führte Xavier Bichat (1771-1802) eine größere Entzündungsfähigkeit der Venen an.

Rudolf Virchow führte dagegen 1846 die Beobachtung an, daß Thrombenbildung in den Kapillaren fast gar nicht vorkomme, was ja infolge der Kapillarphlebitis als Ursache parenchymatöser Entzündungen häufig geschehen müßte. Vielmehr beschränke sie sich auf Venen, Arterien und das Herz. Zweitens erkannte er 1846 anhand mikroskopischer Untersuchungen der Thrombusmetamorphose, daß in der Regel die eiterartige Masse im Inneren der Blutpfröpfe kein wirklicher Eiter sei, sondern der ganze Vorgang im wesentlichen in einer Detritusbildung bestehe, da die scheinbaren Eiterkörperchen, die sich in den puriform, nicht purulent geschmolzenen Pfröpfen fänden, nichts weiter seien als schon präexistierende Lymph- oder farblose Blutkörperchen. Drittens bemerkte Virchow, daß die beiden Entzündungstheorien bei der Thrombusmetamorphose insofern nicht schlüssig sein konnten, als für sie das Fortbestehen der krankhaften Störung notwendig war. Denn bei der suppurativen Phlebitis wanderten die von der Gefäßwand abgesonderten Eiterpartikel durch Imbibition oder Kapillarität in das Pfropfinnere, während sich bei der adhäsiven Phlebitis um den Pfropf eine exsudative Pseudomembran bilde, welche die dauernde Verwachsung des Gefässes zur Folge habe.

Deswegen sah Virchow in der "Verlangsamung oder vollkommenen Stauung des Blutstroms indess die Hauptbedingung, in der relativen oder absoluten Zunahme des Faserstoffgehaltes im Blute, mag diese nun allgemein oder örtlich sein, nur die Nebenbedingung für die Gerinnung des Blutes innerhalb der Gefässe". Somit setzte er an die Stelle der Gefäßentzündung die Blutgerinnung als den primären Vorgang. Auch Virchow beobachtete, daß "die Mehrzahl der Thromben ursprünglich als wandständige (parietale) entstehen (...) und sich nur selten gleich von vornherein total verstopfende (obstruirende) Thromben finden". Dies erklärte er mit örtlichen Veränderungen der Gefässwand und des Blutstromes. Jedoch könne man hier auch allgemeine Veränderungen des Blutes oder der Blutströmung heranziehen, insofern sie auf das örtliche Verhalten des Blutstromes Einfluss ausübten. Zwar war Virchow sich 1846 noch nicht über die Rolle der Blutzusammensetzung im klaren ("... kann ich mich daher auch noch jetzt nicht entschliessen, eine besondere Beschaffenheit des Blutes als Grund der Gerinnung desselben innerhalb seiner Kanäle, oder mit anderen Worten, eine besondere Disposition desselben zur Gerinnung zuzulassen"), und er irrte sich in der Funktion des Sauerstoffes, den er als Katalysator der Umsetzung Fibrinogen zu Fibrin ansah, aber er hatte doch bereits seine klassische Trias aufgestellt: Stase, Alteration der Gefäßintima und Hyperkoagulabilität aufgrund veränderter Blutzusammensetzung.
 

4. Von der Thrombose zu den Mechanismen der Embolie

Nachdem nun klar wurde, welche pathophysiologischen Veränderungen bei der Blutgerinnung im Gefäßsystem stattfinden und unter welchen pathologischen Bedingungen Thromben entstehen, fehlte für den thrombembolischen Formenkreis noch der Weg des peripheren Thrombus in die Lunge sowie zuvor die Erkenntnis der Identität von Thrombus und Embolus. Zwei Namen sind hier medizinhistorisch von Bedeutung: zum einen William Harvey (1578-1657), der mit seinem 1628 erschienenen Buch Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus die zentrifugale Blutbewegungstheorie Galens ablöste und eine Kreislaufbewegung postulierte, und zum anderen erneut Rudolf Virchow, der in seinen Studien über Thrombose und Embolie auf grund genauer pathologisch-anatomischer Untersuchungen folgerte, daß Thromben von der Zirkulation fortgerissen werden können und sich im nächsten Kapillargebiet (meist der Lunge) festsetzen.

