Rezension

Dies ist zur Ergänzung meiner demnächst in den "Jahresberichten der DMV" erscheinenden Rezension gedacht.

Laurence E. Sigler, Fibonacci's Liber Abaci. A Translation into Modern English of Leonardo Pisano's Book of Calculation. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York 2002

Die Einleitung des zu besprechenden Buches machte auf mich einen merkwürdigen Eindruck, nämlich den, dass ihr Schreiber zwar sehr viele Detailkenntnisse besaß, dass er sie aber aus zweiter Hand hatte und sie dichterisch frei interpretierte. Da auf der vierten Seite der Titelei vermerkt ist, dass Laurence E. Sigler nicht mehr lebt, dachte ich, dass möglicherweise nicht er, sondern ein Dritter die Einleitung geschrieben hätte. Recherchen führten mich zu Mark Spencer vom Springer Verlag New York, der sich seinerseits mit der Witwe Siglers, Judith M. Sigler, in Verbindung setzte. Ihre Aussagen: Laurence Sigler starb am 23. Oktober 1997. Er hatte die Übersetzung des liber abbaci und auch die Einleitung zu seiner Übersetzung selbst fertig gestellt. Kleinere redaktionelle Änderungen wurden von ihr, der Witwe, noch vorgenommen, wie sie auch das Literaturverzeichnis noch ergänzte. Die TeXnisierung des Textes wurde von Mitgliedern des Department of Mathematics der Bucknell University durchgeführt. - Ich hätte mir gewünscht, dass der Springer Verlag diese Informationen dem Buche mitgegeben hätte.

Hier zunächst ein paar Worte zur Einleitung.

"Bugia, eine von der Stadt Pisa gegründete Handelsenklave an der Nordküste Afrikas." Wie kommt Sigler auf diese Idee? Von der Stadt Pisa gegründet? Was Edrisi im 12. Jahrhundert zu Bougie (= Bugia = Bejaia) schreibt, kann man in meiner Übersetzung der französischen Übersetzung des ursprünglich arabischen Textes in meinem "Lesevergnügen" auf S. 34 f. nachlesen.

Was wir von Leonardos Leben wissen, wissen wir, von einem Dokument der Stadt Pisa abgesehen, nur aus Leonardos Schriften. Es ist also nicht sonderlich schwierig, sich einen Überblick über diese Informationen zu verschaffen. Sigler sagt nun:

"Auf Handelsreisen entwickelte er sich weiter als Mathematiker." Von Handelsreisen ist aber nirgendwo die Rede. Leonardo schreibt hingegen, dass er zu vielfältigen Studien Reisen zu den Handelsplätzen Ägyptens, Syriens, Griechenlands, Siziliens und der Provence gemacht habe. "Zu welchem Zweck sollte er sonst dort hingereist sein, wenn nicht zum Handel?", werde ich immer wieder gefragt. "Zu welchem Zweck sind Adelard von Bath, Gerhard von Cremona und viele andere im 12. Jahrhundert nach Spanien gereist?", frage ich zurück.

"Er nahm teil am akademischen Hof Friedrichs II." Das ist mir zu vage. Er hatte Kontakte zum Hofe Friedrichs II. Zu Beginn des liber abbaci wird ein solcher Kontakt als brieflich erkennbar und im liber quadratorum sagt Leonardo, dass er Friedrich II. bei dessen Besuch in Pisa vorgestellt wurde. Es gibt noch weitere Einzelheiten. So werden Namen genannt, doch, ob es neben den Begegnungen in Pisa weitere Begegnungen Leonardos mit Personen vom Hofe Friedrichs gab - von Angesicht zu Angesicht, meine ich -, ist nicht bekannt.

"Leonardo entschloss sich, dem populo latino die beste Mathematik der Welt in einer brauchbaren Form nahe zu bringen." Sigler übersetzt populus latinus mit "Italian people". Nach allem, was meine Wörterbücher hergeben, ist das zu eng und gleichzeitig zu weit gefasst.

