Bobby Seale, der vor 27 Jahren die Black Panther Party gründete, weiß, dass Rasse ein soziales Konstrukt ist: „Im Prinzip sind die Grundsätze des ursprünglichen 10-Punkte-Programms der Black-Panther-Partei heute sogar noch relevanter als zur Zeit ihrer erstmaligen Veröffentlichung. Punkt eins zum Beispiel: Wir wollen Freiheit und politische Macht, über das Schicksal unserer Gemeinden selbst bestimmen zu können. Punkt zwei: Wir wollen Vollbeschäftigung für unsere Leute. Punkt drei: Mit der Ausbeutung unserer Gemeinden durch Kapitalisten muss Schluss sein.“ (SZ, 18.10.08)

Dass Rasse keine biologische, sondern eine soziale Kategorie sei, gehört seit Jahren zu den zentralen Glaubenssätzen des Antirassismus. Weil Rasse ein gesellschaftliches Verhältnis auf den Begriff  bringe, stehe sie für jenes „Unterdrückungsverhältnis“, das früher als Klassengesellschaft bezeichnet wurde. Antirassisten wissen, dass Bobby Seale, wenn er von „unseren Leuten“ redet, als einziges Kriterium die nichtweiße Hautfarbe anführen kann, und sehen darin kein Problem, weil ihnen das „Weißsein“ längst zum Inbegriff alles Bösen geworden ist. Nicht die Wahnvorstellung von den biologischen Rassen, sondern das irrationale Paradigma vom „Weißsein“ als dem gesellschaftlich Absoluten, das abgeschafft gehöre, bestimmt nicht nur die akademischen Diskurse. Auch in Leitartikeln deutscher Tageszeitungen kann man nachlesen, „dass diese Gesellschaft immer noch viel zu weiß dominiert“ sei  (Tagesspiegel, 21.09.08).

Gegen „Weißsein“ und „Schwarzsein“, gegen das verantwortungslose Hantieren mit einer Kategorie, die es nicht gibt, richtet sich der Essay „Autobiography of an Ex-White Man. Warum Rasse keine gesellschaftliche Konstruktion ist“ des Literaturwissenschaftlers Walter Benn Michaels, der gegenwärtig an der University of Illinois in Chicago lehrt. „Autobiography“ ist 1997 in den USA erschienen und lag bisher nicht in deutscher Übersetzung vor. Die Redaktion dankt Professor Benn Michaels für die Genehmigung zu Übersetzung und Abdruck.

 

 

Autobiography of an Ex-White Man

Warum Rasse keine gesellschaftliche Konstruktion ist

„Musik ist eine universelle Kunst,“ sagt der reiche, weiße Mann in James Weldon Johnsons „Autobiography of an Ex-Colored Man“. „Die Musik gehört allen; man kann sie nicht auf Rasse oder Land beschränken.“ Der Roman selbst ist jedoch skeptisch gegenüber dem musikalischen Anspruch auf Universalität, und zwar deshalb, weil er dem Ausflug des farbigen Mannes „in das tiefe Herz des Südens, um dort unter seinen Leuten zu weilen und in seine unverfälschten Inspirationen einzutauchen“, zustimmt, aber den weißen Musikern abspricht, nach Harlem zu fahren, um dort „ihre Imitationen aus erster Hand von den schwarzen Entertainern zu beziehen, die sie dort spielen sehen“. Die Musik mag zwar allen gehören, aber es gibt dennoch einen Unterschied zwischen den Imitationen, die Weiße von Schwarzen machen und den Inspirationen, die Schwarze von Schwarzen bekommen. Die Logik dieser Haltung lässt jedoch einen allgemeineren Schluss zu: schwarze Musiker, die Spirituals hören, erheben dadurch Anspruch auf ihr „Erbe“; weiße Musiker, die Spirituals (oder Ragtime oder Hip-Hop oder Blues) imitieren, sprechen, wie es ein Mitarbeiter der Publikation Race Traitor [Rassenverräter] ausdrückte, Schwarzen „das Recht auf ihr eigenes Erbe“ ab.

Die Mitarbeiter von Race Traitor – einem Journal, das sich der „Abschaffung des Weißseins [whiteness]“ verschrieben hat – sind sich uneins darüber, ob weiße Menschen den Blues singen können oder sollen. Und tatsächlich ist die Art und Weise, wie diese Uneinigkeit ausgetragen wird, von entscheidender Bedeutung für das Projekt des Rassenverrats – des Projekts der Abschaffung nicht des weißen Rassismus, sondern der weißen Rasse. Tragen also weiße Menschen, „die Anleihen bei der schwarzen Kultur machen“, dazu bei, dass „weiße Menschen aufhören, solche zu sein“ oder ziehen sie, wie die weißen Musiker, die nach Harlem fahren, die Schwarzen nur ab? Sobald Johnsons farbiger Mann die Quellen seiner Inspiration vernachlässigt, wird er zu einem ex-farbigen Mann, was soviel bedeutet, dass er zu einer Imitation verkommt: er geht fortan als Weißer durch [passes for white]. Race Traitor stellt sich sogar vor, dass weiße Menschen – vielleicht (wie einer der Herausgeber, Noel Ignatiev, sagt) „durch irgendeine Beschäftigung mit Schwarzsein [blackness], womöglich so­gar durch eine Identifikation als Schwarzer“ – sich in ex-weiße Menschen verwandeln können. Aber gehen Weiße, die sich in irgendeiner Weise auf das Schwarzsein einlassen, überhaupt als Schwarze durch? Der ex-farbige Mensch legt seine rassische Identität ab, indem er sie verheimlicht; der ex-weiße Mensch will seine rassische Identität nicht verheimlichen, sondern zurückweisen, zerstören. Der ex-farbige Mensch will nicht mehr „als Neger identifiziert“ werden; der Rassenverräter – vielleicht, indem er sich mit schwarz identifiziert – will aufhören weiß zu sein.

Rasse ist nicht Klasse

Der Unterschied zwischen diesen beiden Projekten entspricht einem Unterschied in der Rassentheorie. Rasse in Johnsons „Autobiography“ ist eine Funktion von etwas, das der Erzähler „Blut“ nennt. Nur weil seine Hautfarbe „elfenbeinfarben“ ist, kann der Erzähler behaupten weiß zu sein; aber weil sein „Blut“ schwarz ist, ist er es nicht. Im Gegensatz dazu glauben die Herausgeber von Race Traitor, wie die meisten zeitgenössischen Rassentheoretiker, dass Rasse eine „gesellschaftliche“, keine „biologische“ Tatsache ist. In der Tat kann nur unter der Voraussetzung einer „gesellschaftlich konstruierten“ Auffassung von Rasse, die „Abschaffung des Weißseins“ nicht-genozidalen Sinn haben. Weiße Menschen zum Verschwinden zu bringen, bedeutet nicht, weiße Menschen zu töten; es bedeutet die gesellschaftliche Tatsache des Weißseins zu zerstören. Insofern Weißsein, wie Sklaverei auch, eine gesellschaftliche Tatsache ist, kann sie abgeschafft werden; und so wie es in der Vergangenheit einmal Millionen von Ex-Sklaven gegeben hat, könnte es in der Zukunft Millionen Ex-Weißer geben.

