Zuhause sterben

Ein Abschied in Würde

Von Magnus Heier

Letzter Wunsch vertraute Umgebung: Sterbebett einer Achtzigjährigen in Frankfurt

Letzter Wunsch vertraute Umgebung: Sterbebett einer Achtzigjährigen in Frankfurt

01. Dezember 2008 Anne-Kathrin hatte ein Ewing-Sarkom, einen besonders bösartigen Tumor des Knochens. Immer wieder musste sie in die Tübinger Uniklinik. Am Ende verbrachte die zuletzt Elfjährige dort mehr als fünf Monate durchgehend. Immer wieder hatten Ärzte, Schwestern und vor allem die Eltern gehofft, die Entlassung stehe unmittelbar bevor - zu Weihnachten, zu Silvester, zu Fasching oder schließlich zumindest zu Ostern. Und immer wieder hatten Komplikationen selbst einen kurzen Urlaub unmöglich gemacht. Schließlich wurde klar, dass Anne-Kathrin die Krankheit nicht überleben würde. Schlimmer noch, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.

In dieser Situation wollte sie nach Hause - unbedingt. Aber Anne-Kathrin war eine Intensivpatientin. Sie wurde beatmet, künstlich ernährt und hatte eine implantierte Pumpe zur Schmerzbekämpfung. „Wir mussten praktisch eine mobile Intensivstation bei ihr zu Hause einrichten“, sagt Matthias Kumpf, ihr Kinderarzt an der Tübinger Uniklinik. „Aber wir wollten ihr diesen letzten Wunsch unbedingt erfüllen.“ Es blieb nicht viel Zeit, doch nach wenigen Tagen waren die technischen Probleme gelöst. Die Elfjährige wurde von der Intensivstation der Uniklinik ins Wohnzimmer ihrer Familie auf einem Bauernhof in Oberschwaben verlegt. Pflegerische und ärztliche Betreuung waren organisiert, die Technik vorbereitet.

Die wichtigsten Stunden der letzten Monate

Zu Hause lebte Anne-Kathrin nur noch dreißig Stunden, aber es waren die wichtigsten der vergangenen Monate. „Es war wunderschön“, sagt ihre Mutter, „sie hat ihre Schwestern, Tanten, Onkel und Großeltern noch gesehen.“ Und die Kälber, die in den Monaten ihres Klinikaufenthalts zur Welt gekommen waren. Kurz vor ihrem Ende wollte Anne-Kathrin in ihr Kinderzimmer gebracht werden - und zog ein letztes Mal mit allem Gerät um. „Dann wollte sie zu Gott“, sagt ihre Mutter. Aber wie kommt man da hin? Mit den von ihr heiß geliebten Inlineskates etwa, wie ihr Vater vorschlug? Über diesen Unsinn musste das Mädchen lächeln - und genau in diesem Moment starb sie. Es ist unerträglich, wenn ein Kind stirbt, „aber das Ende zu Hause war etwas ganz Tolles“, sagt ihre Mutter. Den Tod ihrer Tochter in der Klinik hätte sie kaum verkraftet.

Bei aller Grausamkeit ist Anne-Kathrins Sterben eine tröstliche Geschichte. So könnte es sehr oft sein, denn der Tod kommt nicht immer plötzlich. Viel häufiger kündigt er sich langsam an. Sterben ist meist planbar. Aber es fällt Ärzten wie Angehörigen schwer, damit umzugehen. Der Sterbende selbst scheint seine Situation am schnellsten zu erkennen und zu akzeptieren. Zu der unvermeidlichen Angst vor dem Tod kommt in dieser Phase die Angst davor, im Krankenhaus sterben zu müssen. Dieser letzte Weg ist trotzdem die Regel: Jeder zweite Deutsche stirbt in Klinik, Alten- oder Pflegeheim, hieß es auf dem Deutschen Schmerztag 2008. Der Tod zu Hause ist dagegen selten, es sei denn, er kommt plötzlich und unerwartet - so schnell, dass für eine Verlegung in die Klinik keine Zeit mehr bleibt. Das geplante Sterben zu Hause ist dagegen nicht vorgesehen.