William Harvey, der aufgrund der von Francis Bacon (1561-1626) eingeführten induktiven naturwissenschaftlichen Forschungsmethode mittels einfachen Blutstauungsversuchen und logischem Denken das seit der Spätantike dogmatisierte Lehrgebäude Galens revidierte, war durchaus ein Mann, der sich von den Ideen seiner Zeit beeinflussen ließ: Nachdem Nikolaus Kopernikus (1473-1543) das heliozentrisches Weltbild konzipiert hatte, erlebte die Idee der Kreisbewegung in vielen Gebieten der Naturwissenschaft eine Renaissance. Obwohl schon Aristoteles (384-322 v. Chr.) die Kreisbewegung als das eigentliche harmonische Grundprinzip des Weltalls ansah, war während der Antike der entsprechende Analogieschluß vom Makrokosmos auf den Mikrokosmos nicht hinsichtlich des Gefäßsystems gezogen worden. Viel mehr wurde hier die Analogie zwischen den "Venen", die hier allgemein als "Blutgefäße" zu betrachten sind (man unterschied die Venae quietae von den Venae pulsatiles), und dem "Bewässerungssystem" des Körpers aufgestellt. Das Tertium comparationis bildete jedoch die vermeintliche Parallele zwischen dem Gefäßsystem und dem Wasserverbrauch der Pflanzen, wobei die Pfortader mit ihren Zuflüssen den Wurzelstock, die Vena cava und ihre Verzweigungen den Stamm und die Äste verkörperten.

Der Blutfluß wurde seit Galen mit den drei Digestiones erklärt: Der aus dem Magen-Darm-Trakt resorbierte Chylus (erste Digestion) wird zur Leber transportiert. Dort wird daraus Blut bereitet (zweite Digestion), indem der Chylus das pneuma zotikón oder den spiritus naturalis aufnimmt. Die Hauptmasse des Blutes fließt nun in die Peripherie, wo das vegetative, nährende Venenblut mit dem pneumatisierten, vitalisierenden Arterienblut in der dritten Digestion das Parenchym ("Ausschüttung") bildet und verbraucht wird. Reste können im Sinne einer Pendelbewegung auch wieder zentripetal strömen. Nur ein kleiner Teil des Blutes gelangt über eine Unterdruckwirkung ins rechte Herz und fließt durch dessen Kontraktion über Poren des Ventrikelseptums ins linke Herz. Dort erhält es das pneuma physikón oder den spiritus vitalis. Die Rolle des Herzens ist dabei die eines Ofens, der das emphytón thermón oder den calor innatus enthält und für den die Lunge ein Kühlaggregat darstellt. Die eingeatmete Luft wird im Herzen dem Blut zugeführt, das dann als Pneuma, also als das lebenserhaltende Prinzip, in den Arterien zirkuliert. Ein sehr geringer Teil des Blutes gelangt auch in die Hirnventrikel und erhält dort das pneuma psychikón oder den spiritus animalis und fließt in den hohl gedachten Nervenröhren weiter.

Wichtige Vorarbeiten für Harvey lieferten zum einen Ibn an-Nafis (+ 1288) im 13. Jahrhundert sowie während der Frühen Neuzeit Realdo Colombo (1516-1559) und Miguel Serveto (1511- 1553), die einen kleinen Kreislauf postulierten. Zum anderen muß Andrea Cesalpino (1519- 1603) erwähnt werden. Er traf die Feststellung, daß die großen Gefäße um das Herz und nicht um die Leber herum angeordnet seien. Wichtig wurde auch die 1603 in Hieronymus Fabricius ab Aquapendentes (1537-1619) Werk De venarum ostiolis dargestellte Beschreibung der Venenklappen, auch wenn Fabricius sich selbst irrtümlich oder aus Eitelkeit als deren Entdecker rühmte. Ebenso grundlegend für Harveys Leistung war das umfassende anatomische Werk von Andreas Vesal (1514-1564), der 1543 in seinen De humani corporis fabrica libri septem zum ersten Mal systematisch Anatomie des Menschen betrieb. Allerdings blieb auch noch für Vesal die Blutbewegungstheorie Galens unantastbar, obwohl er bei der anatomischen Präparation keine Herzporen finden konnte.