Natürlich ist das Projekt der Abschaffung des Weißseins nur durch die Neudefinition von Rasse als gesellschaftlicher Konstruktion möglich geworden, obwohl zugleich das Abfeiern rassischer Differenz ein charakteristisches Anliegen zeitgenössischer Rassentheorie ist. Weil diese beiden Projekte – die Feier von Rasse und ihre Abschaffung – auf einer Auffassung von Rasse als gesellschaftlicher Tatsache beruhen, sind sie zum Scheitern verurteilt. Man kann Rasse nicht als gesellschaftliche Tatsache wie Sklaverei oder – um eine Analogie zu wählen, die noch grundlegender für das Projekt des Rassenverrats ist – als Klasse verstehen. Wenn, wie Ignatiev behauptet, „Rasse, wie Klasse etwas ist, das sich in der Tat ereignet“, dann – und das ist das Projekt des Rassenverrats – kann es auch „dazu gebracht werden, sich nicht zu ereignen.“ Ich werde in meiner Argumentation nachweisen, dass Rasse nicht wie Klasse zu verstehen ist, dass Rasse sich weder ereignet, noch dass sie dazu gebracht werden kann, sich nicht zu ereignen. Und gegen jene, die „Rasse respektieren und erhalten“ wollen, statt sie abzuschaffen, werde ich nachweisen, dass es genauso wenig einen Sinn ergibt, rassische Unterschiede zu respektieren, wie sie abzuschaffen. Tatsächlich aber verrät der unmittelbare Impuls, Rasse zu bewahren, in welchem Ausmaß diejenigen, die glauben, ihre Vorstellungen von Rasse seien „antiessentialistisch“ oder „performativ“, in Wirklichkeit einem rassischen Essentialismus verhaftet bleiben.

Meine Kritik an der Vorstellung von Rasse als einer gesellschaftlichen Konstruktion ist keine Verteidigung eines rassischen Essentialismus. Eher möchte ich darauf insistieren, dass unsere tatsächlichen rassischen Praktiken, die Art und Weise, wie Menschen über Rasse sprechen und diese theoretisieren, wie auch immer „antiessentialistisch“ intendiert, nur dahingehend begriffen werden können, dass wir gerade nicht der Vorstellung anhängen, Rasse sei eine gesellschaftliche Konstruktion. Ich möchte darüber hinaus darauf insistieren, dass wir, wenn wir diese Vorstellung aufgeben wollen, die Vorstellung von Rasse überhaupt aufgeben müssen. Entweder ist Rasse eine Essenz oder es gibt keine solche Sache wie Rasse. Davon abgesehen kann es keine ex-schwarzen oder ex-weißen Menschen geben. Wenn Rasse, um zu sein, wofür sie ausgegeben wird, essentiell sein muss, dann kann Johnsons ex-farbiger Mann, weil er einmal schwarz war, niemals aufhören, schwarz zu sein; wenn es keine Sache wie Rasse gibt, dann können ex-weiße Menschen wie die Rassenverräter, weil sie nie weiß waren, nicht aufhören, weiß zu sein. Entweder macht Rasse es möglich, durch die Ablehnung der eigenen rassischen Identität eine Form des Passierens/Durchgehens [passing] zu verwirklichen, oder Durchgehen wird unmöglich und so etwas wie rassische Identität gibt es nicht mehr.

Schwarzes und weißes handeln

Wie ist dieses Passieren dann aber möglich? Für einen Antiessentialisten ließe sich die Frage folgendermaßen formulieren: Wie ist es überhaupt möglich, als jemand anderer durchzugehen, ohne dabei mit demjenigen identisch zu werden, als der man durchgeht? Für einen Essentialisten müsste die Frage etwas anders gestellt werden: Wie ist es überhaupt möglich, durchzugehen? Welchen Charakter muss Rasse haben, damit sie verheimlicht werden kann? In einem Rassensystem, in dem rassische Identität eine Funktion physischer Erscheinung ist – in dem eher die Hautfarbe, als irgendeine Frage der Verwandtschaft die rassische Identität bestimmt – könnte das fast unmöglich sein. Denn wenn rassische Identität durch die physische Erscheinung bestimmt ist (wenn eine dunkle Hautfarbe jemanden schwarz, und eine helle Hautfarbe jemanden weiß macht) dann besteht der einzige Weg durchzugehen darin, die eigene Hautfarbe zu verheimlichen oder zu verändern.

Die Wahl zwischen verändern und verheimlichen – oder präziser, die Möglichkeit durch Veränderung zu verheimlichen – zieht eine weitere Frage nach sich: falls es einem irgendwie gelingen sollte, seine Hautfarbe zu verändern, geht man dann wirklich als „andersrassisch“ durch? Gibt man vor, zu einer Rasse zu gehören, wenn man tatsächlich zu einer anderen gehört, oder hat man tatsächlich damit aufgehört, Teil der einen Rasse und stattdessen damit angefangen, Teil einer anderen zu sein? Eine relevante Analogie in diesem Zusammenhang könnte der Transsexuelle sein. Für gewöhnlich würde man nicht behaupten wollen, dass der Transsexuelle als ein „Andersgeschlechtlicher“ durchgeht, und wenn man das doch behaupten wollte, müsste man eine Erklärung dafür haben, wie der Körper einer Person eine Geschlechtsumwandlung durchlaufen kann, ohne dass das Wesen dieser Person das Geschlecht wechselt – also eine Erklärung dafür liefern, was das Wesen von dem ist, was durch die Veränderung verheimlicht wird. In „Schwarze Haut, Weiße Masken“ stellt sich Frantz Fanon „ein Serum für Denegrifizierung“ vor, das entwickelt wurde, um es Schwarzen zu ermöglichen, sich „weiß zu machen“. Gäbe es wirklich ein solches Serum, würde man dann sagen wollen, dass die Person, die es benutzt, jetzt in der Lage sei, als weiß durchzugehen oder würde man sagen wollen, dass die betreffende Person jetzt weiß ist?

