Kel Carruthers - Von Sydney nach Kalifornien

Es war Sonntag, der 14. September 1969. Mit Ausnahme der 50ccm- und der Viertelliter-Klasse waren alle Titel in der Motorrad-Weltmeisterschaft des Jahres schon vergeben. Schauplatz der letzten Entscheidungen war der für seine Gefährlichkeit bekannte und erstmals im WM-Kalender befindliche, direkt an der Adria gelegene Kurs von Opatija.

Während bei den "Tiddlern" (Aalt Toersen auf Kreidler verlor den Titel durch Ausfall noch an Angel Nieto und seine Derbi) bereits eine Beschränkung auf einen Zylinder erfolgt war, verschonte die FIM die 250er noch mit ihren technischen Restriktionen. Ein breites maschinelles Spektrum - von der Einzylinder-Ossa bis zur Vierzylinder-Benelli - prägte so noch einmal die Szene. In elf WM-Läufen hatte es mit Santiago Herrero (Ossa/3), Kent Andersson (Yamaha/2), Kel Carruthers (Benelli/2), Renzo Pasolini (Benelli/3) und Phil Read (Yamaha/1) fünf verschiedene Sieger gegeben. Da Read nur sporadisch am Start war und Pasolini sturzbedingt in mehreren Läufen nicht starten konnte, kamen für den Titel nur noch die drei Erstgenannten in Frage.

Kel Carruthers hatte erst zum vierten Lauf, dem Rennen um die Tourist Trophy auf der Insel Man, ins Geschehen eingegriffen. Der Vertrag mit Benelli war auch deswegen zustande gekommen, weil deren eigentlicher Favorit Renzo Pasolini außer Gefecht war und zudem noch bei null Punkten dastand. Kel rechtfertigte das Vertrauen der Leute aus Pesaro, die auch Phil Read auf eine ihrer 4-Zylinder gesetzt hatten, und gewann mit mehr als drei Minuten Vorsprung auf Frank Perris (Crooks-Suzuki). Italienischer "Patriotismus", der Landsleuten immer den Vorzug geben wird, machte seine Aufgabe in der Folge aber keinesfalls leichter. Ab Assen war Renzo Pasolini - immer ein Kandidat für den Sieg wie auch für sturzbedingte Ausfälle - wieder dabei. Er siegte in Holland und später auch am Sachsenring sowie in Brünn. Im darauffolgenden Lauf in Imatra beendete dann aber ein erneuter schwerer Sturz seine Saison. Nun war Kel alleiniger Benelli-Vertreter und tat sein Bestes. Mit dem Sieg beim Ulster Grand Prix und dem 2. Platz in Imola - ganze 2/10 Sekunden hinter Phil Read auf Yamaha - erhielt er seine Titelchancen.

Zurück zum 14. September. Gilberto Parlotti war zu Carruthers Rückendeckung von Benelli engagiert worden. Im Verlauf des dramatischen Rennens stürzte der verletzt angetretene Santiago Herrero, in Führung liegend und Kent Andersson wurde kurz vor Schluss in gleicher Position Opfer eines Tankschadens an seiner Yamaha, der ihn auf Platz 3 zurückwarf. Die Benellis überquerten in der Reihenfolge Kel Carruthers und Gilberto Parlotti die Ziellinie - der Australier war damit Weltmeister. Mögen ihm die Zwischenfälle im letzten Lauf auch geholfen haben, am Verdienst des Titelgewinnes gibt es bei Betrachtung aller Umstände wohl keinen Zweifel.

Kelvin Carruthers, der nach Keith Campbell und Tom Phillis dritte australische Motorrad-Straßen-Weltmeister, wurde am 3. Januar 1938 in Sydney als einziges Kind seiner Eltern Jack und Lil geboren. Er wuchs im Vorort Gladesville, umgeben von Motorrädern, auf. Sein Vater - ein bekannter Speedway-Seitenwagenfahrer - unterhielt ein Motorradgeschäft mit Werkstatt. Nach Absolvierung der Schulzeit arbeitete Kel im Geschäft des Vaters und erwarb einen Motorradführerschein, der allerdings gemäß seinem Alter Einschränkungen enthielt. Wie auch immer, er war nun dazu legitimiert, Harley-Davidson-Motorräder der australischen Armee zu testen (sein Vater hatte einen interessanten diesbezüglichen Vertrag abschließen können, der noch lange bestand). Und in der Folge bekam er die Möglichkeit, an Rennen teilzunehmen. Allerdings hatte die Tätigkeit im väterlichen Geschäft noch den Vorrang, und erst nach seinem 23. Geburtstag - also 1961 - wurde er Berufsrennfahrer. Die Hochzeit mit Freundin Jan fand schon 1957 statt, als Kel gerade mal 19 Jahre "alt" war; für australische bzw. neuseeländische Verhältnisse war (und ist) das nichts Außergewöhnliches.

