Joseph Beuys: 7000 Eichen - Werkbetrachtung in Klassenstufe 13

Beuys pädagogisches Konzept als Begründung für die Methodenkonzeption eines sinnlich-interdisziplinären Vermittlungsverfahrens

Vorbemerkung

"Auf der documenta habe ich erfahren, die meisten Menschen glauben Kunst verstandesmäßig begreifen zu müssen. Die Erlebnisorgane sind vielen schon abgestorben. Es sollten Begriffe gebildet werden, die an dieser Bewußtseinslage anknüpfen, um über ganz andere Kraftzusammenhänge zu sprechen." (Beuys, zit.n. Harlan, Rappmann, Schata, S.39) Und: " Man muß doch in größeren Zusammenhängen denken... Der Kunsterzieher müßte... so gebildet sein, daß er weiß, wie sein Fach mit anderen zusammenhängt. Im Grunde müßte der Kunstunterricht, auch für die Schüler, das schwierigste Fach sein." (Beuys zit.n. Stachelhaus, S. 106)

Beide Statements Beuys' zu seinem Verständnis von Kunsterziehung verweisen auf ein perzeptives, d.h. sinnlich wahrnehmendes und auf ein interdisziplinäres Rezeptions- und Vermittlungsverfahren von Kunst. Beuys verwirft darin die gängige, analytisch-deduktive kunstpädagogische Vermittlungspraxis, wie sie an Schulen praktiziert die Kinder meistens nur "verbildet". Beuys pädagogisches Konzept stellt nämlich einen vielfältigen Entwurf dessen vor, was er von Kunst- bzw. Kreativitätsunterricht, vom Kunst-Lehrer und von einer Bildungsinstitution erwartet, welches Potential zur Verwirklichung echter "Menschenbildung" er einem verantwortungsvollen Unterricht zuweist.

Die Beuyssche Auffassung von ästhetischer Erziehung und wie sich diese im konkreten Unterricht realisieren lässt ist Gegenstand dieses Beitrages. Der erste Teil, in dem Beuys' pädagogisches Konzept vorgestellt wird, liefert die Begründung für die Methodenkonzeption der im dritten Teil vorgetragenen Unterrichtseinheit zur Werkbetrachtung der Aktion "7000 Eichen", deren mögliche Deutung im zweiten Teil umrissen wird. Dass es sich bei der Unterrichtseinheit nur um eine reduzierte Umsetzung des Beuysschen kunstpädagogischen Rezeptionskonzeptes handeln kann, ist selbstredend, wenn man sich die Komplexität des erweiterten Pädagogikbegriffs vor Augen hält, wenn man den Zeittakt begrenzter Unterrichtsstunden und den Umstand eines punktuellen, vierstündigen Unterrichtsbesuchs von Studierenden der Kunstpädagogik in einer Klassenstufe 13 berücksichtigt.

Zunächst soll Beuys' Konzept von der ästhetischen Erziehung des Menschen durch Kunst, für das er konkrete pädagogische Ziele formuliert hat, erläutert werden.

Kontext

1. Zu Beuys' pädagogischem Konzept

In einer Reihe von Interviews beschreibt Beuys seine Vorstellung von Kunstpädagogik und ästhetischer Erziehung, der er "große, ja entscheidende Bedeutung beigemessen hat" (Stachelhaus, S. 103) und der er eine Konzeption von der grundsätzlichen Bildbarkeit und Erziehbarkeit des Menschen voranstellt. Zentrale Positionen sind in folgender Übersicht verkürzt zusammengefasst:
(Eine hervorragende Einordnung des "Erweiterten Kunstbegriffs" und der Beuysschen Gestaltungslehre gibt Günter Regel in seinem Aufsatz "Joseph Beuys - aktuelle und fortdauernde Herausforderung der Kunstpädagogik" in K+U 159/1992)