Im amerikanischen Rassensystem hingegen – dem gemäß ein Tropfen schwarzen Blutes die Person zu einem Schwarzen macht – erfordert das Passieren keine physische Transformation. In Johnsons Roman lässt sich der ex-farbige Mann, der von „elfenbeinfarbener Weißheit“ ist, einfach einen Schnurrbart wachsen und wechselt seinen Namen. Wo, mit anderen Worten, die physische Erscheinung die rassische Identität nicht determiniert, sondern nur ein Zeichen davon ist, kann man durchgehen, ohne den Körper in irgendeiner Form zu verändern. Die Behauptung jedoch, die Ein-Tropfen-Regel ermögliche das Durchgehen, ohne eine physische Veränderung erforderlich zu machen, bedeutet natürlich nicht, dass sie den Körper irrelevant werden lässt. Selbst wenn man zugesteht, dass die Vorstellung vom schwarzen oder weißen Blute heutzutage auf keine breite biologische Anerkennung stößt, kann man nach dem Vorangegangenen trotzdem den Bezug auf Blut als eine Metapher für etwas verstehen, das, was auch immer es sein mag, im Körper vorhanden ist und die Rasse bestimmen soll, – z.B. die eigenen Gene. Mit der Ein-Tropfen-Regelung gilt daher, dass eine schwarze Person, die als weiße durchgehen will, alles in ihrem Körper verheimlichen muss, das sie als schwarz identifizieren könnte. Aber weil es nur möglich ist durchzugehen, weil die Sache bereits unsichtbar ist, geht es beim Durchgehen weniger darum, etwas zu verstecken als vielmehr um die Weigerung oder das Versäumnis, etwas anzuerkennen.

Rassische Identität im Sinne der Ein-Tropfen-Regelung tritt somit als etwas in Erscheinung, das nicht nur verkörpert wird (in dem Sinne, dass der eine Tropfen in dem Körper ist), sondern auch repräsentiert werden muss (da ohne die Repräsentation die Tatsache, dass der Tropfen in dem Körper ist, nicht erkannt werden kann). Diese Nicht-Identität der Rassenzugehörigkeit einer Person und der Repräsentation dieser Zugehörigkeit eröffnet – ja konstituiert sogar – das gesamte Feld des rassifizierten [racialized] Diskurses. Auf der einfachsten Ebene fügt er Rasse in das Feld der Ethik ein: wenn rassische Identität unsichtbar ist, dann wird sie zu etwas, über das man lügen oder die Wahrheit sagen kann, oder zu etwas, das man verheimlichen oder offenbaren kann. Für sich betrachtet ist diese Möglichkeit nur von begrenzter Bedeutung. Schließlich ist auch die Haarfarbe etwas, das sich verheimlichen oder offenbaren lässt. Aber obwohl Haarfarbe falsch repräsentiert werden kann, kann sie nicht repräsentiert werden. Wenn das Haar eines Menschen schwarz ist, kann er es blond färben und seine tatsächliche Farbe falsch repräsentieren, wenn er es aber schwarz lässt, wird er lediglich schwarzes Haar haben. Der Umstand, dass Rasse unsichtbar sein kann, bedeutet jedoch, dass sie entweder falsch repräsentiert oder repräsentiert werden muss; sie nicht repräsentiert zu lassen, hieße sie falsch zu repräsentieren. Mit anderen Worten, wenn man nicht sichtbar schwarz ist, muss man entweder einen Weg finden, sein Schwarzsein zu repräsentieren, oder man muss als Weißer durchgehen. Genau das ist damit gemeint, wenn davon die Rede ist, dass die Möglichkeit des Passierens das ganze Feld des rassifizierten Diskurses eröffnet. Der Diskurs über Rasse ist der Diskurs von Leuten, die durchgehen können, aber es nicht wollen.

Das ist trotz der Tatsache wahr, dass vergleichsweise wenige Menschen durchgehen können. Denn die lediglich begriffliche Möglichkeit des Passierens macht es möglich, die essentielle Unsichtbarkeit von Rasse zu verkünden, und die Farbe sogar von denen, die nicht durchgehen können (der großen Mehrheit) abzuwischen, um sie aus einer Tatsache, die ihre Rassenzugehörigkeit konstituiert, in eine Repräsentation dieser Tatsache umzuwandeln. Aus diesem Grund kann ein Schriftsteller wie Howard Winant in Racial Conditions, überzeugend darlegen, dass „Rasse nicht nur eine Sache der Hautfarbe ist. […] Es ist vielmehr ein Lebensstil, eine Art des Daseins.“ Das bedeutet: Weil Hautfarbe die Rasse nicht festlegt, darf sie nur als eine Art und Weise – und nicht notwendigerweise die wichtigste – verstanden werden, Rasse offenkundig zu machen. Die Möglichkeit, einer Rasse von Menschen anzugehören, die nicht so aussehen wie du, impliziert die Möglichkeit, deine eigene rassische Identität in deinen Handlungen offenbar werden zu lassen – also darin, sich schwarz oder weiß zu verhalten. Sie produziert, anders ausgedrückt, die Vorstellung, dass bestimmte Handlungen (und wir wollen unter der Rubrik „Handlungen“ sowohl Überzeugungen, Werte als auch Praktiken fassen, also alle die Angelegenheiten, von denen behauptet wird, dass sie die Kultur einer Person ausmachen) bestimmte Identitäten in adäquater Weise begleiten. Ungeachtet der jeweiligen Hautfarbe gibt es immer Wege, schwarz oder weiß zu handeln. Wenn man das erst einmal erkannt hat, erkennt man auch, dass selbst wenn man nicht durchgehen kann (wenn man nun einmal so aussieht wie das, was man ist), man immer noch damit scheitern kann, sich so zu verhalten wie das, was man ist.

Daher stellt die begriffliche Möglichkeit des Passierens, für diejenigen, deren physische Erscheinung so beschaffen ist, dass sie durchgehen können, die Möglichkeit dar, ihre rassische Identität zu verheimlichen oder zu offenbaren; sie eröffnet allen die Möglichkeit, loyal oder illoyal gegenüber seiner Rasse zu sein – den Lebensstil, den ihre Rasse für sie bereit hält, anzunehmen oder zurückzuweisen. Gerade weil Rasse unsichtbar ist, werden alle Umstände, die sie sichtbar machen, auf einfache Repräsentationen einer rassischen Identität reduziert, die anderswo ausgemacht wird. Gleichzeitig gilt, dass gerade weil Rasse nicht auf irgendeine ihrer Repräsentationen reduziert werden kann, so ziemlich alles als ihre Repräsentation gelten kann. Nur deshalb, weil die Sache selbst unsichtbar ist, kann alles als eine Art, sie zu sehen vorgestellt werden.