Sigler preist den liber abbaci. Doch sein Lobpreis ist falsch gegründet, wenn er sagt, dass allgemeine Methoden etabliert werden, indem Leonardo die geometrische Algebra benutze, die in der Hauptsache in Buch II der Elemente zu finden sei. Gerade das tut Leonardo nicht. Wenn Euklid in Buch X mühsam die Existenz gewisser Strecken nachweist, die gegenüber einer gegebenen Anfangsstrecke ein gewisses Irrationalitätsverhalten aufweisen, schreibt Leonardo Zahlen hin und macht damit die Existenz gewisser Irrationalitäten klar. Ich habe Buch X in einer Vorlesung vorgetragen, und bin etwa ein Drittel des Weges Euklid gefolgt, um dann Leonardos algebraische Methoden zu benutzen, worauf meine Hörer sichtlich erleichtert waren. - Primzahlen hießen deshalb Primzahlen, so Leonardo, weil sie von keiner kleineren Zahl als der Eins gemessen oder gezählt würden. Sigler ersetzt hier das "gemessen oder gezählt würden" durch "keine kleinere Zahl außer der Eins zum Faktor hätten". In der Anmerkung 8 zu Kapitel 5 rechtfertigt er dies damit, dass der moderne Term "Faktor" besser zur algebraischen Natur von Leonardos Werk passe als das euklidische "messen". Was gilt nun, geometrische Algebra oder Algebra schlechthin?

Was Sigler über die Fingerzahlen sagt, ist richtig. Sie werden von Leonardo benutzt, um Überträge bei Rechnungen festzuhalten. Wenn man aber bedenkt, dass die linke Hand gestattet, alle Zahlen von 1 bis 99 darzustellen, so fragt man sich, ob die Mühe sich lohnt, die Fingerzahlen zu lernen und vor allem zu üben, um sie sicher und schnell zu beherrschen, kommen bei den üblichen Verfahren doch nur Überträge vor, die kleiner als 9 sind. Hier hätte ich mir einen Hinweis darauf gewünscht, dass Leonardo neben unserem Multiplikationsalgorithmus noch einen zweiten Algorithmus hat, bei dem die Zahlen als Polynome in Potenzen von 10 aufgefasst werden, so dass die Multiplikation sich als Faltung von Polynomen darstellt, bei der aber Überträge entstehen, die sehr bald schon größer als 8 sind. Andererseits bleiben die Überträge unter 100, solange die (zwei) Faktoren höchstens 11-stellig sind. Sigler sagt stattdessen, dass die Algorithmen für die vier Grundrechenarten, sich so wenig von den unseren unterschieden, dass es sich nicht wirklich lohne, darauf näher einzugehen. Der Leser sehe selbst, so Sigler.

"Die Null dient als Platzhalter." Auch das ist mir zu wenig. Leonardo nennt die Null Zahl und er behandelt sie als solche. Die indische Art, Zahlen darzustellen und schriftlich mit ihnen zu rechnen, erzwingt, dass man die Null als Summanden, als Faktor und als Ergebnis, bzw. Zwischenergebnis, dh. als Zahl in diesen Rechnungen akzeptiert. Ja, Fibonacci benutzt sogar führende Nullen, um bei seinem unorthodoxen (sic) Multiplikationsalgorithmus eine drei und eine sechsstellige Zahl gleich lang zu machen. Das wird von Sigler bemerkt, er zieht aber keine Schlüsse daraus. Näheres zum Zahlenbegriff in Leonardos liber abbaci in meiner Arbeit "On the notion ..."

"Leonardo macht häufigen Gebrauch von negativen Zahlen im liber abbaci." Negative Zahlen kommen im liber abbaci als Lösungen linearer Probleme in Form von Schulden vor. Eine negative Zahl als solche kommt hingegen nur ein einziges Mal vor. Es geht dabei um eine Approximation der Kubikwurzel aus 900. Leonardo erhält zunächst die Approximation 9 + 171/271. Dann sagt er, dass 171/271 nur wenig kleiner sei als 2/3, und rechnet mit 9 + 2/3 weiter. Diese Approximation ist zu groß, so dass er im nächsten Schritt eine negative Zahl erhält, mit der er korrekt weiter rechnet.