Ein für Kels spätere Laufbahn wesentlicher Moment war der Eintritt von Honda in den australischen Motorradmarkt. Bekanntlich gehört die Marken-Publikation der Japaner über Rennerfolge zu deren Marketingstrategie. Sechs Replicas der 250-ccm-Werksmaschine standen in Australien zur Verfügung, eine davon dem Generalvertreter Bennett&Wood. Kel hatte sich schon einen guten Ruf auf den australischen Rennstrecken erworben, und so kam die Vergabe dieser Maschine an ihn nicht überraschend. Übrigens: er besitzt dieses Motorrad noch heute!

Kel Carruthers und Honda waren eine Kombination, die in den darauffolgenden fünf Jahren das Geschehen auf Australiens Rennstrecken beherrschte. Hatte er seine Aktivitäten im Prinzip bisher auf den Raum um Sydney begrenzt, fuhr er nun - auch einer Bitte von Honda entsprechend - Rennen in ganz Australien. Zwischen 1961 und 1965 startete er 161 mal, das Resultat sucht seinesgleichen: 115 Siege, 27 zweite und 7 dritte Plätze. 10 australische Meistertitel und 17 Siege im generell auf der Strecke von Bathurst ausgetragenen Großen Preis von Australien runden das Bild ab. 1964 und 1965 siegte er in Bathurst in allen vier Soloklassen. Seine Untersätze waren neben der schon erwähnten, natürlich ständig verbesserten Version der 250-ccm-Honda eine 2-Zylinder-125-ccm Maschine des gleichen Fabrikates sowie eine Norton Manx 500.

Ermutigt durch seine Erfolge, hatte Kel schon 1963 mit dem Eintritt in die europäische Rennszene geliebäugelt. Sein Vater aber appellierte an seine Vernunft. Tochter Sharon Maree und ein Jahr später Sohn Paul Kelvin waren geboren, und Kel akzeptierte das (groß)väterliche Argument, wonach die Kinder für eine solche Veränderung noch zu klein seien.

1966 aber war es dann so weit. Und nicht nur Kel, Jan und die Kinder, sondern auch Kels Eltern wechselten für eine ganze Rennsaison nach Europa. Zu diesem Zweck hatte Vater Carruthers sogar sein Geschäft verkauft. Während Kel und Jack im zeitigen Frühjahr 1966 nach England flogen, nahmen die beiden Frauen mit den Kindern den Seeweg nach Neapel. Kels Maschinen waren eine 125-ccm-Honda CR 93 und zwei Norton Manx.; die 250er Honda ließ er in Australien. In England wurden ein den Rennbedürfnissen entsprechender Transporter sowie für Jack und Lil ein VW Caravan gekauft.

Den Auftakt seines Engagements im Continental Circus bildeten sechs italienische Frühjahrsrennen, das erste davon in Riccione. Die WM 1966 war geprägt durch große Startfelder, durchsetzt mit Werksmaschinen. Und Honda versuchte mit aller Macht, auch den "Königstitel" - den der 500er Klasse - zu erobern. Kel wusste, dass für Privatfahrer bei normalen Rennverläufen bestenfalls Ehrenplätze möglich waren. In Australien noch der absolute Dominator, musste er nun erst mal mit "kleineren Brötchen" zufrieden sein. Zwar bildete er mit John Dodds und Malcolm Stanton das offizielle australische Isle-of-Man-Tourist-Trophy-Team (11. Platz in der Senior), der 4. Platz im finnischen 350-ccm-Grand Prix war aber der einzige Punkterang und damit das Beste seiner ersten WM-Saison.