1. Beuys pädagogischer Entwurf gründet auf dem Gedanken von der unbedingten Erzieh- und Bildbarkeit des Menschen. Da der Mensch sowohl endogen als auch exogen bestimmt ist, kann er sich eigenverantwortlich mit den inneren und äußeren Bedingungen seiner Existenz auseinandersetzen. Er kann erzogen, d.h. "plastisch geformt" werden. Beuys dazu: "Der Mensch muß richtig gebildet, das heißt durchgeknetet werden. Er muß regelrecht von einer Ecke zur anderen durchgeknetet werden. Er ist bildsam, plastisch formbar. Und durch das heutige Bildungsprogramm werden die Kinder meistens verbildet." (Beuys zit. nach Stachelhaus, S. 106)
2. Allererste Voraussetzung für ein erweitertes Erziehungsprogramm ist für Beuys die Revolutionierung des Bildungswesens, meint die Veränderung von Organisationsstruktur, Methoden und Inhalten von Unterricht und die völlige Unabhängigkeit der Schulen und Hochschulen von der Bevormundung durch den Staat. Prototyp ist die 1974 von Joseph Beuys und Heinrich Böll gegründete "Freie Internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung".
3. Kunsterziehung im Sinne Beuys bedeutet anthropologische Bildung, d.h. sie thematisiert Menschsein immer im natur- wie geisteswissenschaftlichen Kontext; ihr geht es primär um "Menschenbildung", die den ganzen Menschen , sein Selbst- und Weltverständnis zum Gegenstand hat, indem sie fächerumfassend Geschichte, Kunst-, Kultur- und Sozialgeschichte, Philosophie, Psychologie, Soziologie Ökologie, Naturwissenschaft und Religion aufeinander bezieht und als interdisziplinäre Unterrichtsinhalte bereitstellt. Eine fächerübergreifende Auffassung von Kunsterziehung, die das Fach zum "schwierigsten" macht. Beuys geht sogar soweit, die Abschaffung der "isolierten" Kunsterziehung zu fordern, weil nach seiner Auffassung "das künstlerische Element ... generell in alle Fächer hineinzutragen" ist, "in die Muttersprache, Geographie, Mathematik, Turnen." Beuys plädiert für ein "Bewußtsein, daß es nach und nach keine andere Möglichkeit gibt, als daß die Menschen künstlerisch erzogen werden." (Beuys zit. n. Harlan, Rappmann, Schata, S.39)
4. Konkret bedeutet dies für eine veränderte kunstpädagogische Praxis: § Die Ausbildung der Sinnes- und Erlebnisorgane (Sehen, Riechen, Tasten, Bewegen etc.) - eine Ebene, die in den 1.Teil der hier vorgestellten Unterrichtseinheit als sinnlich-asssoziative Wahrnehmungs- und Schreibübung eingeht.
- Die Schulung des "universalen, beweglichen Denkens", des Denkens in Zusammenhängen, welches immer persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse berücksichtigt - Formen von Differenzerfahrung, die ebenfalls im 1. Teil thematisiert werden.
- Damit eng verbunden die interdisziplinäre Ausbildung unter Integration aller Fächer - Der 2. Teil der Unterrichtseinheit, in dem in arbeitsteiliger Gruppenarbeit natur- und geisteswissenschaftliche Deutungsaspekte der Aktion "7000 Eichen" untersucht werden.
- Zuletzt die eigentliche Zielsetzung von Kunstunterricht: Die Schulung und Entfaltung der individuellen und sozialen Kreativität durch handlungs- und prozessorientierte Projekte - Die Werkbetrachtung mündet im letzten Teil in eine konkrete handelnde Pflanzungsaktion ein.
5. Weiter bestimmt Beuys in seiner Kunstpädagogik die Funktion des Lehrers neu. Er propagiert ein "oszillierendes Lehrer- und Schülerverhältnis", in dem "das Lehr-Lern-Verhältnis ganz offen und ständig umkehrbar" sein muß (Beuys zit.n. Harlan, S.39). Der "universal" gebildete, "absolut einsatzbereite", methodisch flexible Künstler-Lehrer, der "uomo universale" ist Katalysator und "vitaler Förderer" von Entwicklungsprozessen zur Mobilisierung kreativer Fähigkeiten. Entscheidend ist dabei die "Kultur der Frage" (Buschkühle, S. 341), die in ihrer konfrontativen, "autoritären" Ausformung (Beuys zit.n. Bodenmann-Ritter, S.64) zwar "Leiden" erzeugt, aber zugleich neue, vertiefte Zusammenhänge eröffnet und - darauf bezieht sich die Unterrichtseinheit - die multiperspektivische, die interdisziplinäre Herangehensweise an einen Untersuchungsgegenstand kultiviert. "Um Kunst zu lehren, muß der Lehrer Künstler sein; es reicht nicht, zu wissen, wie es geht oder eine künstlerische Technik oder Stilrichtung zu erklären" (Beuys zit. n. Buschkühle, S. 339). Der Künstler-Lehrer muss, man denke an das Eingangszitat, sich in einem lebenslangen Werk- und Selbstbildungsprozess, in der permanenten Übung seiner "Geistesgegenwart" immer weiterbilden und sich immer wieder neu der Kunst und der pädagogischen Praxis stellen.
6. Ziel des Kunstunterrichts ist ein moralisches, nämlich die Erziehung des Menschen zu Selbstverantwortung und zu demokratischer Gesellschaftsverantwortung, zu "Selbstbestimmung und Freiheit" - ganz im Sinne Schillers. Denn die Erziehung und Bildung des Einzelnen führt zur Transformation der gesamten Gesellschaft. Diese so veränderte Gesellschaft wird sich allmählich dem Ideal einer sozialen und ökologisch geformten Gemeinschaft, dem freien demokratischen Sozialismus annähern. Eine soziale Utopie, auf die sich Beuys' Kunst- und Pädagogikkonzept gründet.

