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manager magazin 6/1993 vom 01.06.1993, Seite 34-40a

Autoren: M.G., K.H.R., W. W, Michael Gatermann, Karl Heinrich Rüßmann und Winfried Wilhelm

Der gefesselte Riese

Die berüchtigten Störfälle sind nur äußerliches Symptom einer tiefen Krise: Strategiedefizit und Strukturmisere, Innovationsschwäche und Kulturschock lähmen den Chemiegiganten Hoechst. Starrsinnig und unbelehrbar steht Vorstandsvorsitzender Wolfgang Hilger mit seinem antiquierten Führungsstil jedem Neubeginn im Wege.

Zuerst lag der Fehler bei den Untergebenen: Weil seine Leute vor Ort die Situation falsch eingeschätzt hätten, sei er erst am vierten Tag nach dem als "Rosenmontagsunfall" berüchtigt gewordenen Störfall aus dem Urlaub zurück gewesen.

Dann machten Zeitungen und Rundfunk alles verkehrt: Die "sehr aggressiven Medien im Rhein-Main-Gebiet" hätten nachgerade Panik verbreitet.

In der Hauptversammlung bekam noch Umweltminister Klaus Töpfer beißende Kritik ab: Der habe "entweder keine Ahnung von den gesetzlichen Vorschriften oder der Realität in den Unternehmen". Und zuletzt schob der gläubige Katholik gar die Verantwortung auf eine höhere Macht: Pleiten und Pannen "kann man wohl nur als schicksalhaft bezeichnen".

Nur einer hat keine Schuld, Unfallserie hin, Gewinneinbruch her: Wolfgang Hilger (63), Vorstandsvorsitzender des skandalumwitterten Chemieriesen Hoechst.

Dabei ist die plötzliche Serie von Stör- und Unfällen, mit der Hoechst die Öffentlichkeit seit Februar in Atem hält, nur äußerliches Symptom einer tiefsitzenden Krise: *___Strategiedefizit - Hoechst ist mit seinen 10 000 ____Produktlinien ein gigantischer Gemischtwarenladen, eine ____Konzernvision und eine klare strategische Linie fehlen. *___Strukturmisere - Hoechst ist ein schwerfälliger Koloß ____ohne innere Dynamik. Die vor drei Jahren angeschobene ____Organisationsreform ist auf halbem Wege ____steckengeblieben. *___Innovationsschwäche - das Frankfurter Traditionshaus ____tut sich trotz seiner Forschungsmilliarden schwer mit ____erfolgreichen Produktideen und noch schwerer mit ihrer ____schnellen Vermarktung. *___Kulturschock - im Führungskader herrschen ____Verunsicherung, Frust und Angst vor dem Mann an der ____Spitze. Der größte Störfall bei Hoechst ist der ____Vorstandsvorsitzende Wolfgang Hilger.

Noch bis zum April 1994 will Hilger Konzernchef bleiben. Heißt das noch ein Jahr Stillstand? Fällt Hoechst weiter zurück?

Eines ist gewiß: Wer auch immer die Nachfolge des jetzigen Amtsinhabers antritt, sei es Finanzchef Jürgen Dormann oder Pharmavorstand Karl-Gerhard Seifert (siehe Kästen Seite 40 und 41) - er muß nicht nur nachsitzen, um versäumte Hausaufgaben des Vorgängers abzuarbeiten, er muß den Konzern regelrecht umkrempeln, strategisch fokussieren und den demotivierten Truppen den lange entbehrten Offensivgeist einimpfen.

Schade eigentlich. Schon vor acht Jahren, als Hilger das Steuer übernahm, sah es nach einem Aufbruch aus. Und damals waren die Voraussetzungen ungleich günstiger. Denn als frisch inthronisierter Konzernchef erwischte Hilger Mitte der 80er Jahre einen glänzenden Start, die Chemie boomte wie nie zuvor. Am Ende seiner ersten Amtsperiode konnte er Rekordergebnisse melden.