1967 - die Eltern waren nach Australien zurückgekehrt - klopfte er dann schon mal wieder an die Siegerpodeste, u.a. mit einem 4. Platz im 350er-Rennen auf dem Sachsenring. Etwas dafür sehr Wesentliches beschreibt er selbst so: "Den besten Wechsel vollzog ich Anfang 1967. Ich war einer der ersten, die einen der erstklassigen Aermacchi-Motoren bekamen. In Kombination mit einem Rickman-Metisse-Rahmen und einer Ceriani-Aufhängung hatte ich nun ein Motorrad zur Verfügung, mit dem die Privat-Konkurrenz sehr gut in Schach gehalten werden konnte". Die WM-Gesamtränge acht (125 ccm) und sieben (350 ccm) waren das Resultat kontinuierlich guter Platzierungen.

In Erkenntnis von Kel Carruthers´ fahrerischem Potential gab Aermacchi dem Australier vor Saisonbeginn 1968 eine der speziellen 350er-Maschinen, wobei das vom Werk verwendete Drixl-Fahrgestell sich als erstklassig erwies. Der Aufwärtstrend hielt an und nun klopfte er nicht nur an die Podeste, er stand mehrfach mit darauf. Erstmals am 21.April nach dem auf der Südschleife des Nürburgrings ausgetragenen Großen Preis von Deutschland, gemeinsam mit dem Sieger Giacomo Agostini (MV-Agusta 350 ccm) und dem Zweiten, Renzo Pasolini (Benelli). Auf der Insel Man distanzierten ihn zwar Phil Read und Bill Ivy mit ihren übermächtigen 4-Zylinder-125-ccm-Yamahas, aber wieder wurde er mit zur Siegerehrung gerufen. "Seine" Klasse des Jahres aber war eindeutig die 350er - im Ulster Grand Prix ließ er nur "Ago" mit der MV-Agusta den Vortritt; Brian Steenson, Frantisek Stastny, Derek Woodman und Billie Nelson ließ er klar hinter sich. Und auch am Sachsenring wurde die australische Flagge gehisst - Kel war Dritter geworden. Den gleichen Rang belegte er dann in der WM-Gesamtwertung.

Was die Situation im "Team Carruthers" anging, so sind Kels Ausführungen interessant: "Mein Vater half mir im ersten Jahr mit der Betreuung der Maschinen, aber bis 1969 war Jan meine wesentlichste Hilfe. Manchmal fand ich einen Helfer, der mir zumindest solche Sachen wie den Reifenwechsel im Dunlop-Zelt abnahm. Aber wenn wir unterwegs waren, wäre es ein zu großen Risiko gewesen, irgend jemand anderes fahren zu lassen. Alles, was wir in Europa unser eigen nennen konnten, hatten wir bei uns - den Transporter, die Motorräder und den Wohnwagen".
Nach Saisonschluss, er hatte die "Castrol Challenge Trophy", die mit einer für damalige Zeiten stattlichen Summe von 500 Pfund Sterling dotiert war, gewonnen, fuhr die Familie Carruthers über den europäischen Winter nach Australien.

Aermacchi war von Kels Leistungen sehr angetan, und das Werk offerierte ihm für 1969 den Start auf drei Werksmaschinen. Es handelte sich um einen 125-ccm-Einzylinder-Zweitakter, eine Spezial-Kurz-Hub-350er und eine auf 382 ccm aufgebohrte Version dieser Maschine für den Start in der Halbliterklasse. Nun war er Werksfahrer.

Im Frühjahr 1969 zurückgekehrt nach Europa, begann die Saison traditionsgemäß mit den italienischen Frühjahrsrennen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Kel wohl in keiner Weise, wie das Rennjahr sich entwickeln würde. Interessant auch, wie das Problem des Unterrichtes von Sharon und Paul, die mittlerweile im schulpflichtigen Alter waren, gelöst wurde. Graham Hayton, ein Freund der Familie, übte seinen Lehrerberuf ab Frühjahr 1969 nun operativ aus. Er begleitete Familie Carruthers und machte sich dabei gleichzeitig als Rennhelfer nützlich.