Harveys bereits vor 1618 angestellten Überlegungen waren folgende: Selbst bei minimalem Herzvolumen und ebenso minimalem Schlagvolumen beträgt das Herzzeitvolumen dennoch mehr, als überhaupt Blut im Körper vorhanden ist und mehr, als über die tägliche Nahrung aufgenommen wird. Daraus schloß Harvey, daß das Blut nicht verbraucht werden könne, son dern daß es sich vielmehr stets um ein und dieselbe Substanzmenge handeln müsse. Außer dem deutete er aufgrund seiner Stauungsversuche die Funktion der Venenklappen als Ventile, die das Blut zum Herzen beförderten, das seinerseits für ihn kein Ofen, sondern eine me chanische Pumpe war.

Was Harvey für die morphologische Schlüssigkeit seiner Argumentation allerdings noch fehlte, konnte Marcello Malpighi (1628-1694) erst 1661 im Netz des Frosches entdecken - die Kapillaren. Sie schlossen den Kreis zwischen Arterien und Venen, stabilisierten Harveys Blutkreislauftheorie und falsifizierten definitiv die Theorie Galens.

Zweihundert Jahre nach Malpighi erforschte Rudolf Virchow neben der Thrombuspathogenese auch den Emboliemechanismus. Er schrieb 1856, daß durch Thromben "sehr häufig secundäre Störungen veranlasst werden (...) dadurch, dass grössere oder kleinere Stücke von dem centralen Ende des erweichenden Thrombus abgelöst, mit dem Blutstrom fortgeführt und in entfernte Gefässe eingetrieben werden". Er bezeichnete diesen Vorgang als Embolie, "die gröbste Form der im lebenden Körper vorkommenden Metastase". Die Emboli setzten sich je nach Größe zentral oder peripher meist an Gefäßteilungen fest und verursachten von augenblicklicher Asphyxie bis zu kleinen miliaren Entzündungen ein buntes klinisches Bild.

Zu dieser Feststellung gelangte Virchow, als eine Kindbettfieberepidemie in Berlin herrschte. Dabei stellt Virchow fest, daß "so mannichfaltig die Formen der Erkrankung auch waren, doch alle diejenigen Fälle, in welchen Metastasen in den Lungen gefunden wurden, auch mit Thrombose im Bereiche des Beckens oder der unteren Extremität verlaufen waren, ... dass also Lungengerinnsel nie ohne Venengerinnsel vorkommen, und dass die Existenz der ersteren ein sicherer Beweis für das Vorkommen der letzteren sei". Für diese Behauptung des sekundären Vorkommens der Embolie führte er fünf Beweise an:

1. Bei 76 Sektionen fand er 18 mal Venenpfröpfe und 11 mal Pfröpfe der Lungenarterien vor, wobei es ihm nur einmal mißlang, die Venenpfröpfe bei vorhandenem Lungenpfropf nachzuweisen.

2. Die Wandveränderungen der Lungenarterie traten erst bei in der Organisation sich befindenden Pfröpfen auf, obwohl gerade die jungen die Lungenarterie voll ausfüllten.

3. Die Pfröpfe befanden sich nicht, wie man aufgrund von Cruveilhiers Kapillar phlebitis annehmen müßte, hauptsächlich in den Kapillaren, sondern sie ritten auf den Teilungsstellen größerer Arterien, sie wurden wie ein Keil in die Arterie eingetrieben oder schlingenförmig hineingepreßt: "Der Ort ist ganz einfach von ihrer Dicke abhängig; sie gehen soweit als sie gerade können".

4. Das Alter der Lungenpfröpfe entsprach dem der Venenpfröpfe (wenn man von durch Stase sekundär entstandenen appositionellen Anteilen absah).

5. Manche Lungenpfröpfe paßten wie Kappen auf die nach Embolisierung unre gelmäßig, rauh und treppenförmig konfigurierten peripheren Venenpfröpfe.