Doch 1990 riß der Erfolgsfaden, die Talfahrt begann. Zur Konjunkturkrise gesellten sich ausgewachsene Strukturprobleme - Billighersteller aus Fernost und den Erdölstaaten avancierten auf dem Weltmarkt zu den wichtigsten Anbietern für Basischemikalien, Zwischenprodukte und Standardkunststoffe.

Den Gemischtwarenladen Hoechst traf die Chemiemisere besonders hart. Die Umsatzrendite sackte auf magere 4,6 Prozent (1992), die Dividende mußte zum zweiten Mal hintereinander gekürzt werden. Bei der deutschen Hoechst, die ein Viertel zum Konzernumsatz beisteuert, tendierte das Betriebsergebnis gegen Null, im ersten Quartal dieses Jahres rutschte es sogar in die Verlustzone.

Rund 80 Prozent des Konzernumsatzes erzielen traurige Renditen, in wichtigen Arbeitsgebieten wie Kunststoffe und Folien, Feinchemikalien und Farben schreiben die Hoechster rote Zahlen (siehe auch Synopse Seite 36). Selbst in der Vorzeigesparte Pharma fällt Hoechst gegen den Erzrivalen Bayer ab. Obwohl die Frankfurter für 9,4 Milliarden --- S.36

Mark Arzneimittel verkaufen - eine halbe Milliarde mehr als Bayer -, erwirtschaften sie ein um 30 Prozent geringeres Betriebsergebnis.

Die allgemeine Branchenmisere legte bei Hoechst gravierende Schwachstellen bloß, strategische und organisatorische Defizite ebenso wie eklatante Führungsmängel. Konkurrent Bayer hatte schon vor zehn Jahren mit Amtsantritt von Hermann-Josef Strenger begonnen, das gesamte Produktportfolio zu durchleuchten und die Programmpalette systematisch von unrentablen Aktivitäten zu säubern. Konsequenter als Hoechst hatten die Leverkusener ihre Ressourcen in zukunftsträchtige Arbeitsfelder gelenkt und die Vorwärtsintegration vorangetrieben.

Natürlich haben auch Hilger und seine Mannen verlusttächtige Aktivitäten ausgemustert, etwa Cellophan, Baufarben und Düngemittel. "Wir können nicht erst handeln, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht", gab Hilger seine Mangementweisheit zum besten. _____" Der strategische Fokus fehlt "

Schöne Worte. Denn vieles packte Hilger zu spät oder nur halbherzig an. So werkelten das Hoechster Stammwerk und seine Tochter Wacker-Chemie bei der Produktion des umstrittenen Kunststoffs PVC jahrelang unkoordiniert nebeneinander her. Mit ihren Minikapazitäten spielten beide Firmen in Westeuropa keine Rolle. Bis auf wenige Boomjahre sahen die Frankfurter in dieser Sparte stets rot. Jetzt, fünf Minuten nach zwölf, bringen Hoechst und Wacker Entwicklung, Fertigung und Vertrieb von PVC in ein Joint Venture ein. Doch auch die neue Firma hat mangels Masse kaum Chancen, den europäischen Wettbewerb zu bestehen.

Erst jetzt scheint es Hoechst zu dämmern, daß die Programmpalette in dieser Bandbreite keinen Sinn macht. Nun klopfen Unternehmensberater wenigstens einige Chemiesparten (das Gesamtportfolio durften sie nicht analysieren) daraufhin ab, ob kritische Produktlinien noch zu halten sind, ob Joint Ventures oder strategische Allianzen weiterhelfen.

Gerade in dem früher von Hilger betreuten Geschäftsbereich A (Primärchemikalien) haben die Consultants Handlungsbedarf ausgemacht. Etliche Arbeitsgebiete von der Essigsäure bis zum Ethylenoxid rentieren sich nicht mehr und stehen zur Disposition. Auch in den Bereichen --- S.37

H und J (Kunststoffe und Folien) könnten einige Produktgruppen kippen. Hätten die Frankfurter die notwendige Portfoliobereinigung fünf Jahre früher in Angriff genommen, so ein Hoechst-Manager, ginge es ihnen heute besser.