Vor dem Hintergrund des pädagogischen Konzeptes soll im folgenden eine mögliche, Beuys' erweiterten Kunstbegriff berücksichtigende Interpretation der Aktion "7000 Eichen" vorgestellt werden.

Leben und Werk

2. Joseph Beuys: 7000 Eichen

2.1 Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte


Die Aktion "7000 Eichen" war ein Beitrag Beuys' zur documenta 7, 1982 in Kassel. Beuys ließ 7000 Basaltblöcke keilförmig vor dem Fridericianum aufschütten. An die Spitze des Keils pflanzte er die erste von 7000 Eichen (Abb.), die im Rahmen einer großen ökologischen Aktion im gesamten Stadtgebiet von Kassel gepflanzt werden sollten. Die Pflanzung der letzten Eiche wurde fünf Jahre später am ersten Tag der documenta 8 von Beuys' Frau Eva und Sohn Wenzel vorgenommen - Beuys war inzwischen verstorben.
Für den Preis von 500,- DM konnte eine der 7000 bereitgestellten Eichen inklusive Transport, Pflanzung und Pflege sowie ein sog. "Baumdiplom" erworben werden. Gleichzeitig sollte für jeden gepflanzten Baum ein Basaltstein vom Friedrichsplatz verschwinden und neben dem Setzling eingegraben werden. Dazu richtete Beuys im Rahmen der "Freien Internationalen Universität" ein Koordinationsbüro in Kassel ein, dessen Hauptaufgaben in der Finanzierung (Ankäufe und Spenden), in der Zusammenarbeit mit der Stadt Kassel (Genehmigungsverfahren der Baumstandorte) und in der Planung und Durchführung der Pflanzungen bestand. So wie der Steinkeil allmählich abgetragen wurde, wuchs die "Stadtverwaldung" Kassels. Doch trotz der internationalen Popularität der Aktion reichte das Spendenaufkommen nicht für die Finanzierung der Aktion, so daß Beuys gezwungen war, durch den Verkauf seines "Friedenshasens" sowie Whisky-Reklame im japanischen Fernsehen einen großen Teil der Gelder selbst aufzubringen.
Die öffentlichen Reaktionen auf die "7000 Eichen" waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von begeisterter Zustimmung - v.a. von Künstlern, Intellektuellen, japanischen Geschäftsleuten, verschiedenen Institutionen wie Schulen und Kindergärten - bis zu heftigster Ablehnung (Groener, S.214). Die Proteste der Bürger der Stadt Kassel richteten sich gegen die gesamte Aktion: Noch vor Eröffnung der documenta 7 wurden die Basaltsteine mit rosa Farbe übergossen, später Sprösslinge abgeknickt und Bürgerinitativen organisiert, die die Angst der Autofahrer vor dem Verlust von Parkplätzen thematisierten.Trotzdem dürfte Kassel dank Beuys die größte ökologische Plastik weltweit erhalten haben.