Für den Emboliemechanismus gab Virchow folgende Erklärung: Die Gerinnung "erstreckt sich über die (Gefäß-)Mündung hinaus eine grössere oder geringere Strecke in das freie Gefäss hinein". Es bilden sich also appositionelle Thromben, die "vermöge ihrer größeren Durch feuchtung eine größere Neigung zur Erweichung haben" und aufgrund der lokal reduzierten oder modifizierten Strömung eine Größe annnehmen können, die in keinem Verhältnis mehr zu der ursprünglichen Thrombengröße steht.

Da auch gerade die fortgesetzten Thromben von hoher Feuchtigkeit seien und die hohe Feuchtigkeit zur puriformen Erweichung prädisponiere, gehe von diesen fortgesetzten Thromben die eigentliche Gefahr aus, da sie 1. weicher seien, 2. früher der Metamorphose unterworfen seien und 3. ständig vom Blutstrom getroffen und "abgenagt" würden. Durch Einbringen von Faserstoff- und Leichengerinnseln, Holundermark oder Quecksilber konnte Virchow zeigen, daß 1. das Blut fähig sei, auch Körper höherer Dichte zu transportieren, daß 2. Pfröpfe aus dem Gebiet der unteren Hohlvene den Weg durch das Herz in die Lunge nähmen und daß 3. sie auf diesem Weg keine "Herzsensationen" insbesondere keinen Schüttelfrost hervorriefen. Virchow machte nun den retrograden Schritt vom Präpariertisch ans Krankenbett, indem er je nach Größe und Art des obliterierten Gefäßes unterschiedliche klinische Störungen beschrieb. Er unterschied funktionelle Störungen wie den plötzlichen Tod durch Asphyxie (Embolie im Lungenhauptast), Apoplexie, akute Manie, Amaurose, Angina cordis pectoris (Koronararterien-Verschluß), Asphyxie und Dyspnoe (Embolie kleinerer Lungenäste) von anatomischen Störungen, die alle Formen der Entzündung und Gewebsnekrose umfaßten.

Hatte William Harvey im 17. Jahrhundert gezeigt, daß es den Weg von den peripheren Venen zur Lunge gab, so konnte Rudolf Virchow um die Mitte des 19. Jahrhunderts darlegen, daß Thromben und Emboli genau diesen Weg benutzten. Durch seine Befunde hatte er auch bereits die Möglichkeit zur Prophylaxe und Therapie vorgezeichnet. Denn es galt nun nicht mehr die Entzündung zu stoppen, sondern vielmehr zu verhindern, daß der periphere Thrombus sich löste und zum Embolus wurde. Die physikalische Therapie konnte auf dieser Grundlage entwickelt werden, und besonders in den gynäkologischen Lehrbüchern verschwanden die Be schreibungen des plötzlichen asphyktischen Todes von Wöchnerinnen durch die Frühmobilisation.
 

5. Die Thrombozyten als Bestätigung des zellularen Paradigmas von Rudolf Virchow

Parallel zur Erforschung der plasmatischen Gerinnung verlief die Erforschung der zellulären Blutbestandteile. Voraussetzung hierfür war das Mikroskop, von dem Robert Hooke (1635-1703) ein erstes Modell konstruierte. So konnte 1665 Marcello Malpighi neben den Kapillaren auch die roten Blutkörperchen erstmal als rubri atomi (rote unteilbare Urkörperchen) im Ader laßblut des Menschen beobachten und (in seinen Opera posthuma) beschreiben. Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723) beschrieb die Erythrozyten in einem leider im Original verschollenen Brief nach London vom 28. April 1673: "I do observe (... a stalk ...) in which is driven up a globous substance, which for the most part places itself at the top of the stalk, and is followed by another globul, driving out the first either side-ways, or at the top, and that is succeeded by a third and more such globuls; all which make up at last one great knob on the stalk, an hundred times thicker than the stalk it self". Ähnlich wie Malpighi war sich also auch Leeuwenhoek über die Konstanz der Erscheinung im unklaren und beschränkte sich daher auf deren Beschreibung. Er charakterisierte das Aussehen der winzigen roten Körperchen als "globulos ex sex aliis compositos aliosque trigesimae sextae parti sphaerulae sanguineae aequales", also als Kügelchen, die aus sechs anderen zusammengesetzt und diese anderen gleichmäßig in 36 Blutkügelchen unterteilt seien. Eine Unterscheidung der einzelnen Blutkörperchen traf Leeuwenhoek nicht. Noch 1760 schrieb der Physiologe Albrecht von Haller: "Praeter globulos rubros unius classis et magnitudinis nullam in sanguine indigenam sphaerulam reperiri", daß außer den roten Kü gelchen von einer Art und Größe im Blut kein bodenständiges Kügelchen gefunden werde.


