Vom 19.04.2007
WIESBADEN Auch über vier Jahre nach dem zweifelsfrei festgestellten Selbstmord des Engländers Jeremiah Duggan werden Legenden gepflegt. Noch immer kursiert eine Mordversion. Englische Medien vor allem stellen die deutsche Staatsanwaltschaft an den Pranger.
Von
Wolfgang Degen
Hartmut Ferse seufzt. Dann greift der Sprecher der Staatsanwaltschaft zum Stapel, der sich vor ihm türmt. Zehn Bände. Alles in allem 30 Zentimeter. "Untätig waren wir weiß Gott nicht", sagt er. Doch genau das wird Staatsanwaltschaft und Polizei ständig vorgeworfen. Nichts hätten sie getan, um diesen mysteriösen Fall tatsächlich aufzuklären.
Die Bände, die sich vor Ferse stapeln, handeln von einer menschlichen Tragödie. Sie befassen sich mit dem Tod des damals 22-jährigen Jeremiah Duggan. Der Student aus London starb vor über vier Jahren in Wiesbaden, genau am 27. März 2003, am frühen Morgen auf der Bundesstraße 455. Ein selbst verschuldeter tödlicher Unfall. Das klingt, wenn man das bei einem Tod überhaupt so sagen kann, neutraler. Schlimmer hört sich an, zumal in den Ohren der Angehörigen, das Wort Selbstmord.
Als solchen führen Polizei und Staatsanwaltschaft Duggans Tod. Zweifelsfrei, weil gestützt auf Zeugen, denen der panisch wirkende Mann direkt vors Auto gelaufen war. Der 22-Jährige wurde überrollt. Weit und breit war, außer den geschockten Autofahrern, niemand sonst am Straßenrand zu sehen. Niemand, der verfolgt, niemand, der gehetzt hätte.
Duggan hatte in Wiesbaden an einer "Friedenskonferenz" genannten Veranstaltung der als rechtsextrem und antisemitisch geltenden LaRouche-Bewegung teilgenommen. Gewohnt hatte er bei Aktivisten der Polit-Sekte im Rheingauviertel. Von dort war er losgelaufen, hoch Richtung Berliner Straße. Wo es passierte.
Sturheit wird der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, weil sie keinen rechtlich zwingenden Grund erkennen kann, einzusteigen ins Umfeld der LaRouche-Bewegung. Sie müsse sich endlich mit behaupteter Gehirnwäsche des Opfers, mit dem Antisemitismus der Sekte befassen. Das sei der Schlüssel, wird suggeriert.
Das Opfer ein englischer Jude - und dann diese - unterstellte - Ignoranz einer deutschen Behörde. Das liefert Stoff für Schlagzeilen und Artikel, in denen Anspielungen auf Nazi-Deutschland gewollt sind. Ferse empört das.
Dass die angebliche sture Staatsanwaltschaft drohe, sich zu einem Imageproblem für die Bundesrepublik auszuweiten, wie es nun in einer deutschen Zeitung, heißt, nimmt er gelassen. Dass über das englische Parlament nun versucht werden soll, politischen Druck aufzubauen, damit doch in Deutschland noch in der gewünschten Weise ermittelt wird, kommentiert Ferse nicht. "Warum sollte ich?"
"Wir haben uns nichts vorzuwerfen", sagt der Behördensprecher. Generalstaatsanwaltschaft und Oberlandesgericht hätten das bestätigt. Zwischen dem Unfall und dem Aufenthalt Duggans in der Sekte sei "keine Verknüpfung" herzustellen. Rauf und runter hat Ferse diesen Satz schon gebetet. Es gebe keinen Anfangsverdacht. Nichts.
"Das Thema Duggan kommt immer in Wellen, mit schöner Regelmäßigkeit holt es uns ein", sagt Ferse. Zuletzt im Nachgang zum Todestag. Danach sei wieder so eine Welle rübergeschwappt. Anfragen, Antworten. Es gibt, wie Ferse betont, keinen Fall von festgestelltem Selbstmord, der die Wiesbadener Staatsanwalt jemals mehr beschäftigt hätte. Ein Ende zeichnet sich nicht ab. Nur hat die Medien-Hysterie nachgelassen.
Ferse, sein Vertreter Klaus Schulte und der frühere Pressesprecher Dieter Arlet haben seit Frühjahr 2003 viel gelernt über Medien und wie sie funktionieren, was "sich verkaufen" lässt. Sie haben die Erklärungen der Staatsanwaltschaft vielleicht hunderte Male in Mikrofone gesprochen und in Blöcke diktiert. Und lernen müssen, dass sie Sätze gesagt haben, die nur die Wenigsten so haben hören wollen: Dass es keinen Hinweis auf Fremdverschulden am Tod des jungen Engländers gibt, dass es keinen Grund gibt, die Ermittlungen zum Aktenzeichen 4437 UJs 56676/03 wieder aufzurollen.
"Ich kann es nicht ändern", sagt Ferse zu den neuerlichen Vorwürfen. "Nur immer wieder unsere Sicht, unsere Entscheidung klar stellen". Dass Jeremiahs Mutter unentwegt nachbohrt, Beweise genannte Erkenntnisse liefert, den Selbstmord nicht akzeptieren will, Medien einspannt für ihre Sicht der Dinge, in der Politik nach Verbündeten sucht, nennt Ferse "verständlich". Damit hat der Staatsanwalt auch kein Problem.
Der Mutter in ihrem Leid werde seine Behörde ohnehin nie die gewünschte Antwort liefern können, weiß er. "Wir sind nicht in der Lage, ihren Seelenfrieden wiederherzustellen". Ein Problem hat Ferse aber mit Medien, "die aus allem etwas stricken", wie er es nennt. Und Gefallen noch immer selbst an der absurden Idee finden, dass der Unfall eine Inszenierung, Jeremiah bereits vorm Überrollen tot gewesen, von Unbekannten auf die Straße gelegt worden sein könnte. Dass die Wunden von einem Schlaginstrument stammen sollen. Dass der gelbe Lehm an den Schuhen des Toten doch ein wichtiger Fingerzeig wären. Ferses Kommentar dazu - ein Seufzen.