Sigler schließt aus dem Namen Maumeht, der sich auf dem Rande des Manuskriptes findet, dass Leonardo die dort entwickelte Theorie der quadratischen Gleichungen "klar" Al-Hwarizmi zuschriebe. Das erscheint mir kühn. Fibonacci zitiert nämlich fleißig: Neunmal Euklids Elemente, häufig unter Angabe des Buches. Er zitiert den Almagest des Ptolemaios und das Buch über Proportionen des Ahmad ibn Yussuf, ferner seinen liber quadratorum und einen liber minoris guisae, den er geschrieben habe und der heute verloren ist. Er nennt die Araber und die Griechen als Quelle und das alles im Text. Mir erscheint viel wahrscheinlicher, dass ein Benutzer des Buches den Namen auf den Rand geschrieben hat. Man müsste die Handschriften vergleichen und auch die verschiedenen Kodices.

Da Größen damals immer positiv waren, gibt es sechs Standardformen für quadratische Gleichungen. Sigler sagt nun, dass nur positive Lösungen als Lösungen akzeptiert wurden, dass sich Leonardo aber völlig klar darüber war, dass quadratische Gleichungen zwei Lösungen haben können. Das erweckt einen falschen Eindruck. Einer der sechs Typen hat in unserer Schreibweise die Form x^2 + q = px, wobei p und q positiv sind. Eine solche Gleichung hat entweder keine reelle Lösung oder eine doppelte, oder zwei positive. Dies ist, was Leonardo - in seiner Sprache, versteht sich - notiert.

Es gäbe eine Reihe von Manuskripten des liber abbaci und Boncompagni hätte sie sich alle angesehen, während er den endgültigen Text vorbereitete. Dieser Text sei komplett und unzweideutig. Boncompagni beschreibt alle noch bekannten Kodices des liber abbaci. Was er aber 1857 herausgibt, ist keine kritische Edition, wie Siglers Bemerkung suggeriert, sondern der Text des umfangreichsten der Kodizes. Darauf bezieht sich wohl das "komplett". Was das "unzweideutig" soll, ist mir rätselhaft.

Sigler schreibt, dass der boncompagnische Text viele Fehler enthielte, dass der Leser sie aber leicht korrigieren könne. Die beiden Fehler, die mir noch in Erinnerung waren, wurden von Sigler stillschweigend korrigiert. Ich fürchte, er hat alle ihm bekannt gewordenen stillschweigend korrigiert. Die vielen Fehler, die mir vor Jahren aufgefallen waren, habe ich mit dem Original verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass etwa die Hälfte dieser Fehler sich schon im Original findet.

In der Einleitung wird auch gesagt, dass Leonardo eine erste Version des liber abbaci im Jahre 1202 und die zweite im Jahre 1228 schrieb. Sigler erwähnt nicht, dass wir von der ersten Version kein Exemplar mehr haben. Die zweite scheint aber gegenüber der ersten erheblich umgearbeitet zu sein. Erstens sagt Leonardo in der Einleitung der zweiten Version, dass er sie umgearbeitet habe, zum andern deutet der Text der flos darauf hin, dass er das zehnte Buch Euklids erst nach Friedrichs II. Besuch in Pisa studiert hat. Anlass war eine Aufgabe, die ihm im Beisein Friedrichs gestellt wurde, die Lösung einer bestimmten Gleichung dritten Grades zu finden. Er versuchte zunächst herauszufinden, ob eine der euklidischen Irrationalitäten Lösung dieser Gleichung sei. Die Antwort lautet, nein, wie er nach intensivem Studium von Buch X herausfand. Es ist also anzunehmen, dass die Entwicklungen zu Buch X im liber abbaci in der ersten Version, die ja lange vor Friedrichs Besuch in Pisa entstanden war, noch nicht enthalten waren. In der flos sagt Leonardo auch, dass er die Ergebnisse von Buch X auf die Mathematik (im Gegensatz zur Geometrie. Anm. HL) zurückführen wolle, die bei Euklid nämlich mittels Strecken und Flächen durchgeführt sei. Er hat also bewusst keine geometrische Algebra betrieben.