In der Vorwärtsstrategie, etwa beim Vorstoß in die Informationstechnik und die Elektronikchemikalien, blieb Hoechst ebenfalls stecken. Hilger sang besondes laut das Hohelied von High Chem, der Konzentration auf anspruchsvolle Produkte, auf High-Tech-Materialien wie die Ingenieurkeramik. Diese mit massiver Werbung unterstützten Divesifikationsschritte mußten die Hoechster mit viel Lehrgeld bezahlen. Weil einfache Polymere schneller und vor allem billiger zu immer leistungsfähigeren Materialien hochgerüstet wurden und Großabnehmer (Luft- und Raumfahrt, Militär) wegbrachen, fanden sich zahlreiche Anbieter von Hochleistungswerkstoffen plötzlich in kleinen, unattraktiven Nischen wieder, in denen Giganten a la Hoechst kein Geld verdienen konnten. _____" Rückschlag im Pharmageschäft "

Doch während Wettbewerber wie Bayer diese gefährdeten Arbeitsgebiete (etwa der Hochleistungswerkstoff Polyphenylensulfin) konsequent abstießen, wurstelten die Frankfurter weiter. Kein Wunder, daß auch die Hoechster High-Chem-Tochter CeramTec in Selb - sie produziert unter anderem Keramikventile für Motoren - herbe Verluste meldet.

Den bittersten Rückschlag erlebte Hilger im Pharmageschäft, der bedeutendsten Sparte des Konzerns. Noch unter Vorgänger Rolf Sammet war Hoechst der größte Pillendreher der Welt. Dann fielen die Frankfurter zurück (1992: Rang vier), innovative Anbieter wie die amerikanische Merck oder die britische Glaxo zogen an ihnen vorbei.

Ausgerechnet in den Schlüsselländern Amerika und Japan erreicht Hoechst klägliche Marktanteile von einem beziehungsweise zwei Prozent. In den USA, dem ertragsstärksten Pharmamarkt der Welt, ist die Wettbewerbsposition geradezu erschreckend: Rang 24.

Mit seinen zehn stärksten Präparaten erzielt Hoechst knapp 40 Prozent des Pharmaumsatzes, taucht aber unter den 25 meistverkauften Arzneimitteln der Welt nicht auf. Seit Jahrzehnten ist aus den Frankfurter Labors kein "Blockbuster" mehr gekommen, kein echter --- S.38

Megahit. Hinzu kommt: Die Patente der umsatzstärksten Medikamente wie Trental (MIttel gegen Durchblutungsstörungen) und Claforan (Infektionen) laufen demnächst aus. Um die Programmlücke zu füllen und den Vertrieb auszulasten, muß Hoechst in den kommenden Jahren, die mager zu werden drohen, auf weniger einträgliche Lizenzpräparate zurückgreifen.

Jetzt rächt sich, daß bei Hoechst ein aufgeblähtes und bürokratisches Management jahrelang die Forschungsmilliarden auf zu viele Projekte verplempert und eine zügige Entwicklung verschleppt hat. Und die französische Mehrheitsbeteiligung (54,5 Prozent) Roussel Uclaf, immerhin seit 1968 unter den Fittichen von Hoechst, hat zwar den Pharmaumsatz der Deutschen künstlich hochgetrieben, doch eine schlagkräftige Europa-Gesellschaft ist noch in weiter Ferne.

Im Gegenteil: Bis vor kurzem waren Parallelentwicklungen, etwa bei Herz-Kreislauf-Mitteln und Antiinfektiva, an der Tagesordnung. Weil die Franzosen unter ihrem selbstbewußten Chef Edouard Sakiz auf Autonomie pochen, sind Synergieprogramme schwer durchzusetzen. Noch heute marschieren Roussel und Hoechst auf Drittmärkten (etwa in Südamerika) unter getrennter Flagge.