Zum WM-Saisonauftakt in Jarama fuhr Kel die 350er Aermacchi auf den 2. Platz. Mehr war objektiv nicht möglich - in dieser Zeit gewann Giacomo Agostini alle Rennen, in denen er startete.

Nach den Läufen in Hockenheim (6. Platz 350 ccm/8. Platz 500 ccm) und Le Mans, wo Kel wegen der nicht ausgeschriebenen 350er Klasse auf den Start verzichtete, landete der Renntross auf der Insel Man. Am dritten Trainingstag zu den T.T.- Rennen absolvierte er eine Runde auf dem Mountain-Kurs mit über 100 Meilen/Stunde. Das war damals - zumal mit einer Aermacchi - ein außergewöhnliches Ereignis.

Bei Benelli war man mit dem bisherigen Saisonverlauf alles andere als zufrieden. Nach drei WM-Läufen war der siebente Platz von Eugenio Lazzarini in Le Mans die einzige Ausbeute. Zwischen Erwartungshaltung und Realität klaffte eine so große Lücke, dass die Firma aus Pesaro nach einer Lösung suchte. Und da diese nicht im eigenen Lande gefunden werden konnte (auch Walter Villa war in Le Mans nicht ins Ziel gekommen), war man offener denn je. Mit großer Aufmerksamkeit hatte man die Leistungen des bei der Aermacchi-Konkurrenz unter Vertrag stehenden Australiers registriert und unterbreitete ihm das Angebot, neben Phil Read eine der 250 ccm-4-Zylinder-8-Ventiler zu fahren. Kel fühlte sich wie im siebten Himmel - zwei italienische Werke waren an seinen Diensten interessiert. Und das Benelli-Angebot reizte ihn ungemein. Er erbat von Aermacchi die Erlaubnis, die Maschine der italienischen Konkurrenzfirma fahren zu dürfen. Diese gestatteten es, in erster Instanz allerdings in Verbindung mit der Maßgabe, dass er nicht vor deren 250er-Werksfahrer Angelo Bergamonti einkommen dürfe. Diese Auflage ließen sie aber dann auf Kels Argument hin, dass dieses aber dann ganz sicher andere tun würden, fallen. Der Weg war frei. Die weitere Entwicklung der 250-ccm-Saison 1969 wurde schon eingangs dargestellt. Erwähnenswert ganz sicher noch, dass Aermacchi sich absolut fair verhielt und Kel aus seinen Verpflichtungen entließ. Unter Berücksichtigung der vollen Konzentration auf die Benelli-Interessen sind die WM-Gesamtränge sieben (350 ccm) und zehn (125 ccm), mit denen er jeweils bester Aermacchi-Fahrer wurde, durchaus beachtlich.

Ab 1970 waren dann Maschinen mit mehr als 2 Zylindern durch das FIM-Reglement aus der WM der drei kleineren Klassen verbannt worden. Benelli nahm Kel nun für die 350er unter Vertrag, und sie zahlten ihm gleich die volle Vertragssumme aus. Für ihn war damit die Möglichkeit gegeben, sich sein Wunschauto - einen Mercedes Benz 280 S - zu kaufen. Und auf Jans Wunsch hin war es ein Fahrzeug mit automatischem Getriebe. Als Mechaniker hatte er nun Nobby Clark an seiner Seite, der gleichzeitig Chauffeur des Renntransporters war. In diesem befanden sich eine neue 250-ccm- und eine "gebrauchte" 350-ccm-Yamaha. Schon 1969 hatte er auf die Maschinen von Kent Andersson und Rodney Gould "ein Auge geworfen". Und Letztgenannter, der zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Saisonverlauf 1970 ahnen konnte, empfahl ihm die "Quelle": Don Vesco in Kalifornien, später Halter des absoluten Geschwindigkeits-Weltrekordes für Motorräder. Der Kontakt mit dem Kalifornier war ein richtungsweisender Moment im Leben der Familie Carruthers. Er bot Kel an, im Zusammenhang mit der Übernahme der Yamahas in Daytona für ihn zu fahren. Dieser ergriff die dargebotene Hand und erfreute sich und seinen neuen Gönner durch den Sieg im 250er-Rennen. Einen Erfolg im legendären 200-Meilen-Rennen verhinderte eine gebrochene Kurbelwelle an der 350er Yamaha, in Führung liegend. Anläßlich dieses Kalifornien-Aufenthaltes wurden auf jeden Fall die Weichen für die Zukunft gestellt. Don Vesco offerierte ihm das Angebot, nach Beendigung seiner europäischen Rennkarriere für ihn tätig zu sein, wie auch immer. Was ja dann auch geschah.