Einen mittellateinischen Text von 459 Seiten zu übersetzen, ist eine gewaltige Arbeit. Allein um diesen Text zu studieren, brauchte ich einst vier Jahre. Ihn zu übersetzen, hätte ich mir nie zugetraut. Auch Sigler scheint mit dem Übersetzen überfordert gewesen zu sein. Ob "Book of Calculations" als Übersetzung von liber abbaci wirklich das Gemeinte trifft, wage ich nicht zu entscheiden, dafür kann ich nicht genug Englisch. Ich übersetze liber abbaci immer mit "Buch der Rechenkunst", wobei mir klar ist, dass dies auch nur annähernd das trifft, was sich dahinter verbirgt. Leonardo spricht vom liber abbaci auch als von dem liber de numero, und wenn man sich mit Leonardos Werk beschäftigt, so wird einem mit der Zeit gewiss, dass Leonardo mit abbacus und numerus die Mathematik der damaligen Zeit mit Ausschluss der Geometrie meint. Dafür gibt es aber im Englischen und im Deutschen kein einzelnes Wort. Die Bedeutung des italienischen Wortes abbaco, über die sich Sigler in der Einleitung auslässt, ist gegenüber Leonardos Benutzung von abbacus wiederum eingeschränkt. An solch einer kritischen Stelle hätte ich mir einen Hinweis auf die Übersetzungspraxis gewünscht.

In diesem Zusammenhang ist gut zu wissen, dass der Plural numeri auch im Altertum schon im Sinne von "Mathematik" benutzt wurde.

Die Übersetzung des ersten Satzes ist völlig daneben gegangen. Der lateinische Text lautet:

Scripsistis mihi domine mi meus magister Michael Scotte, summe philosophe, vt librum de numero, quem dudum composui, uobis transcriberem: vnde uestrae obsecundans postulationi, ipsum subtiliori perscrutans Indagine ad uestrum honorem et aliorum multorum utilitatem correxi.

Hier die Übersetzung von L. Sigler.

You, my Master Michael Scott, most great philosopher, wrote to my Lord about the book on numbers which some time ago I composed and transcribed to you; whence complying with your criticism, your more subtle examining circumspection, to the honor of you and many others I with advantage corrected this work.

Zum "Lord" wird angemerkt, dass es sich um Friedrich II. handele. Es wird nicht bemerkt, dass mit librum de numero der liber abbaci gemeint ist.

Was nun den "Lord" anbelangt, so kann er nur von domine herrühren. Dann müsste dieses Wort ein Dativ sein. Dies ist im Prinzip möglich, findet sich doch in Texten der damaligen Zeit die Endung -ae häufig als -e wiedergegeben. Doch dominae wäre weiblich. Nein, domine ist der Vokativ von dominus, bezieht sich also auf Michael Scottus. Ist dies erst klar, muss man bei der weiteren Übersetzung keine Verrenkungen mehr machen. Die Übersetzung muss lauten:

Sie schrieben mir, mein Herr und Lehrer Michael Scottus, vorzüglichster Philosoph, dass ich Ihnen das Buch über Mathematik (nämlich den liber abbaci. HL), welches ich vor langer Zeit verfasst habe, abschreiben möge. Ihrer Aufforderung (nämlich das Buch abzuschreiben. HL) Folge leistend habe ich es zu Ihrer Ehre und zum Nutzen vieler anderer auf der Grundlage subtiler Forschungen korrigiert.

Unser Wort "Figur" hat nicht mehr die Bedeutung von "Ziffer", die es zu Adam Riesens Zeiten neben anderen Bedeutungen noch hatte. Im Englischen ist diese Tradition ungebrochen. Wenn ich also Ziffer sage, so ist, was das Englische anbelangt, "figure" zu denken.