Proletariat und Bourgeoisie benötigen keine Essenz

Die Unsichtbarkeit der Rasse trägt viel zu ihrer Macht bei. Daher kommt es auch, dass das frühe amerikanische Rassedenken immer versucht war, die rassische Identität einer Person nicht lediglich in einem Teil der Person, der schwer auszumachen ist – dem Blut etwa – zu lokalisieren, sondern in einem Teil der Person, der überhaupt nicht zu sehen ist – der Seele. In der Tat macht das Auffinden der Rasse in der Seele statt im Körper diesen zu einer einzigen Repräsentation der rassischen Essenz; es macht die Rasse immun gegen ein herbeiphantasiertes Denegrifizierungsserum, denn was nicht wirklich im Körper ist, kann durch die Veränderung des Körpers nicht affiziert werden. So lässt im gegenwärtigen Rassedenken – gemeint ist jenes vom Ende und nicht so sehr das vom Anfang des 20. Jahrhunderts – die Zurückweisung des Körpers als Ort der rassischen Identität die Phantasie einer biologischen Denegrifizierung gleich­sam irrelevant werden. Jedoch: heutiges Rassedenken – d.h. der Glaube an Rasse als gesellschaftlicher Konstruktion – versteht sich selbst als antiessentialistisch, und nicht als eine Form von Essentialismus.

Die Behauptung, dass Rasse gesellschaftlich konstruiert sei, ist gleichbedeutend mit der Behauptung, dass Rasse keine biologische Entität sei, dass es in den Körpern der Menschen nichts gibt, das ob sichtbar oder unsichtbar, ihre rassische Identität konstituiert. Anders ausgedrückt, es gibt keine Sache wie schwarzes oder weißes Blut und kein genetisches Äquivalent dazu. Oder wie der Biologe Richard C. Lewontin es (in „Of Genes and Genitals“, Transition 69) ausdrückt, „Rasse ist einfach keine Kategorie, die Biologen oder Anthropologen noch ernst nehmen, obwohl Rasse als gesellschaftlichem Phänomen noch eine zwingende Wirklichkeit zukommt.“ Aber wenn man davon ausgeht, dass Rasse weder in der Seele noch im Körper vorhanden ist, wo glaubt man sie dann finden zu können? Von welcher Art Wirklichkeit ist die zwingende Wirklichkeit von Rasse heute?

Ein Weg, diese Wirklichkeit zu charakterisieren, könnte darin bestehen, sie als die Wirklichkeit eines Irrtums zu verstehen. Selbst wenn Rasse keine biologische Tatsache ist, haben viele Menschen sie dafür gehalten, und einige Menschen glauben das zweifellos immer noch. Und dieser Glaube, so falsch er auch ist, hat in der Vergangenheit offensichtlich bedeutende Konsequenzen nach sich gezogen und tut dies heute immer noch. Aus diesem Grund könnte man annehmen, dass die Wirklichkeit der Rasse darin besteht, dass man in einer Welt lebt, die immer noch entlang rassischer Linien organisiert ist. Der springende Punkt unseres neuen Wissens, des Wissens, dass es keine biologischen Rassen gibt, bestünde dann darin, diese Konsequenzen unserer alten Ignoranz ungeschehen zu machen, also eine Welt einzurichten, in der Rasse keine zwingende Wirklichkeit ist.

Diejenigen, die sich auf die gesellschaftliche Konstruktion der Rasse festgelegt haben, selbst die Rassenverräter, begreifen die rassische Wirklichkeit jedoch ganz offensichtlich nicht als Irrtum; sie begreifen Rasse nicht als eine Sache, die, wenn sie nicht in der Natur existiert, überhaupt nicht existiert. In einer sehr berühmten Passage der „Überlegungen zur Judenfrage“ sagt Sartre, „die Präsenz eines Jüdischseins in ihm, eines jüdischen Prinzips analog zu Phlogiston“ mache den Juden in den Augen des Antisemiten zum Juden. Als die Menschen jedoch aufhörten daran zu glauben, dass Phlogiston in der Natur vorkomme, begannen sie nicht etwa zu glauben, Phlogiston sei eine gesellschaftliche Konstruktion. Das soll nur soviel besagen, dass mit der Behauptung, es gebe keine Rassen in der Natur – Rasse aber eine gesellschaftliche Konstruktion sei – gerade nicht bestritten wird, dass es so etwas wie Rasse gibt; damit soll lediglich eine bessere Erklärung geliefert werden, was Rasse tatsächlich ist. Wenn wir also sagen, dass, weil es keine Rassen in der Natur gibt, das Rassedenken nur eine Illusion ist, glaubt der Anhänger der Lehre vom sozialen Konstrukt, wir hätten den springenden Punkt verfehlt. Wenn es ein Fehler ist, „Rasse als eine Essenz zu verstehen, als etwas feststehendes, konkretes, objektives“, wie Michael Omi und Howard Winant es in „Racial Formation in the United States“ formulierten, dann ist es ebenso ein Fehler, „sie lediglich als Illusion zu betrachten, die eine ideale gesellschaftliche Ordnung beseitigen würde“. Diejenigen, die Rasse als biologische Tatsache verstehen, begehen den ersten Fehler; diejenigen, die Rasse lediglich als „Ideologie“ auffassen und eine „farbenblinde“ Gesellschaft für wünschenswert halten, begehen den zweiten. Aber „Rassenbewusstsein“ ist kein „falsches Bewusstsein“. Tatsächlich wäre nach dieser Sichtweise die Behauptung, dass, weil Rassen in der Natur nicht vorkommen, es keine Rassen gebe, eine genauso unlogische Schlussfolgerung, wie die Behauptung, dass, weil in der Natur keine Klassen vorkommen, es auch keine Klassen gebe. Genauso wie es ein Kennzeichen des Liberalismus ist, die Bedeutung der Klasse zu bestreiten, ist die Leugnung der Rasse eine Strategie, die heute als „liberaler Rassismus“ bezeichnet wird.

Nach dieser Auffassung ist Rasse eine genauso zwingende Wirklichkeit wie die gesellschaftliche Klasse. Damit zu argumentieren, dass, weil es kein rassisches Phlogiston gebe, folgerichtig auch keine Rassen existieren könnten, erscheint in diesem Kontext als politisch genauso problematisch wie sein Gegenteil, der Glaube des Antisemiten an das jüdische Prinzip. Auch für Sartre ist es lediglich der Liberale, der davon ausgeht, dass, wo kein jüdisches Phlogiston ist, es auch keine Juden gebe. Er behaupte das auch nur, um damit seiner individualistischen Feindschaft gegen die bloße Idee der Klasse Ausdruck zu geben. Weil er die „großen kollektiven Formen“, die die liberale Demokratie bedrohen, fürchte, versuche der Demokrat „die Individuen davon zu überzeugen, dass sie in einem isolierten Zustand existieren“: „er befürchtet, die Juden könnten ein Bewusstsein ihrer jüdischen Kollektivität erlangen – genauso wie er befürchtet, dass ‚ein Klassenbewusstsein‘ den Arbeiter aufwecken könnte.“ Von diesem Standpunkt aus betrachtet, wiederholt und korrigiert der Liberale den Fehler des Antisemiten zugleich; der Liberale hat unrecht, wenn er die Realität des „Individuums“ behauptet und die Wirklichkeit der Klasse leugnet, aber er hat recht, wenn er das Bewusstsein einer jüdischen Identität mit dem Klassenbewusstsein in Analogie setzt – und er erkennt richtig dass, wenn es Juden gibt, diese nicht weiter einer jüdischen „Essenz“ bedürfen, genauso wenig wie die Arbeiter einer proletarischen oder die Mittelklasse einer bourgeoisen. Das Proletariat und die Bourgeoisie benötigen keine Essenz, denn sie sind, wer sie sind, wie Sartre festhält, „aufgrund eines Ensembles unterschiedlicher Verhaltensweisen“. Unter Heranziehung des Modells der Klassenidentität wäre auch die rassische Identität genau das, was ihr so oft nachgesagt wird: performativ.