Nun, außer der Renntätigkeit war da auch noch die Familie. Die Unterrichtung der Kinder übernahm der Weltmeister nun selbst, und zwar mittels eines Fernunterrichtes. Er erläuterte den Kindern die Aufgaben und schickte die Ergebnisse dann zur Korrektur nach Australien (oh, wie nützlich wäre da eine Einrichtung wie das Internet gewesen, von dem man damals noch nicht mal träumte!).

Zurück in Europa, verband Benelli seinen Renneinsatz mit der Hoffnung, dass Pasolini oder Carruthers Agostini den Titelgewinn streitig machen könnten. Mit der zur Verfügung stehenden Technik - konstruktiv grundsätzlich aus 1959 - war das aber von vornherein illusionär. Kel hatte sich aus dieser Erkenntnis heraus eine wichtige Vertragsklausel ausbedungen; diese sicherte ihm optional das Recht, den Vertrag zu beenden, wenn bis Mitte der Saison kein konkurrenzfähiges Motorrad zur Verfügung stünde.

Der 350-ccm-Saisonauftakt mit zweiten Plätzen auf dem Nürburgring und in Opatija war gut. Aber er war offensichtlich auch dazu angetan, dass sich die Benelli-Leute in Selbstzufriedenheit wiegten und die weitere Entwicklung nicht vorantrieben. Kel ahnte nichts Gutes, und er war auch nicht bereit, technische Defizite weiterhin durch nicht zu verantwortende fahrerische Risiken auszugleichen.

Während die 350er Yamaha zugunsten der Benelli noch im Transporter schlummerte, bewährte sich ihre "kleine Schwester" schon. Wie könnte man die WM-Saison besser beginnen als mit einem Sieg?!? Diesen erzielte unser Australier auf der Nürburgring-Nordschleife. Rodney Gould, sein Dauerkontrahent in dieser 250er Saison, war schon in der ersten Runde ausgefallen. Der Trend hielt aber in keiner Weise an. Für Rodney erwies es sich als klarer Vorteil, dass er eine von Yamaha Motor N.V. betreute Semi-Werksmaschine pilotierte. Im Gegensatz zu Kel Carruthers´ Maschine, die nur mit einem 5-Gang-Getriebe und Magnet-Zündung ausgerüstet war, besaß des Engländers Motorrad ein 6-Gang-Getriebe und elektronische Zündung. In den auf den deutschen Grand Prix folgenden sieben Rennen fiel Kel viermal aus. Häufigste Ursache: Zündungsschaden.

Aus der Unzulänglichkeit der Zündung resultierten auch permanente Startprobleme. Aber wenn es einmal nicht "klemmte", dann bewies der Australier seine große Klasse. Zum Beispiel auf der Insel Man, wo er auch letztmals die 350er Benelli an den Start brachte und mit ihr ausfiel, hatte Gould als Zweiter mehr als drei Minuten Rückstand. Und in Brünn, wo Kel erstmals eine kurzfristig in Deutschland beschaffte Kröber-Zündung verwendete, egalisierte er die trotzdem vorhandenen Startprobleme durch eine fantastische Fahrt. Dass auch Rodney Gould nicht permanent vom Glück begleitet war, schlug allerdings dort zugunsten des Australiers aus: der Engländer fiel, schon hinter Kel liegend, mit Getriebeschaden aus. Eine Woche vorher noch hatte der Titelverteidiger die 250 000 Zuschauer am Sachsenring begeistert, als er - ebenfalls miserabel gestartet - bereits in der sechsten Runde die Führung übernommen hatte. Gould blieb ihm aber im Nacken, und offenbar war die Carruthers zur Verfügung stehende Technik dieser Parforcejagd nicht gewachsen. Drei Runden vor Schluss fiel er aus. Rodney Gould gewann, wie dann auch in Finnland, aber Kel Carruthers erhielt seine Chance zur Titelverteidigung durch den Sieg im Ulster Grand Prix am Leben.