Leonardo erklärt als Erstes die Ziffernschreibweise. Dabei spricht er von den Ziffern einer Zeichenkette als von den Ziffern ersten, zweiten, usw. Grades, wobei die Grade der Ziffern von rechts nach links steigen. Die Einerziffer ist also die Ziffer ersten Grades, die Zehnerziffer die Ziffer zweiten Grades, usw. Sigler übersetzt nun das lateinische gradus nicht mit degree, wie ich erwartete, sondern mit place. Damit wird der Sachverhalt zwar richtig wiedergegeben, doch eine Nuance verschenkt, die es lohnt, bewahrt zu werden, zumal im 16. Jahrhundert Pietro Cataneo das Wort grado immer noch in diesem Sinne verwendet (la figura del primo grado). Schlimm aber ist, dass Sigler die Bedeutung des Wortes adcentare (= mit einem Akzent versehen) nicht erkennt. Es geht dabei um das Lesen von vielstelligen Zahlen. Leonardo empfiehlt zwei Möglichkeiten - von denen hier nur eine interessiert -, die Ziffern in Gruppen zu Dreien zu gruppieren. Die eine ist die, die dritte, sechste, neunte, usw. Ziffer oben und die vierte, siebte, zehnte, usw. unten mit einem Akzent zu versehen. Der lateinische Text lautet im Ausschnitt:

De tertia que erit in tertio gradu, dicat centum, et adcentet eam in superiori parte.
De quarta namque figura eiusdem numeri, dicat mille, et adcentet eam in inferiori.

Sigler übersetzt:

Of the third that will be in the third place, one says one hundred, and adjoins it to the higher part.
Of the fourth figure of the number, one says thousand, and one adjoins it to the lower part.

Diese beiden Sätz sind syntaktisch korrekt. Ergeben sie aber auch einen Sinn? "The Shorter Oxford English Dictionary" gibt für "to adjoin" keine Bedeutung, die der Bedeutung von adcentare in irgendeiner Weise nahe käme.

Eine Stelle voller Charme des liber abbaci ist die Stelle, wo es heißt, man solle sich, wolle man die Unkosten der Schiffe oder dergleichen wissen, die Posten vom camerarius, dem scriba oder dem renuntiator diktieren lassen, usw. Vor mehr als zehn Jahren habe ich mit dem Mediævisten Arno Borst aus Konstanz darüber gerätselt, was mit diesen lateinischen Namen für Berufe gemeint seien. Wir kamen zu keinem Ergebnis, so dass ich die lateinischen Namen stehen ließ. Sigler übersetzt diese Wörter der Reihe nach mit "waiter", "sribe" und "announcer". Die Bedeutung von scribe ist im Zusammenhang mit der Bibel "Schriftgelehrter" und in anderen Zusammenhängen "Schreiberling". Diese Übersetzungen aus dem Wörterbuch des kleinen Mannes wurden mir von einem kalifornischen Franziskaner bestätigt, der sich mit mittelalterlichen mathematischen Texten auskennt. Scribe ist also sicher keine glückliche Übersetzung, wenn man sie vielleicht auch mit dem Lexikon "The Shorter Oxford English Dictionary" stützen kann. Dann wäre die Übersetzung aber keine "into modern English".

Für camerarius finde ich im Niermeyer die Bedeutungen (ich unterdrücke das Französische) 1. valet, Kammerdiener 2. household officer, Verwalter. Alle anderen Bedeutungen, die das Wörterbuch liefert, betreffen öffentliche Ämter oder Ämter in Klöstern. Ist also camerarius mit waiter gut übersetzt?

Die Übersetzung von renuntiator mit announcer ist korrekt. Ist sie aber auch sinnvoll? Nachrichtensprecher und Programmansager sind announcer. Doch hier ist vom Kontor des Großhandelskaufmanns die Rede. Ich hätte mir hier einen Hinweis gewünscht, dass man von mittelalterlichen, nicht-öffentlichen und nicht-handwerklichen Berufen kaum etwas weiß und dies umso weniger, je weiter man zurückgeht.