Eine wirklich performative Konzeption von Rasse würde das Passing, das Durchgehen, unmöglich machen. Denn der Raum des Passierens ist der Raum der Repräsentation, was soviel bedeutet wie, dass Passieren möglich ist, weil man in seinen Handlungen seine Rasse entweder repräsentieren oder falsch repräsentieren muss. Aber die Möglichkeit, seine Rasse zu repräsentieren, bzw. falsch zu repräsentieren, beruht, wie bereits dargelegt wurde, auf der Nicht-Identität der rassischen Repräsentation und der rassischen Wirklichkeit. Doch die performative Vorstellung von Rasse unterläuft diese Nicht-Identität; sie beseitigt die Wirklichkeit – das Blut oder die Seele – und transformiert die Handlungen, die rassische Identität repräsentieren, in Handlungen, die diese bestimmen. Passieren wird unmöglich, weil es in der Logik der Lehre vom sozialen Konstrukt unmöglich ist, nicht das zu sein, als was man durchgeht.

Das ist der Traum von etwas, das Race Traitor „Übergang [crossover]“ nennt – der Traum, man könnte aufhören weiß zu sein, wenn man nur aufhörte, weiß zu handeln – und es ist genau dieser Traum, der die ganz besondere Technik und die ganz besondere Beklemmung scheinbar ex-weißer Menschen produziert. Diese besondere Technik ist das, was Johnson geringschätzig „Imitation“ genannt hat, und was die Rassenverräter hoffnungsvoller als „Anleihen“ bei der schwarzen Kultur bezeichnen würden. Die spezifische Beklemmung kreist um die Frage, ob und wann solche Anleihen funktionieren, also ob und wann weiße Menschen, die sich wie schwarze verhalten, nicht mehr zu den Ausbeutern schwarzer Menschen gezählt werden, sondern stattdessen, wenn sie schon keine Schwarzen werden, wenig­stens zu den „Mulatten“ gerechnet werden. Und obwohl der Musikkritiker und Herausgeber von Living Blues, Paul Garon im Race Traitor als eine Figur erscheint, die ganz in der Art von Johnson vorwurfsvoll den „weißen Blues“ als „schwache und nachgemachte Form“ kritisiert, zielt das kulturelle Projekt des Rassenverrats darauf ab, Imitation als Inspiration neu zu entdecken und diejenigen weißen Musiker zu feiern, die in den Worten von Albert Murray „bestimmte Schwarze nicht nur als verwandte Geister begreifen, sondern auch als Ahnen“.

Weil der Unterschied zwischen Imitation und Inspiration auf dem ontologischen Vorrang der rassischen Identität beruht – man wird inspiriert von dem, was man ist, und man imitiert, was man nicht ist – hängt die Erfüllung der „Crossover Träume“ von Race Traitor davon ab, ob es gelingt, diese Unterscheidung ungeschehen zu machen. Um es anders auszudrücken: Diese Träume haben die Vorstellung zur Voraussetzung, dass, weil Rasse eine gesellschaftliche Konstruktion sei, sich in den Körpern schwarzer Menschen nichts auffinden lasse, was sie zum Blues-Spielen tauglicher mache als weiße Körper. Und da sogar Garon einräumt, dass „weder Gene, noch rassen-spezifische Erfahrung die Fähigkeit eines Menschen zu beeinflussen scheint, bestimmte Akkorde oder bestimmte Melodien zu spielen,“ ist es schwer einzusehen, aufgrund welcher Kriterien die Bemühungen weißer Menschen den Blues zu spielen, als in höherem Maße nachgeahmt gewertet werden sollten, als die Bemühungen schwarzer Menschen, oder nach welchen Kriterien der „weiße Blues“ als eine in höherem Maße „nachgeahmte Form“ gelten kann als der schwarze Blues. Schon weil es zur Beschreibung des Blues in formaler Hinsicht keiner Bezugnahme auf die Hautfarbe derjenigen bedarf, die ihn spielen (genauso wenig wie bei der Beschreibung eines Sonetts in formaler Hinsicht), und weil schon die bloße Vorstellung einer musikalischen „Form“ von der Möglichkeit ihrer Nachahmung abhängt, ist es in der Tat schwer einzusehen, wie es einen formalen Unterschied zwischen schwarzem und weißem Blues geben könnte. Der weiße Musiker, der die Akkorde und die Melodien zu spielen lernt, ist nicht mehr oder weniger auf Nachahmung festgelegt als der schwarze Musiker.

Aber das gleiche Argument, das sich gegen die Annahme wendet, das Crossover sei irgendwie aus zweiter Hand und damit minderwertig, richtet sich auch gegen die Vorstellung, dass Crossovers tatsächlich Übergänge seien [crossing over]. Wenn man nicht schwarz sein muss, um den Blues zu spielen, wird man auch nicht schwarz, wenn man den Blues spielt. Rasse orientiert sich genauso wenig an der Musik, wie Musik an der Rasse und wenn man den Blues spielt, wird man ein Bluesmusiker, kein Schwarzer. Daher muss die Unterscheidung zwischen weißem und schwarzem Blues als eine zwischen zwei Arten von Menschen begriffen werden und nicht als eine zwischen zwei Arten von Musik. Was die Musik, die jemand spielt, schwarz macht, ist der Umstand, dass er schwarz ist; was der Musik die Farbe verleiht, ist die Hautfarbe der Menschen, die sie spielen. Wenn es also nur die antiessentialistische Konzeption von Rasse ist, die das Projekt des Crossover möglich macht (weil eben nur eine antiessentialistische Konzeption es einem ermöglicht, damit aufzuhören, weiß zu sein, indem man weiße Verhaltensweisen ablegt), so ist es lediglich eine essentialistische Konzeption von Rasse, die genau dieses Projekt als wünschenswert erscheinen lässt (eben weil nur eine essentialistische Auffassung von Rasse das Verhalten eines Menschen als weiß erscheinen lässt, und so zu etwas erklärt, das man ablegen kann). Obwohl das Ziel des ex-weißen Menschen, der übertritt (crosses over), grundlegend dem Ziel des ex-farbigen Menschen, der durchgeht, entgegengesetzt ist, so ist doch der Umstand, dass Menschen übertreten wollen, genauso wie die Tatsache, dass Menschen durchgehen können, als Tribut an den Essentialismus zu lesen.