Das Sterben zu Hause ist nicht vorgesehen

Dazu fehlt den Angehörigen, aber auch den Ärzten der Mut. Der Ablauf ist fast immer derselbe: Wenn sich der Zustand eines Kranken verschlechtert, etwa mit Atemstörungen, wird der Notarzt gerufen, selbst wenn schon lange klar ist, dass es sich um einen Sterbenden handelt. Und damit beginnt eine Kette von Untersuchungen, Behandlungen und weiteren Verlegungen, die keiner gewollt hat. Es fängt an beim Notarzt: Er kann nicht anders, als den Patienten, den er nicht kennt, einzuweisen. Etwaigen Beteuerungen der Angehörigen, der Kranke wolle nicht mehr in die Klinik, kann er kaum Gehör schenken. Womöglich haben sie ganz andere Motive als das Wohl des Sterbenden - etwa dessen Geld. Aber auch wenn durch einen glücklichen Zufall der Hausarzt zu dem Kranken kommt: Obwohl er den Patienten und seine Geschichte kennt, fehlt auch ihm meist der Mut, auf eine Einweisung zu verzichten. Also kommt der Sterbende in die Klinik.

Dort verschafft sich der aufnehmende Arzt einen Überblick über die Situation des Kranken. Von der Angiographie bis zur Darmspiegelung, vom Herzkatheter über Kernspin bis zu unzähligen Blutuntersuchungen wird innerhalb kürzester Zeit intensive Diagnostik betrieben. Vielleicht wird sogar der längst verlorene Kampf um das Leben des Sterbenden wiederaufgenommen. Eine teure, sinnlose und schmerzhafte Quälerei. Am Ende aller Diagnostik ist es kaum möglich, aus der Klinik wieder herauszukommen, selbst dann, wenn Patient, Angehörige und Ärzte sich einig sind. Die Verlegung nach Hause ist schwierig. Es fängt beim Bett an. Ein normales Bett ist als Krankenbett nicht geeignet - zu niedrig, nicht automatisch verstellbar, es fehlt der „Galgen“ mit Griff, mit dem der Kranke sich selbst aufrichten und drehen kann. Krankenbetten gibt es zwar, sie werden auch von der Kasse gezahlt, aber ihre Beschaffung verläuft meist schleppend. Zwei, drei Tage braucht der Sozialdienst, manchmal länger. Diese Verzögerung wird stillschweigend akzeptiert, weil die Verlegung eines Sterbenden nach Hause nicht als Notfall gilt. Aber das genau ist sie: Denn in vielen Fällen stirbt der Patient in den drei bis fünf Tagen zwischen der Entscheidung, nach Hause zu wollen, und der tatsächlichen Verlegung.

Das Hindernis: die Angst

Das zweite Hindernis, den Sterbenden nach Hause zu holen, ist die Angst. Zumindest medizinisch ist sie meist völlig unbegründet. Die Betreuung zu Hause ist häufig besser als in der Klinik. Medizinisch zuständig ist der Hausarzt, Krankenbesuche sind Teil seiner Aufgabe - nicht Luxus, sondern Pflicht. Die entscheidende Aufgabe ist es, für eine ausreichende Schmerzbehandlung zu sorgen. Und das ist nicht schwierig: Morphium in ausreichender Dosierung reicht in fast allen Fällen für ein schmerzfreies Sterben. Starke Beruhigungsmittel können bei erschwerter Atmung die Angst nehmen. Mehr ist meist nicht nötig. „Etwa ein Drittel der Hausärzte sind dazu in der Lage und ein weiteres Drittel mit entsprechender Unterweisung“, sagt Thomas Schindler vom Palliativmedizinischen Konsiliardienst in Nordrhein-Westfalen. „Bei optimaler Betreuung könnten 80 Prozent der Patienten zu Hause sterben - was sich fast alle wünschen.“ Voraussetzung ist aber, dass der Hausarzt im Notfall 24 Stunden täglich persönlich erreichbar ist. Hat er diese Aufgabe an einen hausärztlichen Notdienst delegiert, wie die meisten Hausärzte, geht es nicht ohne ein Palliativnetz mit Notfalltelefon.

Pflegerisch helfen Pflegedienste: Es sollte weder dem Sterbenden noch seinen Angehörigen gegen deren Willen zugemutet werden, zu waschen und zu betten. Pflegedienste übernehmen auch die Aufgabe, Spritzen zu setzen. Die Angehörigen können dies tun, sie müssen es aber nicht. Auch die entsprechende Ausstattung des Krankenzimmers ist kein Problem: Pflegeartikel, Medikamente, Wechseldruckmatratze besorgt der Pflegedienst. Es ist viel leichter, aus einem Schlafzimmer ein Pflegezimmer zu machen, als aus einem Krankenzimmer in der Klinik ein Sterbezimmer.