 


William Hewson (1739-1774) beschrieb um 1770 die weißen Blutkörperchen erstmals als eigenständige Gattung im Hinblick auf Entzündungsprozesse, erste Differenzierungen in rote, gelbliche und weiße Blutkörperchen wurden von Karl Asmund Rudolphi (1771-1832) vorgenommen. Schwieriger war die Entdeckung der Thrombozyten, da sie 1. sehr klein sind und so bei den frühen Mikroskopen unterhalb der Auflösungsgrenze lagen, da sie 2. keine Zellkerne enthalten und 3. keiner Reifung oder Zellteilung im peripheren Blut unterliegen. So wurden sie lange Zeit übersehen. 1818 erwähnte Everad Home (1763-1832) die winzigen Körperchen erstmals, 1836 beschrieb Hermann Nasse (1807-1892) in seinem Werk Das Blut in mehrfacher Beziehung physiologisch und pathologisch untersucht sie als "seltsame kleine Kügelchen oder Körnchen, "die sich zu unregelmäßigen Haufen verbinden und verbacken". Nasse identifizierte die Thrombozyten aber nicht als eigenständige Blutbestandteile, sondern hielt sie für ausgestoßene Zellkerne.

Es gab aber auch andere Theorien: Alfred Donné (1801-1878) setzte die Thrombozyten 1842 in seinem Werk De l'origine des globules de sang, de leur mode de formation et leur fin mit den Chyluskörperchen gleich. Er schrieb, daß es im Blut drei Bestandteile gebe: 1. die roten Körper chen, 2. die weißen Körperchen, 3. die Chyluskörperchen. Die letzteren seien klein, nicht mehr als 1/300 Millimeter im Durchmesser. Gustav Zimmermann (1817-1866) bezeichnete die nach ihm gern Zimmermannsche Körperchen genannten Thrombozyten als aus der Lymphe kommende Erythrozytenvorstufen. Von anderen Autoren wurden sie als Globulinniederschläge (also nicht einmal als Zellen, sondern als Artefakte) oder als Erythrozytenvorstufen (Hämatoblasten), als Blutzellzerfallsprodukte oder als Zellabschnürungen gedeutet. Einig war man sich nur in den beobachteten Phänomenen der Verklumpungs- und Metamorphoseneigung.

Die Frage nach der tatsächlichen Herkunft der Thrombozyten erhielt 1882 wieder Aktualität. Giulio Bizzozero (1846-1901) bezeichnete in seinem Aufsatz Über einen neuen Formbestandteil des Blutes und dessen Rolle bei der Thrombose und der Blutgerinnung die Blutplättchen, wie er die Thrombozyten nannte, als dritten eigenständigen Formbestandteil von zwei- bis dreimal kleinerem Durchmesser als die Erythrozyten, der neben diesen und den weißen Blutkörperchen im Blute zirkuliert. Wirklich gelöst werden konnte die Frage der Thrombozytogenese allerdings erst 1906 durch James H. Wright (1869-1928), der die Bildung der Blutplättchen aus Abschnürungen an den Pseudopodien der Megakaryozyten des Knochenmarkes beobachtete.

Eine weitere Belebung der hämostaseologischen Forschung durch Bizzozero entstand dadurch, daß er die Thrombozyten in Zusammenhang mit der Blutgerinnung brachte. Sie und nicht etwa die weißen Blutkörperchen spielten die Hauptrolle bei der Gerinnung, denn es wurde wahr scheinlich, daß die Blutplättchen nicht nur bei der pathologischen Thrombose betheiligt waren. Eine Brücke zur Auffassung Virchows schlug Bizzozero 1882 mit der Schlußfolgerung, daß "ihre Vermehrung die Bedingungen des Blutkreislaufes ändere, sowie es auch wahrscheinlich ist, dass in solchen Fällen, die geringste Alteration der Gewässwände zu ausgebreiteten Thrombosen Veranlassung geben kann".