In diesem Sinne ist die antiessentialistisch aufgeladene Idee von den Übergängen (dem Performativen) lediglich eine Variante des essentialistischen Denegrifizierungsserums; denn wenn Rasse eine biologische Tatsache ist, dann bedeutet ein Wechsel der Hautfarbe einen Wechsel der Rassenzugehörigkeit; und wenn Rasse eine Verhaltensweise ist, dann ist ein Wechsel des Lebensstils gleichbedeutend mit einem Wechsel der Rassenzugehörigkeit. Aber weil, wie Winant sagt, „Rasse nicht ausschließlich eine Frage der Hautfarbe ist“, kann man seine Rasse durch einen Wechsel der Hautfarbe doch nicht einfach mit verändern. Wenn Rasse, gerade weil sie zwar „nicht ausschließlich eine Frage der Hautfarbe ist“, nichtsdestoweniger immer auch eine der Hautfarbe sein muss, kann man seine Rassenzugehörigkeit auch nicht durch einen Wechsel des Lebensstils ändern. Es muss immer noch eine Frage der Hautfarbe bleiben, denn ohne den Bezug auf die Hautfarbe kann es nichts spezifisch rassisches in Bezug auf den „Lebensstil“ geben: Die Lehre vom sozialen Konstrukt mit ihrem sturen Festhalten an der Idee von den Übergängen zwischen den Rassen ist so oberflächlich wie die Haut. Sie sieht die Möglichkeit, sich für eine Lebensweise gegen die Hautfarbe zu entscheiden, nicht vor, sondern verlangt die Anpassung des Verhaltens an die Hautfarbe.

Essenz und Kultur

Das gilt auch dann, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht der rassischen, sondern, wie es heute heißt, der kulturellen Identität zuwenden. Im Vorwort zur neuesten Ausgabe von „Überlegungen zur Judenfrage“ kritisiert Michael Walzer Sartre für die Behauptung, es gebe ein „leeres Jüdischsein“ ohne religiösen oder kulturellen Inhalt. Dabei ist die jüdische Religion für Sartre vollkommen irrelevant, denn insoweit das Jüdischsein als eine Form von religiösem Glauben oder religiöser Praxis verstanden wird, ist der Jude nur soweit ein Jude, wie ein Methodist eben ein Methodist oder ein Mitglied des Elchclubs ein Elch ist. Wir brauchen kein antiessentialistisches Verständnis von Elchen; ihre Identitäten sind vollkommen performativ, was soviel heißt wie, dass sie vollkommen durch ihr Verhalten konstituiert (und eben nicht repräsentiert) sind. Aber ein Jude wird nicht auf die gleiche Weise jüdisch, wie ein Elch ein Elch wird und natürlich kann ein Jude nicht genauso aus dem Judentum austreten, wie ein Elch aus dem Elchclub.

Um es anders auszudrücken: Sartre sieht, dass Jüdischsein keine biologische Angelegenheit ist und auch nichts mit einer „metaphysischen Essenz“ zu tun hat (weshalb er die Existenz eines jüdischen Phlogistons bestreitet). Auf der anderen Seite sieht er auch, dass ein „jüdisches Prinzip“ nicht einfach durch ein Set jüdischer Verhaltensweisen ersetzt werden kann: Der Antisemit hasst, was der Jude tut nur insoweit diese Handlungen das repräsentieren, was der Jude ist. Man kann diesen Punkt allgemeiner und positiver fassen, indem man darauf hinweist, dass die Feier der Differenz im gegenwärtigen Multikulturalismus vollständig einem Verständnis der kulturellen Identität anderer Völker verpflichtet ist, die sich in ihren Handlungen äußere (und eben nicht in diesen Handlungen manifest wird). Warum sonst sollte man Handlungen und Überzeugungen nicht nur tolerieren, sondern sogar wertschätzen, die einem selbst falsch und fehlgeleitet vorkommen? Wenn man z.B. davon überzeugt ist, dass die Beschneidung von Jungen grausam und sinnlos ist, warum sollte man sie dann erlauben? Wenn man davon überzeugt ist, dass Beschneidungen von Mädchen sogar noch grausamer sind und genauso sinnlos, warum sollte man das erlauben? Diesen Praktiken wird nicht deswegen Wertschätzung entgegengebracht, weil sie einem an sich wertvoll erscheinen, sondern weil sie Identitäten repräsentieren, die einem wertvoll erscheinen. Dieselbe Unterscheidung zwischen der Identität und den Handlungen einer Person, die das Passieren möglich macht, lässt die Feier der multikulturalistischen Differenz erst einleuchtend erscheinen. Und wenn, wie ich bereits dargelegt habe, Passieren eine Form von Zugeständnis an den Essentialismus ist, so gilt das auch für das Zele­brieren kultureller Differenz – denn nur unter der Voraussetzung, dass diese Differenz essentiell ist, kann sie auch gefeiert werden.

Sartre hat also nicht nur recht, wenn er darauf insistiert, dass der Jude nicht wegen seines jüdischen Körpers oder seiner jüdischen Seele Jude ist, sondern auch mit seiner Behauptung, dass wenn sich einer jüdisch verhält, ihn das noch nicht zum Juden macht. Aber wenn es weder einen jüdischen Körper, noch eine jüdische Seele, noch spezifische jüdische Verrichtungen gibt, was bleibt dann? „Wir müssen uns jetzt“, sagt Sartre, „die Frage stellen: existiert der Jude überhaupt?“ Der Liberale beantwortet die Frage, wie wir gesehen haben, mit nein. Aber die Antwort des Liberalen kann nicht akzeptiert werden, weil der Liberale auch (und aus den gleichen Gründen) die Existenz der Arbeiter leugnet. Die Analogie zwischen dem Juden und dem Arbeiter ist problematisch, weil der Arbeiter, der viel Geld spart und sich selbst eine Fabrik kauft, zum Kapitalisten wird und aufhört, Arbeiter zu sein, wohingegen der Jude – indem er z.B. zum Katholizismus konvertiert – nicht aufhören kann, Jude zu sein. Die Tatsache, dass Arbeiter existieren, bedeutet nicht, dass Juden auch existieren müssen. Und dennoch beharrt Sartre darauf, dass der Jude existiert. In einer berühmten Passage, die sich wie die Grundformel der Lehre vom sozialen Konstrukt liest, hält Sartre fest, dass der Jude nicht jemand ist, der einen jüdischen Körper oder Seele oder Religion oder Kultur hat: „Der Jude ist jemand, der von anderen als Jude gesehen wird.“