Analyse und Interpretation


2.2
7000 Eichen: Eine Deutung

Mit seinem "ästhetisch-ökologischen Unternehmen" 7000 Eichen (Buschkühle, S. 266) verläßt Beuys den traditionellen Raum der Kunst und bringt Kunst und Leben in unmittelbare Berührung. Es handelt sich um eine über Jahre hinweg gewachsene ökologische Plastik, die ein fundamentaler Beitrag Beuys zur Verwirklichung seiner Idee der "Sozialen Plastik" ist. Dabei geht es Beuys um das "Menschliche", das Allgemeinwohl der menschlichen Gesellschaft, die Verbesserung der "urbanen Lebensqualität" und um die Bewußtmachung der Notwendigkeit der Umwelterhaltung - und das alles ausgelöst durch Kunst. "Ich wollte ganz nach draußen gehen und einen symbolischen Beginn machen für ein Unternehmen, das Leben der Menschheit zu regenerieren innerhalb des Körpers der menschlichen Gesellschaft, und um eine positive Zukunft in diesem Zusammenhang vorzubereiten" (Groener, Kanoller, S. 15f). Positive Zukunft meint hier konkret die Begrünung von Straßen und Plätzen der Stadt Kassel, die als Keimzelle ein ökologisches Bewußtsein für das Abhängigkeitsverhältnis von Mensch und Natur in die Welt hinaustragen sollte, um die Wahrnehmung und das Denken von der Mitverantwortung des Menschen an dem Unternehmen "Leben" in Gang zu setzen.

