Almut Mikeleitis-Winter

Alltagswortschatz im Althochdeutschen

Bei der Erarbeitung des Wörterbuchs ist der Lexikograph den Zwängen des alphabetischen Voranschreitens unterworfen und kann für sein Wort nur in Ausnahmefällen den Vergleich mit bedeutungsmäßig nahestehenden, aber vielleicht erst in späteren Wortstrecken abzuarbeitenden Lexemen hinsichtlich übereinstimmender und distinktiver Merkmale anstellen.
So wird sogar von der ‘onomasiologischen Blindheit’ semasiologischer Wörterbücher gesprochen, und es hat immer – ergänzend – übergreifende Untersuchungen ganzer Sachbereiche und Wortfelder gegeben – über Jahrzehnte hin standen dabei für das Althochdeutsche abstrakte Wortschatzbereiche, v.a. der geistig-religiösen Sphäre, im Vordergrund. In den vergangenen Jahren ist zunehmend auch Wortschatz aus Bereichen des materiellen Lebens untersucht worden, etwa aus der Landwirtschaft. Dies korrespondiert mit einer Hinwendung der sozialgeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaft zu Erforschung und Beschreibung des Alltagslebens.

Ein Zentrum der sozialen Wirklichkeit ist auch mit meiner Arbeit berührt, in der ich Wortschatz der Nahrungszubereitung im Althochdeutschen untersucht habe [vgl. A. Mikeleitis-Winter, Der Bereich Nahrungszubereitung im althochdeutschen Wortschatz. Onomasiologisch-semasiologische Untersuchungen, Berlin 2001 (Althochdeutsches Wörterbuch. Beiband)]. Gerade Kennern der Überlieferung könnte das als ein gewagtes Unternehmen erscheinen.
Die althochdeutschen Sprachzeugnisse sind ausgerichtet vor allem auf Bibelstudium und Aneignung des Latein sowie auf Erbauungszwecke – Evangelienharmonie, Bibeldichtung, Psalmenkommentar, Beichte, Philosophie und die große Masse von Glossen, die der Erschließung lateinischer Texte der heidnischen Antike, der christlichen Spätantike, vor allem aber dem Verständnis und der Interpretation der Heiligen Schrift dienen, erst ganz am Ende der althochdeutschen Periode dann in größerem Maße auch lateinisch-deutsche Wortentsprechungen in Glossaren mit sachlicher Ordnung – weit und breit keine Beschreibung von Haushalttätigkeiten, kein Kochrezept.

Wie lassen sich also in der Überlieferung überhaupt, wenigstens fragmentarisch, Reflexe alltäglichen Wortschatzes und alltäglicher Gegebenheiten ausmachen?
Voraussetzung sind methodische Vorkehrungen, die stets den soziolingualen, textsortenbedingten Abstand zwischen Analysekorpus und intendierter Sprachebene, die Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit der Überlieferung, aber auch die kulturellen Kontraste zwischen übersetzten Texten und mittelalterlicher Lebenswirklichkeit in Rechnung stellen. Das betrifft schon die grundsätzliche Richtung des Zugriffs.

Zunächst war eine Verankerung in den sachbezogenen Informationen zu suchen – aus Quellen, wie sie durch die Mediävisten anderer Disziplinen aufbereitet werden –, und von dorther die Brücke zu den Sprachzeugnisse zu schlagen.
Drei große Quellengruppen sind zu nennen:

1. Sachüberreste, die durch Archäologen erschlossen werden: Gerät und Geschirr für Zubereitung und Verzehr von Speisen, Nahrungsüberreste, Tierknochen, pflanzliche Reste bis hin zu Pflanzenpollen
2. Bildquellen: als Dokument von einzigartigem Wert der Plan einer Klosteranlage, der um 825 auf der Reichenau für St. Gallen angefertigt wurde und die Idealvorstellung eines karolingerzeitlichen Klosters vermittelt, Illustrationen wie z.B. die Darstellungen des Utrecht-Psalters aus dem 9. Jahrhundert (mit einem frühen Zeugnis für ein Butterfaß) oder Jahrhunderte später im Hortus deliciarum der Herrad von Hohenbourg
3. schriftliche Quellen in lateinischer Sprache: Leges und Urkunden,
die Krongüterordnung Capitulare de villis et curtis imperialibus vom Ende des 8. Jahrhunderts mit Anordnungen zu Viehzucht, Anbau von Obst, Gemüse und Heilpflanzen, Mühlenwesen, Vorratshaltung sowie Handwerkern, außerdem Urbare mit Aufzeichnungen über die Abgaben und Dienste,
für den monastischen Bereich die Regula Sancti Benedicti mit Festlegungen zu Art und Menge der Nahrung und zur Mitarbeit der Mönche bei der Zubereitung, dazu Konzilsbeschlüsse und Klosterstatuten, auch biographische Quellen wie die Vita des Abtes Johannes von Gorze, der selbst Brot gebacken haben soll.