Mit Verve versucht Hoechst, die widerspenstigen Franzosen stärker in ihre Strategie einzubinden und dem Minderheitsaktionär Rhone-Poulenc jene 35 Prozent Roussel-Aktien abzukaufen, die er 1990 vom französischen Staat bekommen hatte. Doch die Verhandlungen verlaufen zäh, Rhone-Poulenc verlangt Phantasiepreise. Nicht ausgeschlossen ist, daß Hoechst leer ausgeht, daß die Franzosen ihr Paket an der Börse oder bei institutionellen Anlegern unterbringen. _____" Der Eklat mit McKinsey "

Nach dem halbherzigen Revirement in der Pharmasparte Ende der 80er Jahre ruhten Hilgers Hoffnungen auf der mit großem Getöse eingeführten konzernweiten Strukturreform. Doch der Umbau von funktional organisierten Bereichen in marktnahe operative Einheiten offenbart wiederum ein altes Hoechster Leiden: Ansatz richtig, Ausführung mangelhaft. Heute präsentiert sich das Reformwerk als Torso, als fauler Kompromiß. Von Anfang an lief vieles schief.

McKinsey hatte im Anschluß an Projektarbeiten bei der amerikanischen Hoechst-Tochter Celanese 1989 den Vorschlag unterbreitet, Hoechst eine moderne globale Organisation zu verpassen.

Der New Yorker Director Richard N. Forster präsentierte diverse Konzepte vor dem kompletten Vorstand. Dabei kam es zum Eklat. McKinsey wolle nur Aufträge und schneidere zu große Anzüge, argwöhnte Primus Hilger vor versammelter Mannschaft. "Das nehmen Sie zurück", protestierte der anwesende Herbert Henzler, Deutschland-Chairman der Beraterfirma, erregt. "Seien Sie doch nicht so beleidigt", antwortete Hilger, entschuldigte sich aber nicht. Kein Vorstandsmitglied griff in die Debatte ein. Man hätte eine Nadel fallen hören können, erinnert sich ein Teilnehmer. Denn niemand hatte es bis dahin gewagt, dem Konzernherrn Hilger zu widersprechen.

McKinsey erhielt dennoch den Auftrag, durfte aber nur das Konzept für die Business-Unit-Organisation entwickeln. Danach sollten anstelle von 15 funktional ausgerichteten, schwerfälligen Geschäftsbereichen (von Chemikalien über Fasern bis Pharma) mehr als 100 globale, regionale und lokale Units das Multibusineß von Hoechst steuern.

McKinsey wurde jedoch nach sechs Monaten verabschiedet, an der Umsetzung ließ Hilger die forschen Berater nicht mehr mitwirken. Das besorgte ein firmeninterner Lenkungsausschuß, der in einem Reformpapier mehr "Marktnähe, Flexibilität und unternehmerisches Denken" beschwor, allerdings die Kompetenzen der ersten (Vorstand) und zweiten Ebene (Geschäftsbereichsleitungen) unangetastet ließ.

Noch zweieinhalb Jahre nach Einführung der Reorganisation sind die Beziehungen zwischen den Business Units (BU), den Geschäftsbereichen, zentralen Ressorts und Landesgesellschaften nicht klar geregelt. Kaum jemand findet sich im Kompetenzdickicht zurecht.

So muß sich der Business-Unit-Leiter, der eigentlich unternehmerisch handeln soll, mit den Auslandsgesellschaften um die Preishoheit --- S.40

balgen, denn die Landesfürsten tragen auch noch Gewinnverantwortung. Und wie soll der BU-Chef die Kosten kontrollieren, wenn Kapazitäten und Zentralbereiche (etwa das Ingenieurwesen) noch nicht dezentralisiert, den operativen Einheiten angepaßt sind und damit den Profit-Center-Chef mit nicht beeinflußbaren Overheads belasten?