Die alte Streitfrage, was denn notwendig für die Gerinnung sei, lebte wieder auf. Von der reinen Zelltheorie, die eine Beteiligung der Globuline negierte, bis zur rein chemischen Fermenttheorie der Gerinnung gab es viele Übergänge. Vor der Entdeckung des Fibrins dominierte die durch Louis Prevost (1790-1850) und Jean-Baptiste André Dumas (1800-1884) vertretene Zelltheorie. Nach ihr fand Gerinnung statt, wenn durch Zerstörung der Blutkügelchen deren Faserstoffkern frei wurde, das Gerinnungsprodukt bestand also nur in einer Erythrozytenaggregation. Hieran konnte man aber bereits zweifeln, nachdem Johannes Müller 1832 mit seinem Froschversuch gezeigt hatte, daß korpuskelfreies Plasma aufgrund des in ihm gelösten Faserstoffes gerinnt. 1842 sah George Gulliver (1804-1882) die Thrombozyten als Gerinnselhauptbestandteil "constituting the bulk of such clots", verneinte aber noch ihren Zusammenhang mit der Fibrinbildung. Paolo Montegazza (1831-1910) beschrieb 1869 die Bildung einer Schicht farbloser Blutzellen an verletzten Gefäßen, welche er für Leukozyten hielt, die Bizzozero aber als Plättchenfunktion aufklären konnte. Diese Schicht farbloser Blutzellen bezeichnete Friedrich Wilhelm Zahn (1845-1904) als den weißen oder Abscheidungsthrombus.

1874 wurde der Zusammenhang zwischen Zellen und Fibrin durch die von dem Greifswalder Physiologen Leonard Landois (1837-1902) aufgestellte Theorie des Stromafibrin enger gefaßt, und 1900 beschrieb der Pathologe Ernst Schwalbe (1871-1920) an den Maschen eines Holundermarkplättchens, daß "am häufigsten man Fibrin mit den Blutplättchen in engste Verbindung treten sieht (...). Oft kann man sehen, daß ein dünner, cilienartiger Fortsatz eines roten Blutkörperchens sich immer mehr verlängert und endlich ganz den Eindruck eines Fibrinfaden macht". In der Zusammenfassung formulierte Schwalbe, daß "die Blutplättchen, die zum größten Teil von den roten Blutkörperchen abgegeben werden, zymoplastische Substanzen enthalten, Fermentbildner sind". Dies wurde von William Osler (1849-1919) und Edward A. Schaefer (1850-1935) insofern bestätigt, als sie die Thrombozyten als Kristallisationspunkte für die Gerinnung hielten. Aber erst Louis Le Sourd (1873-1941) und Philippe Pagniez (1875-1937) fanden 1909 die Ursache hierfür. Sie beobachteten, daß Plasma ohne Thrombozyten viel langsamer gerinnt als in deren Anwesenheit. Daraus schlossen sie, daß die Thrombozyten - und nicht die anderen Blutzellen - thromboplastische Substanzen enthielten, durch deren Freisetzung die plasmatischen Gerinnung iniziiert werde. Die Verbindung der Zellentheorie mit der Fermenttheorie stand nun auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage. Die (1) Interaktion zwischen Zellwand und Thrombozyten (Gulliver), die (2) Initiierung der Gerinnung durch die Thrombozyten (Le Sourd/Pagniez) und der von Carl Joseph Eberth (1835-1926) und Curt Schimmelbusch (1860-1895) im Jahre 1886 beschriebene (3) Zusammenhang der zeitlichen Abfolge von Plättchenablagerung und Fibrinbildung ("visköse Metamorphose") mit der herabgesetzten Strömungsgeschwindigkeit des Blutes bestätigten alle drei Virchowschen Postulate der Thrombogenese.


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