Diese Vorgehensweise ist der Methode der Onomasiologie verpflichtet – etwas vereinfacht ausgedrückt, von der Sache bzw. einem (oder mehreren) Begriffen auszugehen und nach den Bezeichnungen dafür zu fragen. Im Sinne einer wechselseitigen Erhellung sprachlicher Erscheinungen und außersprachlicher Phänomene sind jedoch nicht nur die sachkundlichen Informationen zu soziokulturellen Voraussetzungen, Nahrungsmitteln, Geräten, Arbeitstechniken als Basis für die Ermittlung und sachgerechte Analyse von Tätigkeits- und Personenbezeichnungen erforderlich. Umgekehrt ergeben sich auch aus den überlieferten Sprachzeugnissen gewisse Rückschlußmöglichkeiten etwa zur Vielfalt der Zubereitungsmethoden oder zu einer eventuellen Spezialisierung von Personen, die die Erkenntnisse der Frühmittelalterforschung stützen, ergänzen oder erweitern können.

Auf diese Weise ließen sich trotz aller Einschränkungen knapp 100 Verben ermitteln und untersuchen, die Tätigkeiten bei der Nahrungszubereitung bezeichnen, und etwas mehr als 30 Personenbezeichnungen aus diesem Bereich. Wie Sie den Beispiellisten entnehmen können, ist das z.T. schon ein überraschend vielfältiger und manchmal auch recht spezieller Wortschatz.

Innerhalb der sachlich geordneten Gruppen sind zwischen den einzelnen Wörtern Relationen unterschiedlicher Art erkennbar:

übergreifende Bezeichnung und spezielle Bezeichnung eines Einzelverfahrens: z.B. temparôn ‘würzen’ / suozen, salzan, uuurzen ‘mit Kräutern würzen’
Ausdrücke für aufeinanderfolgende Schritte in einem Handlungsablauf: etwa bei der Fleischverarbeitung slahan ‘schlachten’ / fillen ‘die Haut abziehen’ / lidôn ‘zerlegen, in Stücke schneiden’, bei der Wein- oder Ölherstellung tretan für das Treten der Früchte mit den Füßen / pressôn für das Auspressen mit mechanischen Geräten
Wörter für alternativ zueinander einzusetzende Verfahren: stamphôn und malan für die beiden technologisch unterschiedlichen Methoden zum Zerkleinern des Getreides im Mörser und in der Mühle, siodan / brâtan / backan für unterschiedliche Garverfahren
Beziehungen einer lokalen oder aktionalen Abstufung: zwischen Basisverben und zugehörigen Präfixbildungen: misken / zisamanemisken; siodan / firsiodan ‘bis zum Zerfallen weichkochen, zerkochen’
– (partielle) Synonyme: hersten und rôsten für ein Braten auf dem Rost.

Im einzelnen ist die Beleglage oft sehr problematisch, manche Wörter sind Hapaxlegomena, und mitunter beziehen sich alle Vorkommen eines Wortes oder auch mehrerer Wörter immer nur auf ein und dieselbe Bibelstelle. Nur selten gibt es Hinweise auf das breitere Spektrum von Verwendungsmöglichkeiten eines Wortes. Schön ist das bei siodan durch die überlieferten Syntagmen: gisotan fleisc, gisotan spec, gisotan muos, gisotan brôt, gisotanir uuîn.

Welche Indizien können dennoch dafür sprechen, daß ein Wort nicht bloß ein einmaliges Dasein auf dem Pergament führte, sondern tatsächlich in der alltäglichen Sprache geläufig gewesen sein muß?