Leonardo gibt einen Algorithmus an, den größten gemeinsamen Teiler zweier Zahlen auszurechnen. Er ist in Siglers Übersetzung auf den Seiten 82/83 zu finden, in der vorletzten Zeile von 82 beginnend. Sigler behauptet in seiner Anmerkung, dass hier der euklidische Algorithmus vorläge, wie wir ihn heute kennen. Das habe ich in meinem "Lesevergnügen" auch behauptet. Ein Leser des Buches, der das dort angeführte lateinische Zitat sorgfältig gelesen hatte, machte mich darauf aufmerksam, dass man das nicht sagen könne. Der Text ist in der Tat zu vage und die Beispiele, die Leonardo rechnet, erreichen den ggT zu schnell, als dass man von den Beispielen her argumentieren könnte. Ich habe den boncompagnischen Text dieser Stelle mit der entsprechenden Stelle des Kodex verglichen, der in der vatikanischen Bibliothek liegt. Die Texte sind fast identisch, so dass eine Entscheidung nicht möglich ist. Man kann diesen Algorithmus auch als eine Mischung aus dem euklidischen und dem binetschen Algorithmus interpretieren. Dann liefert er nicht immer im ersten Anlauf den ggT, benötigt vielmehr ggf. noch weitere Durchläufe. Was jedenfalls gesichert ist, ist, dass Leonardo die Division mit Rest bei der Bestimmung des ggT's benutzt. - Luca Pacioli, der sich dreihundert Jahre später noch der gleichen Stilmittel wie Leonardo bedient, beschreibt unzweideutig den Algorithmus, den wir heute euklidisch nennen.

Eine Regel, die ich im altsprachlichen Unterricht auf der Schule lernte, ist die Regel, dass man ein Wort in gleichem Kontext immer mit dem gleichen Wort übersetzt. Sigler verstößt gegen diese Regel. So bei der Einführung der indischen Ziffern. Dort benutzt Leonardo häufig das Wort gradus als einen Terminus technicus. Sigler übersetzt dieses Wort zunächst mit step und später mit place, wie schon bemerkt. In diesem Zusammenhang übersetzt er decuplare das ist "verzehnfachen" an zwei Stellen mit to join, was einen sinnleeren Text ergibt. Leonardo sagt an dieser Stelle, dass sich der Wert einer Ziffer von Stelle zu Stelle decupliert, also verzehnfacht.

Ein weiterer Verstoß gegen diese Regel auf den Seiten 430 und 431 seines Buches. Dort stehen hintereinander zwei Aufgaben, wo im lateinischen Text jeweils ein anulus, ein Ring also, der an irgendeinem Körperteil verborgen ist, aufgefunden werden soll. Die Körperteile sind nummeriert und die Nummer des Körperteils, wo sich der Ring befindet, wird arithmetisch bearbeitet und dann das Ergebnis bekanntgegeben. Aus diesem Ergebnis kann man die Hausnummer des Ortes, wo sich der Ring befindet, berechnen und damit den Körperteil identifizieren. Das Wort anulus übersetzt Sigler bei der ersten Aufgabe mit ring bei der andern mit circle.

Die beiden Aufgaben sind auch wichtig als Beleg - es ist nicht der einzige - für die Interpretation von abbacus und numerus als Mathematik mit Ausschluss der Geometrie. Bei der ersten Aufgabe muss nämlich einer ran, qui plus sciat de numero, und bei der zweiten einer, qui magis sciverit de abbaco. Sigler kommentiert dies nicht.

Ich habe natürlich nicht den ganzen Text gelesen. Ich habe vielmehr die Stellen aufgesucht, die mir als kritisch in Erinnerung waren. Diese zu finden, halfen die im Text verstreuten Seitenangaben wie [p63]. Sie sind sehr nützlich. Es wäre aber besser gewesen, sie auf dem Rand oder in der Fußzeile unterzubringen, da sie im Text für einen alten Mann mit schlechten Augen nur schwer auszumachen sind.