Als Jude zu gelten macht also die „Situation“ des Juden aus. Der Jude ist natürlich nicht allein in einer Situation; im Gegenteil, jeder ist in irgendeiner Situation; irgendein „Ensemble von Grenzen und Restriktionen“ „formt“ jeden und „entscheidet“ über seine „Möglichkeiten“. Aber nicht alle Situationen sind gleich, und nicht jeder geht mit der jeweiligen Situation auf die gleiche Art und Weise um. Der Jude hat zwei Wege, damit umzugehen. Eine Option besteht darin, „aus der Situation zu flüchten“. Der „nicht authentische Jude“ bestreitet sein Jüdischsein entweder, indem er bestreitet, selber Jude zu sein, oder indem er bestreitet, dass es überhaupt Juden gebe – das tut er, indem er sich „eine Auffassung der Welt zu eigen macht, die die Vorstellung von Rasse ausschließt.“ Der authentische Jude hingegen akzeptiert nicht nur das Jüdisch­sein, das ihm die Welt aufzwingt, sondern er selbst wählt dieses Jüdischsein; wenn die Ablehnung von Authentizität darin besteht, „die eigene Bedingung als Jude“ „zu bestreiten oder zu versuchen, vor ihr zu flüchten“, dann bedeutet „Authentizität […] sie voll auszuleben.“ Der authentische Jude „besteht auf seinem Anspruch“ als Jude.

Aber welchen Anspruch hat der Jude als Jude? Der nicht authentische Jude behauptet, ein Mensch wie jeder andere auch zu sein, aber es ist genau dieser Universalismus, der ihn nicht authentisch macht. Der authentische Jude auf der anderen Seite „verabschiedet den Mythos vom universellen Menschen“ und ersetzt ihn durch einen „gesellschaftlichen Pluralismus“. Aber wie wir bereits gesehen haben, darf man diesen Pluralismus nicht als einen missverstehen, der die jüdische Kultur wertschätzen würde. Es gibt keine jüdische Kultur, denkt Sartre, was soviel heißt wie, weil der assimilierte Jude jüdisch bleibt, kann es nicht seine Kultur sein, die ihn jüdisch macht – und wenn der Antisemit jemanden einen Juden nennt, ist es dessen „Essenz“, nicht seine Kultur, die er benennt. Wenn also Jude-Sein lediglich bedeutet, als Jude bezeichnet zu werden, dann kann der Anspruch, Jude zu sein – der Anspruch, das zu sein, als das man bezeichnet wird – kein Anspruch auf Kultur sein; es kann nur ein Anspruch auf diese Essenz sein.

Der Vorteil von Sartres Analyse besteht darin, dass sie die Unmöglichkeit verdeutlicht, die Vorstellung von Essenz auf Identität zu reduzieren. Insoweit es die „Situation“ des Juden ist (und zwar nur die Situation), die sein Jüdischsein auf ihn überträgt, wird das Jüdische ohne Bezug auf die Essenz definiert. Aber der Jude findet sich in einer Situation wieder, in der ihm eine jüdische Essenz zugeschrieben wird (so geschieht es bei den Antisemiten, aber die theoretische Position wäre allerdings die gleiche, wenn diejenigen, die einen Juden zum Juden machen, indem sie ihn als solchen betrachten, Juden mögen würden) und daher macht sich der authentische Jude auch selbst authentisch, indem er genau die Situation wählt, in die ihn der Antisemit gebracht hat. Der authentische Jude macht sich authentisch, indem er eben die Essenz wählt.

Feindlich gegen die Idee von Identität

Unter Bezugnahme auf Sartres berühmte Darstellung des Kellners auf den ersten Seiten von „Das Sein und das Nichts“, meinte vor kurzem Anthony Appiah (in „Colour Conscious“), es sei sinnlos, den Kellner zu fragen, was man „den Schwarzen und den Weißen, den Homo- und den Heterosexuellen“ durchaus fragen kann – nämlich ob er „wirklich“ der Kellner „ist“. Um es mit den Worten zu formulieren, die wir an der Auseinandersetzung mit den „Überlegungen zur Judenfrage“ gewonnen haben, liegt das daran, dass der Kellner mehr einem religiösen Juden (oder einem Elch) gleicht, als einem durch einen Antisemiten identifizierten, rassifizierten Juden. Appiah schreibt: „Es kann eine Lücke auftreten zwischen dem, was eine Person […] ist und der rassischen Identität, die sie darstellt.“ Aus diesem Grund könne rassische Identität – im Gegensatz zu religiöser oder beruflicher Identität – nicht einfach als „das Spielen“ einer „Rolle“ verstanden werden. Diese Lücke, hält Appiah fest, „macht das Passieren möglich“ und wenn, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit des Passierens konstitutiv für rassische Identität ist, dann ist rassische Identität, so schreibt Appiah, „in dieser Hinsicht wie alle großen Formen der Identifizierung, die im Zentrum gegenwärtiger Identitätspolitiken stehen: weiblich und männlich, schwul, lesbisch und hetero, schwarz, weiß, gelb […] selbst wie die am meisten vernachlässigte aller amerikanischen Identitäten, Klasse.“

Aber bis zu welchem Ausmaß ist schwul oder hetero zu sein das gleiche wie schwarz oder weiß sein? In welchem Ausmaß ist die Zugehörigkeit zur Mittel- oder Arbeiterklasse das gleiche wie schwarz oder weiß sein? Die Aussage, dass schwule Männer als Heteros durchgehen können macht sicherlich Sinn – jedenfalls insoweit als ein schwuler Mann sich heterosexuell verhalten kann, ohne dadurch heterosexuell zu werden. Und doch ist diese Aussage nur sehr eingeschränkt sinnvoll. Ein schwuler Mann kann als heterosexuell durchgehen, indem er sich wie ein Heterosexueller verhält, aber ein Schwuler, der sich nicht nur wie ein Heterosexueller verhalten, sondern auch begehren würde, was heterosexuelle Männer begehren und sich selbst für heterosexuell halten würde, der ginge nicht länger als heterosexuell durch, er wäre heterosexuell. Schwules Verhalten repräsentiert nicht die eigene Sexualität, es determiniert sie. Ontologisch gesehen ist ein schwuler Mann wie ein religiöser Jude. Und was in Bezug auf Religion und Sexualität zutrifft, gilt umso mehr für Klasse. Der Kellner, der seine Trinkgelder spart und das Café kauft, ist kein Angehöriger der Arbeiterklasse, der als Kleinbürger durchgeht – er ist ein Kleinbürger. Obwohl es keine ex-weißen oder ex-schwarzen Menschen gibt, kann es durchaus ex-heterosexuelle oder ex-schwule Menschen geben, und es gibt definitiv ehemalige Kellner und ehemals religiöse Juden.

