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Kalenderblatt 29.07.2008
29.07.1974: zurück weiter
Erich Kästner gestorben
Autorin: Carola Zinner
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Ein Orchester war nicht eingeplant. Also erklang bei der Beisetzung seiner Urne im Grab 4 a auf dem idyllischen Friedhof im Münchner Stadtteil Bogenhausen Erich Kästners Lieblingsmusik aus einem kleinen tragbaren Kassettenrekorder. Den Verstorbenen hätte es vermutlich amüsiert; für seltsame Szenerien hatte er bekanntlich durchaus einen Sinn. Ebenso hätte ihm zugesagt, dass die Öffentlichkeit nun endlich von seinem Sohn erfuhr. Am Grab stand, eigens aus der Schweiz angereist, der 17jährige Thomas Kästner. Sein Vater war am 29. Juli 1974 an den Folgen eines Kehlkopfkrebses einsam gestorben. Der berühmte Schriftsteller war in den letzten Tagen seines Lebens nur von zwei Leuten im Krankenhaus besucht worden: von seiner Putzfrau und vom Steuerberater. Kästner war des Lebens müde gewesen; er war geradezu, wie es eine Freundin nannte, versteinert.

"Lernt, dass man still sein soll,
wenn man im Herzen Groll hat
man nimmt den Mund nicht voll
wenn man die Schnauze voll hat."

Wenig Neues war in den letzten 15 Jahren seines Lebens entstanden – Kästner litt an einer Schreibblockade, die er nur noch selten durchbrechen konnte. Stattdessen bearbeitete er vorhandene Stoffe, hielt Vorträge, engagierte sich. Gegen die atomare Aufrüstung. Für eine bessere Schulbildung. Und für die konsequente Aufarbeitung dessen, was im Dritten Reich geschehen war: "Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Gläser, Erich Kästner." Erich Kästner selbst sagte: "Im Herbst 1927 erschien mein erstes Buch, ein Geschichtenband, im Mai 1933 fand die Bücherverbrennung statt, und unter den 24 Namen, mit denen der Minister für literarische Feuerbestattungen seinen Hass artikulierte, war auch der meinige. Jede künftige Veröffentlichung in Deutschland wurde mir untersagt, im Laufe der nächsten Jahre wurde ich zweimal verhaftet, und bis zum Zusammenbruch der Diktatur stand ich unter Beobachtung. Nach dem Zusammenbruch war ich einige Jahre Redakteur und dann erst, nach 15 Jahren Pause, erschien in Deutschland mein nächstes neues Buch. Das ist die Karriere eines, wie es 33 hieß, unerwünschten und politisch unzuverlässigen Schriftstellers, der fast 60 Jahre alt ist, und mit dem Schicksal fast aller anderen unerwünschten Autoren verglichen, ist das seinige ein Kinderspiel." Und doch nicht leicht zu verarbeiten. Kästner suchte Trost für Geschehenes und fand sie in der Arbeit – aber auch im Nikotin, im Whisky und bei den Frauen. Seine Nummer eins lebte da bereits nicht mehr: das "Muttchen", Ida Kästner. "Ihre Spielkarte war ich. Deshalb durfte ich nicht enttäuschen. Da sie die vollkommene Mutter sein wollte und war, gab es für mich keinen Zweifel: Ich musste der vollkommene Sohn werden." "Muttchen" war Vorbild für die wunderbaren Mütter in Kästners Büchern und war doch ganz anders: ehrgeizig, labil, unduldsam und depressiv. Der Sohn, auch als Erwachsener in steter Angst um sie, sorgte für Nähe. Schickte die Wäsche nach Hause, und schrieb ihr. Vom erfolgreichen Aufstieg als Journalist und Schriftsteller genau wie vom Liebesleben – Muttchen sollte alles erfahren.

Keine andere Frau konnte je wieder eine so bedeutende Rolle in Kästners Leben einnehmen; schon allein, weil er meist mehrere Geliebte gleichzeitig hatte. Schließlich konnte er sich auch dann nicht mehr für eine einzige entscheiden, als er es gerne getan hätte. Das Ergebnis war ein Doppelleben des alternden Schriftstellers – zwei Wohnungen, zwei Frauen, ein Kind: Eine jahrelange Überforderung für alle Beteiligten, die erst ein Ende fand, als ihn die Jüngere mit dem gemeinsamen Kind verließ. Mit der anderen lebte Kästner weiter – in unseliger, alkoholschwerer Verstrickung. Er hatte sich hineinziehen lassen in ein böses Spiel, nach dessen Regeln die Öffentlichkeit niemals erfahren durfte, dass es eine andere gab und einen Sohn. Das einzige Kind des berühmten Kinderbuchautors Erich Kästner, sein Wunschkind, konnte erst nach dem Tod des Vaters offiziell in Erscheinung treten.

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