Das Geld wurde nicht abgerufen

Problematisch kann es bei der Bezahlung werden: Seit wenigen Monaten soll ein neues Gesetz mehr Geld in das System pumpen, um die Betreuung der Schwerstkranken zu Hause zu finanzieren: Das Gesetz über die „spezielle Palliativversorgung“ sieht vor, dass sich auf Palliativmedizin spezialisierte Ärzte zu Netzen zusammenschließen und die Betreuung solcher Patienten übernehmen. Das Wichtigste: Ein solches Palliativnetz muss eine 24-Stunden-Hotline bereithalten, so dass die Angehörigen von Schwerstkranken dort kompetente Hilfe bekommen.

Ende März hat der gemeinsame Bundesausschuss definiert, welche Leistungen konkret erbracht werden sollen. Ende Juni haben die Spitzenverbände der Krankenkassen entschieden, welche Voraussetzungen die Palliativnetze erbringen müssen. Seither streiten sich die Beteiligten ums Geld: Mediziner gegen Kassen, Klinikärzte gegen niedergelassene Kollegen. Das Resultat ist deprimierend: Obwohl der Gesetzgeber den Kassen vorgeschrieben hat, in diesem Jahr 130 Millionen Euro allein für die speziellen Palliativleistungen zurückzulegen, wurde von diesem Geld bisher fast nichts abgerufen.

Die Nummer wird überraschend selten angerufen

Dabei hat jeder Versicherte ein Recht auf intensive Betreuung zu Hause: Wenn die schwere Erkrankung eines Patienten vermutlich in den nächsten Wochen zum Tode führen wird, kann der Hausarzt oder der Krankenhausarzt ihn in einem Palliativnetz anmelden. „Wir werden diesen Patienten innerhalb von 24 Stunden besuchen und mit ihm und den Angehörigen besprechen, was wir tun können und sollen“, sagt Armin Saak, einer der Gründer des Palliativnetzes im niedersächsischen Gifhorn. Pflege wird organisiert, medizinische Betreuung, Schmerzbehandlung. Vor allem aber steht ab sofort ein Notfalltelefon zur Verfügung, das durchgehend, 365 Tage im Jahr tagsüber wie nachts erreichbar ist. „Diese Nummer wird überraschend selten angerufen. Aber dass man jederzeit anrufen kann, nimmt den Angehörigen die große Angst vor unbeherrschbaren Situationen“, sagt Saak. Der Erfolg: „Im Durchschnitt sterben 60 bis 80 Prozent der Deutschen im Krankenhaus. Von den bei uns betreuten Patienten sind dagegen 92 Prozent zu Hause verstorben - mit einer Betreuung, die in der Regel viel besser als die im Krankenhaus war.“ Das Gifhorner Netz besteht aus neun Palliativmedizinern, zwanzig Krankenschwestern, einem ambulanten Pflegedienst, Krankenhäusern, Hausärzten, einem Hospizverein und den Kirchen.

Was aufwendig klingt, spart in Wirklichkeit Geld. Denn ein zu Hause intensiv betreuter Sterbender wird nicht so leicht wieder in die Klinik eingewiesen. „Ein Notarzteinsatz kostet ungefähr 500 Euro, ein Krankenhausaufenthalt mindestens 3000 Euro - denn es wird nach Diagnosen abgerechnet, und ein Sterbender hat viele Diagnosen“, sagt Matthias Thöns vom Bochumer Palliativnetz. „Wir haben ein 24-Stunden-Telefon, über das wir medizinische, pflegerische und soziale Ratschläge geben können. Entscheidend ist, dass wir die Daten der Patienten in einer Datenbank gespeichert haben, so dass die Schwester oder der Arzt jederzeit genau Bescheid wissen.“ Und genau diese Notfallnummer kann verhindern, dass der Sterbende bei jeder Atemnot wieder in die Klinik eingewiesen wird.

Es ist auch ein Akt der Selbstbestimmung, die letzten Tage oder Wochen in vertrauter Umgebung zu verbringen. Das hat sogar die elfjährige Anne-Kathrin gespürt. Sie hat selbst entschieden, in ihrem Kinderbett zu sterben, nachdem sie ihre Familie noch einmal gesehen hatte. Wie erbärmlich wäre es gewesen, wenn sie ihre letzten Stunden in einer Notaufnahme verbracht hätte.



Text: F.A.S.
Bildmaterial: Frank Röth

FAZ.NET Suchhilfe
F.A.Z.-Archiv Profisuche