Die Gestaltung lässt auch an anderer Stelle zu wünschen übrig. Die Kursive ist merkwürdig unausgewogen. Ich dachte zunächst, dass sie durch den Mathematikmodus erzwungen sei, doch Proben, die ich machte, zeigten mir, dass dies nicht der Fall ist. Nachmessen ergab, dass die Schrifthöhe im Fließtext neun Punkt beträgt. Die Schrift scheint also verkleinert worden zu sein. Das bekommt insbesondere der Kursive nicht, da die Buchstaben beim Verkleinern im Verhältnis zur Höhe dicker werden müssten. Dieses Verkleinern ist insbesondere den Diagrammen nicht bekommen, von denen viele als Marginalien erscheinen. Hier ist der Verlag in die Pflicht zu nehmen.

Die Marginalie zur Kaninchenaufgabe ist nicht getreu wiedergegeben.

Auf Seite 552 (S. 404 in Boncompagnis Text) steht eine Aufgabe, bei der ein Stein, der die Form zweier gleicher kreisförmiger Kegel hat, in ein Becken mit Wasser geworfen wird. Leonardo präzisiert die Gestalt des Steines dadurch, dass er sagt, sie gleiche der Spindel, wie Frauen sie zum Spinnen benutzten. Sigler merkt dazu an, man könne sich das so vorstellen, dass die beiden Kegel die gleiche Achse hätten und mit ihren Spitzen aneinander stießen. Er denkt dabei wohl an einen Jo-Jo. Das Spinnrad wird im Abendland im Jahre 1281 zum ersten Mal erwähnt (in der Urkunde, mit der Rudolf von Habsburg der Stadt Heilbronn die Stadtrechte verlieh), so dass man sich das Gerät zum Spinnen zu Leonardos Zeiten noch so vorstellen muss, wie man es in heutigen Kulturfilmen aus dem Himalaya und den Anden noch sieht: Ein Holzstab mit einem Haken am Ende, durch den Spinnwirtel gesteckt, der dem Ganzen Schwung verleiht, wenn man die Spindel in Rotation versetzt. Dieser Spinnwirtel aber erinnert in seiner Form an zwei Kegel, die mit ihren Basen aneinander stoßen. (Hier suche ich in den Krümeln.)

Bei der oben schon erwähnten Kontoraufgabe ist noch sehr viel mehr schiefgegangen. So ist das Wort linealiter bei der Übersetzung unterschlagen worden: Die Preise, die sich aus Pfunden, Schillingen und Pfennigen zusammensetzen sind zeilenweise (linealiter) zu notieren. Das Wort correcta bedeutet, dass man erst nach der Korrektur der diktierten Zahlen diese addieren solle, und nicht, dass man sie korrekt addieren solle.

Kurz, die Einleitung ist indiskutabel und die Übersetzung unzuverlässig. Wenn Historiker den Text benutzen, sollten sie den lateinischen Text daneben liegen haben. Vielleicht erscheint André Allards schon seit mehr als zehn Jahren angekündigte kritische Edition des liber abbaci ja doch noch einmal. Dann wird es wieder einfacher sein, an Leonardos Text heranzukommen. Im Augenblick bekommt man die boncompagnische Edition nur zur Benutzung im Lesesaal, wobei Kopieren verboten ist.

Schade, dass Laurence E. Siglers Arbeit nicht fruchtbringender war.

Literatur

  1. Baldassarre Boncompagni, Intorno ad alcuni opere di Leonardo Pisano matematico del seculo decimoterzo. Rom 1854
  2. The Shorter Oxford English Dictionary. Zwei Bände. Viele Ausgaben. Hier: Oxford 1975
  3. Leonardi Pisani Liber Abbaci oder Lesevergnügen eines Mathematikers. 2. Auflage. Mannheim 1993
  4. On the notion of numbers in Leonardo Pisano's liber abbaci. In: Leonardo Fibonacci. Il tempo, le opere, l'eredità scientifica. A cura di Marcello Morelli e Marco Tangheroni. Ospedaletto (Pisa) 1994. S. 97-108
  5. J. F. Niermeyer & C. van der Kieft, Mediae latinitatis lexicon minus. Überarbeitet von J. W. J. Burgers. Zwei Bände. 2. Auflage. Darmstadt 2002

Verantwortlich für diese Seite: Heinz Lüneburg
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