Zum Großen Preis von Italien in Monza reiste Rodney Gould mit fünf Siegen, zwei 2.Plätzen und einem 3. Rang an; er hatte nur zwei Ausfälle auf seinem Konto. Sein australischer Rivale und Titelverteidiger brachte es auf 4 Siege und einen 2.Platz, nannte aber fünf Ausfälle "sein Eigen". Dass die Entscheidung überhaupt noch ausstand, war das Ergebnis der seinerzeit angewandten Regel, wonach nur die besten sieben Resultate gewertet wurden. Demnach hatte Rodney Gould 99 Punkte auf seinem Konto, Kel Carruthers 72. Ganz einfach: wenn Kel die beiden noch ausstehenden Läufe gewinnen würde, hätte er sechs Siege und einen zweiten Platz bzw. 102 gewertete Punkte gehabt. Und Rodney wäre bei maximal 99 Zählern stehen geblieben.

Die Praxis sprach ihre eigene Sprache. Am Ende eines hochdramatischen Rennens - Kels Kondition und letztlich auch Risikobereitschaft waren wiederum durch eine übermäßig lange Anschubphase strapaziert worden - nutzte dem Titelverteidiger auch die Schützenhilfe von Phil Read nichts. Dieser war bekanntlich 1968 im Zwist von Yamaha geschieden und darauf aus, den werksunterstützten Gould einzubremsen; dessen Zweizylinder lief aber ausgezeichnet. Obwohl Carruthers das Startmanko durch eine erneut grandiose Aufholjagd egalisiert hatte und sogar in Führung gegangen war, ließ sich Gould nicht abschütteln. Er holte die Führung zurück, überquerte das Ziel mit 3/100 Sekunden Vorsprung und war Weltmeister 1970. Sportlich fair, würdigte Kel Carruthers die Leistung seines Widersachers: "Er war heute der Größte und hat das Rennen, auch wenn er die schnellste Yamaha besaß, auf Grund seines Fahrkönnens gewonnen!".

Zurück zum weiteren Ablauf in der 350-ccm-Klasse. Der Ausfall in der Junior T.T. hatte dazu geführt, dass Kel von seiner Option Gebrauch machte und den Benelli-Vertrag löste. Ab Assen, wo er Vierter wurde, war die größere Don-Vesco-Yamaha von ihrem Transporter-Dasein erlöst. Die dann folgenden Platzierungen (Dritter auf dem Sachsenring und jeweils Vierter in Brünn und Imatra) sicherten ihm den Vizeweltmeistertitel auch in dieser Klasse, Pasolini und seine Benelli auf Platz 3 verweisend. In Ulster war er in der ersten Runde ausgeschieden, in Monza startete er aus begreiflichen Gründen im 350er Rennen nicht, und auf die Spanien-Reise wurde infolge des vorherigen Geschehens verzichtet.

Schon im Laufe der Saison 1970 waren Kel und Jan zu der Auffassung gekommen, dass fünf Jahre intensivsten "Nomadenlebens" im Continental Circus genug seien. Sie beschlossen, von Don Vescos Angebot sowohl bezüglich der Rennen als auch der Arbeit in dessen Firma Gebrauch zu machen und dann nach Australien zurückzukehren. Der Zeitpunkt der Ankunft in Kalifornien konnte nicht günstiger sein - die USA befanden sich förmlich in einem Motorrad-Boom, und die Start- bzw. Preisgelder ließen Europa fast wie ein Armenhaus erscheinen. Firmen wie Suzuki, Kawasaki, BSA-Triumph und Harley-Davidson hatten eigene Teams; Yamaha war zwar mit keinem Team, wohl aber ab sofort durch die von Kel Carruthers gefahrenen Don-Vesco-Maschinen präsent.