– Parallelen in anderen altgermanischen Sprachen, z.B. im Altsächsischen, Altenglischen oder Altnordischen.
– Ein Weiterleben des Wortes im Mittelhochdeutschen und darüber hinaus, z.T. auch in den Mundarten. Manche Verben finden sich tatsächlich als Fachausdrücke der Küche in den spätmittelaterlichen Kochbüchern wieder.
– Auch die Verwendung eines Verbs bei der Übersetzung biblischer Gleichnisse und Bilder, wo Neues durch Anknüpfung an Alltägliches und Bekanntes vermittelt bzw. schwerer Faßliches dadurch veranschaulicht werden soll, kann letztlich den Schluß auf Sprachwirklichkeit und relativ hohe Benutzungsfrequenz dieser Bezeichnung zulassen.
– Und: Wichtig sind selbstverständlich alle Fälle, wo ein Wort ganz ohne lateinische Vorgabe gewählt ist oder wenigstens die Übersetzung eine gewisse Eigenständigkeit zeigt.

Damit befinden wir uns schon bei der Untersuchung einzelner Bezeichnungen, die nun der Methode der Semasiologie folgt, und es gelten dieselben Prinzipien der Beleganalyse wie bei der Erstellung der Wörterbuchartikel.
Für jedes einzelne Vorkommen des Wortes muß der sprachliche Kontext untersucht werden. Hier wird jeweils nur ein Semem eines polysemen Wortes aktualisiert – eine Bedeutung von mehreren möglichen. Mit der Analyse der syntaktischen Strukturen und der syntagmatischen semantischen Beziehungen kann dieses Semem erfaßt werden. Dafür sind bei den sogenannten literarischen Denkmälern prinzipiell recht günstige Voraussetzungen gegeben.

Bei den Glossen gestaltet sich die Analyse komplizierter, wie ich an wenigen Beispielen zeigen möchte. Auch hier kann in vielen Fällen ein Satzzusammenhang herangezogen werden – nämlich der lateinische Bezugstext. Wir müssen aber jeweils im einzelnen herausfinden, ob der Glossator die Textbedeutung des lateinischen Wortes auch getroffen hat oder überhaupt treffen wollte.
Als Kriterien für eine kontextgerechte Wiedergabe kann die Berücksichtigung morphologischer oder syntaktischer Besonderheiten, vor allem aber spezieller Bedeutungsausprägungen gelten, die sich eben nur aus dem lateinischen Text erschließen:
Auf der Beispielliste habe ich Ihnen einige Fälle von Kontextübersetzung notiert: Bei Gl 1,321,39 setzt die Wiedergabe von lat. coquere, normalerweise ‘kochen’, durch ahd. backan die Kenntnis des Bibeltextes voraus, in dem von der weiteren Verarbeitung eines Teiges die Rede ist.
Bei den Glossierungen Gl 1,813,17 und Gl 2,700,56 liegen schon erweiterte Formen der Kontextübersetzung vor, bei denen die Wortwahl durch ein bestimmtes weiteres Element des lateinischen Textes ausgelöst wurde: Eine Glossierung von lat. facere, einfach ‘machen’, durch ahd. kohhôn kann eigentlich nur zustandegekommen sein, weil der Glossator den Bibeltextzusammenhang beachtete, der von der Bereitung einer Mahlzeit berichtet, und sich bei der Wahl des Verbs semantisch von lat. cibos ‘Speisen’ leiten ließ. In ähnlicher Weise wird bei der Glossierung von frangere, für sich gesehen ‘zerschmettern, zermalmen’, die Wortwahl ahd. malan erst durch den im Vergiltext hergestellten Bezug auf Getreide und das direkt folgende saxo ‘auf dem Stein’ verständlich.
Bei Gl 1,274,52 kommt noch ein formales Kriterium hinzu. Bei der Wiedergabe von conspergere ‘benetzen’, aus dem Zusammenhang mit Mehl als ‘kneten’ zu erkennen, erscheint für das feminine attributive Partizip (Akk. Sg. F.) auf althochdeutscher Seite ein Neutrum, weil in Gedanken wohl auch das Bezugswort ‘Mehl’ mit übersetzt worden ist, das Neutrum ahd. melo.
Vokabelmäßige Übersetzung läßt sich feststellen, wenn eine präzise Wortwahl auf deutscher Seite nicht mit der Kontextbedeutung des lateinischen Lemmas vereinbar ist. Vokabelübersetzungen können natürlich Fehlübersetzungen sein, aber auch auf dem Wunsch basieren, ein lateinischen Wort in seiner geläufigsten Bedeutung wiederzugeben.
In dem Beispiel Gl 1,501,18 ist lat. condire ‘würzen’ mit suozen wiedergegeben, vom Bibeltext her aber steht es gerade als sale condire ‘mit Salz würzen’ in ganz anderer Bedeutung.
Auch bei den zahlreichen Vokabelglossen ohne lateinischen Kontext gibt es oftmals noch Möglichkeiten der Disambiguierung. In den Sachglossaren können die Kapitelüberschrift oder die umgebenden Glossierungen Hinweise geben. Für ahd. slahtâri hält sich in der Literatur die Feststellung, daß dieses Wort noch keine Berufsbezeichnung sei, sondern ganz allgemein jemanden meint, der eine Tötung vollzieht. Die Glossenbelege Gl 3,613,2 und Gl 3,676,56 aber zeigen, daß diese Aussage zu revidieren ist. Sicherheit bringt der Sachzusammenhang der Glossenumgebung: Wörter aus der Fleischverarbeitung wie spechûs ‘Speisekammer (für Speck)’, spec, bahho ‘Schinken, Speckseite’, lebaruuurst, scubiling ‘Wurst’, slougbrâto ‘Wurst(fleisch)‘, sulza ‘Salzbrühe’ bzw. als weitere Berufsbezeichnung aus diesem Bereich fleiscmangeri ‘Fleischer, Fleischhändler’. Ahd. slahtâri meint hier tatsächlich eine Person, die Vieh schlachtet und teilweise auch tierische Produkte weiterverarbeitet (‘Schlachter, Fleischer’).