Vollends chaotisch wird es in den "Management Committees" der Geschäftsbereiche. Dort treffen die BU-Leiter immer noch auf "Funktionäre", vom Forscher bis zum Vertriebsmanager. Die ehemals fünf- bis sechsköpfigen Gremien wurden teilweise auf die doppelte Zahl aufgeblasen. Und da der Bereichsleiter offiziell alle Business Units in seinem Beritt koordiniert, mischt er naturgemäß in der operativen Führung seiner Profit Center mit. _____" Der Geheimdienst von Hoechst "

Und der Vorstand? Bei Hoechst ist das oberste Führungsgremium weiterhin organisiert wie vor 20 Jahren; immer noch funken die Vorstände in die einzelnen von ihnen betreuten Divisions hinein, obwohl sie keine unmittelbare Verantwortung für die Geschäftsbereiche tragen.

So leben die Hoechster in der schlechtesten aller Welten. Der Vorstand agiert weder im Stile einer Finanzholding noch als operatives Führungsorgan. Die Verantwortlichkeiten sind total verwischt.

Verblüfft fragen selbst intime Hoechst-Kenner, warum sich der landauf, landab als starker Vorsitzender apostrophierte Hilger so umsetzungsschwach präsentiert. Fürchtet er die Folgen einer tiefgreifenden Reorganisation, die in letzter Konsequenz alle Besitztümer und Jobs bis hinauf zum Vorstand in Frage stellen müßte? Scheut er vor seiner Pensionierung weitere Unruhen im ohnehin gebeutelten Konzern? Oder geht ihm die Dezentralisierung der Kommandostruktur persönlich gegen den Strich, weil er im Grunde seines Herzens ein Zentralist ist?

Am sichersten fühlt sich Hilger mit seiner Zentralen Direktionsabteilung --- S.41

(ZDA) im Rücken, einem Generalstab, der die konzernweiten Informationsströme kanalisiert und verarbeitet.

Hilger nutzt den gut 100 Mann starken "KGB" (interner Spotname), der allen Vorständen zuarbeiten soll, als sein eigentliches Herrschafts- und Nachrichteninstrument. Aus den drei Hauptabteilungen bezieht der Zahlen- und Faktenmensch einen ständigen Strom von Informationen. Unterstützt von seinem hervorragenden Gedächtnis, spielt er, wenn er will, mit diesem Wissen jeden an die Wand. Er will oft und gern, und er genießt seine Überlegenheit, aber er rationalisiert sie als "notwendiges, präzises Hinterfragen". Daß seine Mitarbeiter "diese direkte Art etwas scheuen" (Hilger), stört ihn nicht.

Mit sich selbst hat Wolfgang Hilger ohnehin wenige Probleme. Denn der Hoechst-Chef ist von Natur aus genau das, was er von anderen fordert - "unheimlich fleißig", "tief in die Vorgänge eingearbeitet", "bis in Details informiert, ja detailversessen", von "hoher Sachkompetenz", so Urteile von Hoechst-Managern über ihren Chef. _____" Angsterfülltes Klima "

Allerdings begleitet den Konzernherrn seit seinen jüngsten Hoechster Tagen auch der Ruf extremer Sparsamkeit. Erst kürzlich verbitterte er seine Führungskräfte durch eine Nullrunde bei den Gehältern. Als bedenklicher aber gilt Insidern seine systematische Ausdünnung der "Abteilung sechs", einer Privilegienklasse für leitende Angestellte mit geldwerten Extras, in die bislang auch Topforscher ohne hohen hierarchischen Rang aufrücken konnten - eine Ehrung wie ein Ritterschlag. Künftig winkt kreativen Forschern diese Motivationsspritze nur äußerst selten.

Die angenehmeren Seiten ihres Chefs bleiben den meisten Mitarbeitern verborgen. Zwar werden Hilgar auch "Charme und vielseitiges Interesse" bescheinigt und sogar "Fröhlichkeit, vor allem in kleiner Runde"; --- S.44

doch so erleben ihn zumeist nur gute Bekannte.