Kel hatte ein sehr gutes Jahr 1971. Er wiederholte seinen 250-ccm-Erfolg von Daytona aus dem Vorjahr und gewann sechs der restlichen sieben nationalen Rennen dieser Klasse. Als historisch ist der Sieg im 750-ccm-AMA-Rennen von Atlanta in Georgia zu bewerten. Mit einer 350er-Yamaha besiegte er nicht nur das gesamte Feld der großvolumigen Motorräder, er erzielte auch den überhaupt ersten Yamaha-Sieg in einem AMA-Grand-National-Rennen. Kel selbst kommentierte das Jahr aus ökonomischer Sicht so:"Ich verdiente 1971 mehr Geld als vorher in vier europäischen Rennjahren. Als wir nach Kalifornien gingen, wollten wir nicht länger als ein Jahr bleiben. Aber am Ende der Saison boten mir sowohl Yamaha als auch Kawasaki Verträge an. Ich unterschrieb den Vertrag der mir mittlerweile angestammten Firma, und wir blieben in Kalifornien".

Zwei Jahre fuhr Kel noch und gewann beispielsweise 1972 vier der sechs nationalen 250er Rennen. Und er widmete sich auch der Aufgabe, junge Talente zu sichten und zu fördern. Einer dieser Fahrer sollte bald sehr auf sich aufmerksam machen - Kenny Roberts.

Im letzten Jahr seiner aktiven Laufbahn erzielte Kel noch sehr beachtliche Resultate. So wurde er Zweiter hinter Jarno Saarinen in den 200 Meilen von Daytona und gewann das AMA-National-Road-Race in Talladaga, Alabama.

Von Mitte 1973 an - er war nun 35 - wurde seine Hauptaufgabe die des Teammanagers. Und ab 1978 war Kenny Roberts dann sein Schützling in der WM. Seine technische Genialität ließ ihn unverzichtbar werden. Kenny Roberts brachte das so zum Ausdruck: "Kel ist einer der besten und absolut fähigsten Menschen im Fahrerlager. Er kann Dinge bewerkstelligen wie kein anderer". Eddie Lawson bestätigte das mit Nachdruck: "Wann immer wir Probleme hatten, auf Kel war absoluter Verlass. Seine technischen und organisatorischen Fähigkeiten waren großartig, ganz abgesehen von seinen menschlichen Qualitäten". Als Eddie im Agostini- Malboro-Yamaha-Team fuhr, hatte dieses seine Basis im italienischen Bergamo; Familie Carruthers war damit auf Zeit zurück in Europa!

Innerlich blieb Kel immer Australier. Er benutzte für seine umfangreichen Reisen den australischen Pass, und er half australischen Rennfahrern wo immer es notwendig und möglich war. 1988 ehrte ihn sein Heimatland in einer Form, wie es aus der Motorradsportszene vorher nur Harry Hinton sr. und dem Speedway-Ass Arthur Wilkinson zuteil geworden war. Er wurde in Australiens Sport-Ruhmeshalle des 20. Jahrhunderts aufgenommen.

Wer den dynamischen Kel kennt, würde verwundert sein, wenn es anders wäre: er ist noch immer im Motorradgeschäft tätig. Gemeinsam mit Frau Jan sowie Tochter Sharon und deren Tochter Danielle lebt er in einem Haus im kalifornischen Murrieta. Um den Nachwuchs ist es überhaupt gut bestellt; Sohn Paul, ebenfalls in Kalifornien ansässig, hat die Kinder Karly und Kylie. Und zum Haushalt der jüngsten Carrutherschen Tochter Kerry gehören Ethan und Catherine.

Als ich am 6. Juni 2007 in London-Gatwick das Flugzeug in Richtung Insel Man bestieg, stutzte ich einen kurzen Moment. Da saßen doch - ja, es waren Kel und Jan Carruthers. Und wir trafen uns im Rahmen der Feierlichkeiten zu "100 Jahre Isle-of-Man-T.T." noch mehrfach - Erlebnisse, die ich nicht vergessen werde.

(Text: Frank Bischoff Fotos: Archiv Paul Butler, Archiv Frank Bischoff, Archiv Helmut Ohner)

 


Auf der Norton 500 beim WM-Lauf auf dem Sachsenring 1966

Kel mit Tochter Sharon und Mimo Benelli

Sachsenring 1970: Pasolini, Agostini, Carruthers, Nelson (v.l.n.r.)

Abstecher nach Österreich - Doppelsieg auf dem Österreichring

Auf Siegesfahrt in Daytona 1971

Kel mit Schützling Kenny Roberts