Rasse ist daher nicht wie Klasse und die Gründe des Juden, sich der Rasse zu entledigen sind nicht dieselben, wie die des Sozialisten, die Klasse loszuwerden: der nicht authentische Jude, der auf ein Ende der rassischen Differenz hofft, tut das nicht, weil sie ungerecht ist, sondern weil sie unwirklich ist. Was der nicht authentische Jude und der Sozialist in der Tat gemeinsam haben, ist ihre Feindschaft gegen die ganze Idee von der Identität; ihre Feindschaft richtet sich gegen die Idee, ihre Körper, Überzeugungen und Verhaltensweisen würden nicht etwa determinieren, sondern vielmehr repräsentieren, was sie sind. Der nicht authentische Jude drückt diese Abneigung dadurch aus, dass er bestreitet, Jude zu sein – da sein Körper nicht jüdisch sei und er nicht an die jüdische Religion glaube. (Wenn es keine Essenzen gibt, gibt es keine Identitäten.) Der Sozialist drückt seine Abneigung auf die nämliche Art und Weise aus – indem er die Welt nicht in Juden und Arier und Schwarze und Weiße aufteilt, sondern in Arbeiter und Kapitalisten. Im Besitz der Produktionsmittel zu sein, repräsentiert keine Identität, es konstituiert sie.

Es ergibt also keinen Sinn, vom Kapitalisten oder vom Arbeiter zu verlangen, was Sartre vom Juden verlangt – dass er seinen Anspruch, Jude zu sein bekräftigt und Anerkennung für das einfordert, was er ist. Als Kapitalist oder Arbeiter hat man keinen solchen Anspruch; der Anspruch des Arbeiters beruht auf dem, was er tut (das ist schließlich der Grund, weshalb man ihn Arbeiter nennt). Es ergibt also durchaus Sinn, Klasse als gesellschaftliche Konstruktion zu verstehen, weil es überhaupt keinen Sinn ergibt Klasse als eine Identität aufzufassen – sie wird allein durch das bestimmt, was man tut. Ebenso macht es keinerlei Sinn, Rasse (im Sinne von Jüdisch-, Schwarz- oder Weißsein) als eine gesellschaftliche Konstruktion aufzufassen, mit der Begründung, rassische Identität sei nicht auf Handlung zurückzuführen. Identität, die nicht auf Handlung zurückgeführt werden kann, ist essentiell, nicht gesellschaftlich konstruiert, und Identität, die identisch mit der Handlung ist, ist keine wirkliche Identität – sie ist lediglich der Name für die jeweilige Tätigkeit: Arbeiter, Kapitalist. Wenn man aus diesem Grund nicht an rassische Identität als einer Essenz glaubt, kann man auch nicht an rassische Identität im Sinne einer gesellschaftlichen Konstruktion glauben, und deshalb sollte man die Vorstellung einer rassischen Identität insgesamt aufgeben – man sollte wie der nicht authentische Jude bestreiten, dass es Juden, Schwarze oder Weiße gibt.

Der Rassenverräter hingegen, der bestreitet, dass er weiß ist, bestreitet jedoch nicht, dass es so etwas wie Weiße oder Schwarze gibt. Im Gegenteil: „Ich bin schwarz und ich bin stolz!“ gilt Ignatiev als „die moderne Neuauflage von `Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!`“ Das Projekt des Rassenverrats verhandelt Rasse „wie Klasse“, indem es Klasse in Rasse, d.h. die Beziehung zu den Produktionsmitteln in eine Identität und die Abschaffung des Privateigentums in die Abschaffung des Weißseins verwandelt. Wenn ökonomische Ungleichheit das Problem ist, dann könnte Sozialismus die Lösung sein; wo Weißsein das Problem ist, ist Schwarz­sein die Lösung. Deshalb wird heute behauptet, die „vielen Fehlschläge“ Amerikas seien „weitgehend dem Unwillen der sogenannten Weißen“ zuzuschreiben, die „Präsenz der Afro-Amerikaner zu begrüßen“ und zwar ohne jede „Qualifizierung“. In dem Maße, wie Identität Theorie ersetzt, wird der Weg, diese Fehlschläge zu korrigieren darin liegen, dass man anerkennt, wie viel „der besondere Charakter Amerikas der Präsenz der Afro-Amerikaner verdankt.“ Ignatiev hält mit Erstaunen und Zustimmung die Beobachtung des Kolumnisten George Will fest, der zufolge Schwarze die „talentiertesten Basketballspieler“ seien, weil Basketball die „amerikanischste aller Sportarten“ sei und schwarze Menschen die „amerikanischsten aller Amerikaner“ seien. Er stimmt Wills Bemerkung zu, weil sie die „Präsenz“ von Schwarzen wertschätzt; und er ist überrascht, dass Will „konservativ“ ist. Aber wenn „Ich bin schwarz und Ich bin stolz!“ die „moderne Neuauflage von `Pro­letarier aller Länder, vereinigt Euch!`“ sein kann, dann kann auch die Feindschaft gegen das Privateigentum durch den Stolz auf Michael Jordan ersetzt werden, dann muss aber auch neu bestimmt werden, warum George Will „konservativ“ ist (und die Rassenverräter es nicht sind).

Der „subversivste Akt, den ich mir vorstellen kann“, hält Ignatiev fest, „ist der Verrat an der weißen Rasse.“ Das damit zum Ausdruck gebrachte Versagen politischer Vorstellungskraft ist wohl offensichtlich. Aber der entscheidende Punkt meiner Ausführungen bestand nicht darin, aufzuzeigen, welche unangenehmen politischen Konsequenzen sich ergeben könnten, wenn man nach einem Weg sucht, ein Ex-Weißer zu werden; vielmehr ging es darum, die Unmöglichkeit darzustellen ein Ex-Weißer zu sein. Wenn es so etwas wie Weißsein gibt und man ist weiß, kann man nicht aufhören, weiß zu sein, gibt es Weißsein jedoch nicht, kann man auch nicht aufhören, weiß zu sein. Aber Weißsein ist nicht – wie die Klasse – eine gesellschaftliche Konstruktion, es ist stattdessen – wie das Phlogiston – ein Irrtum.

Walter Benn Michaels (Bahamas 56/2008)

 

 

„Biographie of an Ex-Withe Man“ erschien zuerst in: Transition, No. 73 (1997), S. 122–143

 

Übersetzung Philippe Witzmann

Dank an Justus Wertmüller, Katharina Rettelbach und Sascha Becker für Hinweise und Anregungen.