Auf seine Führungskräfte wirkt der Vorgesetzte Hilger dagegen eher furchterregend. Ungezählte Geschichten zirkulieren im Haus darüber, wie der Konzernchef gestandene Direktoren in größerer Runde "gnadenlos zur Schnecke" gemacht habe und daß er sogar Vorstandskollegen "wie dumme Jungs" vorführe, wenn sie seinen bohrenden Fragen nicht standhielten.

Solche Berichte tragen entscheidend zu dem angsterfüllten Klima im Management bei und verstärken bei Hoechst das Bestreben, vor dem obersten Chef Fehler zu verbergen, unerfreuliche Dinge sorgfältig zu filtern. Allerdings enthüllen sie auch einen bemerkenswerten Mangel an Rückgrat bis in den Vorstand.

Hilger selbst kann mit Klagen über seine schroffe Härte wenig anfangen. Dem manager magazin sagte er zu dem Hinweis, daß seine Führungskräfte aus Angst vor der beißenden Kritik ihres Vorstandschefs lieber schwiegen, als etwas Falsches zu sagen: "Das ist kein schlechtes Prinzip. Es ist besser, mal nicht loszuplappern, sondern erst zu überlegen, was man sagt, dann aber das Richtige zu antworten" _____" Powerplay eines Übervaters "

Diese Aussage kennzeichnet einen Rigoristen, der trotz hoher Intelligenz nur eine geringe Sensibilität für Menschenführung und entwickelt hat: Der auf Perfektion geeichte Übervater duldet nichts "Falsches". Das "Richtige" aber, das er von seinen Leuten herrisch einfordert, ist schlicht die Hilger-Wahrheit. Kommt es, selten genug, zum Disput darüber, dann wird daraus "schnell ein Powerplay, bei dem der Sieger --- S.47

von vornherein feststeht" (so ein Hoechst-Direktor).

Gleichwohl charakterisiert Hilger seinen Führungsstil als "kooperativ, zwar in der Sache hart, aber ohne daß die Menschlichkeit dabei auf der Strecke bleibt". Und ergänzt damit das Bild eines Mannes, der die Realität und seine eigene Wirkung auf die Umwelt nur sehr selektiv wahrnimmt.

Damit müssen sich auch seine Managerkollegen im Verband der Chemischen Industrie (VCI) abfinden, deren Präsident Hilger noch bis Jahresende ist. So warteten auf der turnusmäßigen Hauptausschußsitzung des Verbandes in Frankfurt am 4. März, zehn Tage nach dem ersten Hoechster Störfall, rund 120 Spitzenmanager der Branche gespannt auf ein erläuterndes Wort ihres Präsidenten in eigener Sache. Viele von ihnen hatten mit wachsendem Zorn die chaotische Öffentlichkeitsarbeit von Hoechst verfolgt, die nach ihrer Meinung dem Ansehen der chemischen Industrie weit mehr Schaden zugefügt hat als die technischen Debakel selbst.

Doch Hilger schwieg beharrlich. Statt dessen verschwand der Hoechst-Chef über Mittag ohne Angabe von Gründen für zwei Stunden aus dem Kreis. Er hielt, mehr genötigt als freiwillig ("Bild"-Schlagzeile: "Professor Drückeberger"), im Werk seine erste und einzige Störfall-Pressekonferenz ab. Hier wie später blieb Hilger konsequenter Hardliner: Bedauerliche Vorkommnisse, gewiß, aber vorzuwerfen habe sich die Leitung nichts, er schon gar nicht. "Schicksalhaft" - das wurde seine Exkulpationsformel.