Was der Vergleich zu den sachkundlichen Quellen über eventuelle Bezeichnungslücken aussagt, möchte ich abschließend am Beispiel der Bierherstellung andeuten. Verschiedene Zeugnisse unterrichten über den großen Stellenwert von Bier und Brauwesen. Die Paläo-Ethnobotanik kann für das frühe Mittelalter zu den Bierwürzen auf archäologische Funde von Hopfen und Gagel zurückgreifen, außerdem auf die Erwähnung in schriftlichen Quellen. Die Herstellung des Bieres fiel zwar von alters her in den Bereich der bäuerlichen Hausarbeiten, speziell der Frauen (darüber ist in den Quellen kaum berichtet), große kirchliche oder weltliche Grundherrschaften verfügten aber über eigene Brauhäuser, in denen spezialisierte männliche Arbeitskräfte tätig waren. So beauftragt das Capitulare de villis den Verwalter der königlichen Domänen, gute Fachleute dafür heranzuziehen. Im St. Galler Klosterplan sind sogar für die Pilger, die Gäste und die Mönche gesonderte Brauerein vorgesehen – in der Darstellung der Brauerei und Bäckerei des Gästehauses sind Sudhaus (darin Feuerstätten und Braukessel) und Kühlraum (mit Gärbottichen und Kühlschiffen) zu erkennen. Die Beischriften lauten: domus conficiendae celiae und hic refrigeratur ceruisa.
Danach sollte man für das Althochdeutsche einen umfassenden Ausdruck für Bierbrauen erwarten – und wird enttäuscht. Dabei liegt ein dem heutigen brauen entsprechendes Verb in anderen altgermanischen Sprachen vor und ist auch im Mittelhochdeutschen vertreten. Sprachliche Hinweise aus dem Althochdeutschen selbst sind die verschiedenen Wortbildungsprodukte, die den entsprechenden Verbstamm aufweisen: die Nomina agentis briuuuino, briuuuâri sowie briumeistar, außerdem briuhûs ‘Brauhaus, Brauerei’, briuphanna ‘Braupfanne, Siedepfanne’. Sachquellen und Sprachzeugnisse erweisen hier, daß es sich bei der Bezeichnungslücke um überlieferungsbedingtes Fehlen des Wortes handeln muß.
Einen kleinen Trost gibt es aber dennoch, und den möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, ohne aber noch auf die Probleme bei der Bedeutungsermittlung eingehen zu können. In einem St. Galler Spottvers aus dem 9. Jahrhundert, der übrigens auch für unser Wissen über die Entwicklung des Endreimes von Bedeutung ist, spiegelt sich ländliches Brauchtum der Zeit. Da gibt es ein besonderes Bier als Verlobungstrunk, aber der Bräutigam bringt die Braut wieder zurück – wegen Unfruchtbarkeit, wie man vermutet:
    Liubene ersazta sine gruz      unde kab sina tohter uz
    to cham aber Starzfidere       prahta imo sina tohter uuidere S 401,2
Liubene setze sein Würzbier an (oder: bereitete sein Würzbier) und gab seine Tochter aus – später aber kam Starzfidere wiederum und brachte ihm seine Tochter zurück.