Schicksalhaft? Ein Hoechst-Leitender erinnert sich an einen Fall interner Gutachtertätigkeit für ein Investitionsvorhaben im Werk. Ihm fiel auf, "daß der technische Standard der Anlage längst überholt war und ich fragte, warum die zum Teil auch umweltschutz- und sicherheitsrelevanten Investitionen nicht schon vor fünf Jahren getätigt worden seien. Die ärgerliche Antwort: 'Wir verdienen mit dem Ding zuwenig Geld'." Es war eine Anlage aus dem einstigen Verantwortungsbereich des Anorganikers Wolfgang Hilger.

Der Hoechst-Chef steht mit seiner Ignoranz freilich in einer Firmentradition. Auch unter seinem Vorgänger Rolf Sammet (73) war es üblich, beispielsweise auf öffentliche Kritik an Verunreinigungen des Mains gereizt bis arrogant zu reagieren: So etwas kam eben mal vor. Seit damals haftet dem Frankfurter Unternehmen der Begriff "Bunkermentalität" an.

Unter Sammet, einem geradlinigen, aber schwung- und farblosen Anführer, war - trotz beträchtlichen Wachstums des Konzerns in seinen 16 Amtsjahren - die innere Unternehmensdynamik bereits erloschen, die Hoechst während der fast unumschränkten Herrschaft des ersten Nachkriegschefs Karl Winnacker geprägt hatte. _____" Wie lange dauert die Lähmung? "

Der charismatische Winnacker war hart und fordernd wie Hilger, aber er verstand es auch, geschlagene Wunden durch seinen rheinischen Humor und jähe, herzliche Zuwendung zu heilen. Hilger dagegen steht sich immer wieder selbst im Weg; seine auf formale Akkuratesse gerichtete Natur läßt keinen Platz für die versöhnliche Geste. Und seine detailversessene Art läßt keinen Raum für die große strategische Linie, wie für kraftvolle Reformen und echte unternehmerische Initiative seiner Mitarbeiter.

In dieser zwangvollen Enge muß der Weltkonzern Hoechst noch fast ein Jahr lang ausharren. Dabei hat das Unternehmen keine Zeit zu verlieren. Denn die europäische Großchemie steckt in einem säkularen Umbruch. Wichtige Wettbewerber wie ICI oder Bayer sind mit der Neuausrichtung bereits mehrere Schritte voraus und splitten ihre Aktivitäten in zwei getrennte, besser steuerbare Blöcke: Chemie und Pharma. Hoechst dagegen bastelt immer noch an seiner Reorganisation und der Stärken-Schwächen-Analyse des Gesamtportfolios - unabdingbare Voraussetzung für das Corporate Restructuring mit Allianzen und Asset Swaps.

Auf dem schwierigen Weg zum modernen Konzern hat der nächste Hoechst-Chef mit mehr als sachlichen Widrigkeiten zu kämpfen. Er hat noch ein Personalproblem: Wolfgang Hilger, nach der Hauptversammlung 1994 Aufsichtsratsvorsitzender. --------------------

*KASTEN

Der Hoechst-Konzern

Stärken- und Schwächenprofil des nach DuPont zweitgrößten Chemieunternehmens der Welt (Zahlen 1992) *

Hoechst hat sechs Geschäftsfelder, die in 15 Geschäftsbereiche und 110 Business Units (BU) gegliedert sind und 19 Branchen bedienen. Während die Geschäftsfelder nur formale Bedeutung haben, koordinieren die Geschäftsbereiche jeweils drei bis zehn Units. Die 110 BU sind zu 90 Prozent lokal/regional organisiert, zu zehn Prozent global. Weltweit hält der Konzern 276 konsolidierte Beteiligungen. Die gesamte Chemie- und Pharmapalette umfaßt etwa 10 000 Produktgruppen. Die Pharmasparte trug im vergangenen Jahr 21 Prozent zum Umsatz und mehr als 50 Prozent zum Betriebsergebnis bei. Rund 80 Prozent des Umsatzes produzieren meist desolate Renditen. Vor allem Kunststoffe und Folien, Feinchemikalien und Farben schreiben Rot.

manager magazin 6/1993
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