Der Einzelnen sollte durch aktives Mitmachen - hierin liegt die anhaltende, pädagogische Komponente der Aktion - an diesem Prozess der "Stadtverwaldung" beteiligt werden, er sollte zum Umdenken, zu ökologischem Umweltbewußtsein erzogen werden. Durch Kunst, genauer durch engagierte, "erweiterte" Kunst kann der Einzelne sich seiner Verantwortung für sich selbst, für die menschliche Gesellschaft und deren Allgemeinwohl und für die Natur bewußt werden, um dann durch eigene Verhaltensänderung "gestaltend", "formend", "plastizierend" auf seine Umwelt und die Gesellschaft einzuwirken. Die Kunstaktion bereitet gleichsam eine neue Gesellschaftsordnung, eine Ästhetisierung der Gesellschaft vor, in der jeder - vergleichbar mit dem Bienenstaat - seine kreativen Fähigkeiten in den Dienst aller stellt. Hierin besteht die gesellschaftspolitische und zugleich die pädagogische Dimension Beuysscher Kunst: Die Kunst vermag die Ablösung der Politik wie die Erziehung des Menschen. Sie kultiviert das Verantwortungsbewußtsein des Einzelnen für die Gesellschaft, indem sie in der Rezeption Bewußtwerdungsprozesse auslöst, die durch die aktive Partizipation am künstlerischen Prozess (Pflanzungsaktionen des Einzelnen) über Stadien der Wahrnehmung, Assoziation, Intuition und des Denkens letztlich zu Verhaltensänderungen im Sinne demokratischer Verantwortung führt. Ein weiterer Aspekt, der sich hinter der Sozialen Plastik "7000 Eichen" verbirgt, ist der der Zeit- und Bewegungsdimension. Für Beuys ist das evolutionäre Grundprinzip "Bewegung": Alles Sein entsteht aus der Verfestigung von Flüssigkeitsvorgängen und Bewegungsprozessen, aus einem dynamischen Wechselspiel zwischen den Grundkräften Chaos und Ordnung. Künstlerisches Sinnbild dieses Evolutionsprinzips ist die "Plastik". Plastik im Sinne Beuys' ist "Bewegungsprinzip", ist Verfestigung bzw. Formung von weicher, ungeformter Materie und verkörpert idealisch beide Pole, einerseits das "Gedanklich-Formmäßige" und andererseits das "Chaotisch-Willenmäßige" (Adriani, S. 59). "Plastik ist ein Synonym für das Menschliche" (Harlan, Rappmann, Schata, S.58). Sie versinnbildlicht das Wechselspiel, das sich in jedem Menschen findet, die Bewegung zwischen Chaos und Ordnung, "Organischem" und "Kristallinem", "Wärme" und "Kälte", zwischen Natur und Geist, Stoff und Form, Fühlen und Denken. Durch rationalistisch-materialistische Vereinseitigung hat der Mensch im Laufe der Menschheitsgeschichte das ursprüngliche "Gleichgewicht von Verstand und Intuition, von Denken und Empfinden" (Romain, S. 79) verloren, ein Verlust, den die Kunst, so Beuys' Überzeugung, allmählich aufzuheben vermag. Versinnbildlichung beider Polaritäten ist in der Aktion "7000 Eichen" das Kompositum von Eiche (Organisches) und Basaltstein (Kristallines entstanden durch die Abkühlung glutflüssigen Magmas). Für die Deutung spielen die von Beuys verwendeten Materialien und deren Symbolwert eine entscheidende Rolle. Beuys wählt seine Materialien aus einem biographischen, mythologischen und naturkundlichen Kontext aus. Es handelt sich dabei um energetische, ja "magische" Substanzen, die der Transformation seiner künstlerischen Ideen dienen. Stein und wachsender Baum treten mit dem Rezipienten in einen wechselseitigen Interaktionsprozess und lösen universelle, allgemeinverbindliche wie subjektive Assoziationen und Denkprozesse aus. "Indem Stein und Baum materiale Prozesse und spirituelle Bezüge in Verbindung setzen, eröffnen sie Bezüge und Prozesse zwischen Vergangenheit und Zukunft. Beide beschwören erd- und kulturgeschichtliche Vergangenheit, der Stein die früheren Wärmekräfte der Erde sowie die magischen Steine und Steinsetzungen, die Eiche die organischen Erdkräfte sowie ihre eigene spirituelle Bedeutungsgeschichte." (Buschkühle, S. 270)

Es handelt sich bei der Plastik "7000 Eichen" um eine prozesshafte Aktion, - hierin liegt die Zeitdimension- in der Vergangenheit (Entstehungszeit des Basaltgesteins), Gegenwart (Pflanzaktion) und Zukunft (Wachstumszeit der Eichen) zur Synthese gebracht werden und die potentielle Lebensdauer der Eichen von 700 Jahren einen Blick in die Zukunft hinein entwirft. Eine Zukunft, in der mittels "Kunstpille" der Einzelne und der Staat zur Mitverantwortung erzogen und die Natur vor weiterer Zerstörung bewahrt wird.


Unterrichtseinheit

3. Werkbetrachtung: Joseph Beuys - 7000 Eichen

3.1 Parallelen zwischen Pädagogikkonzept und Unterrichtskonzeption
3.2 Unterrichtsverlauf
3.2.1. Wahrnehmen - Assoziieren - Schreiben
3.2.2 Interdisziplinäre Rezeption
3.2.3 Unterrichtsgespräch oder Kultur der Frage


3.1 Parallelen zwischen Pädagogikkonzept und Unterrichtskonzeption

Für die hier skizzierte Unterrichtseinheit wurden drei zentrale Aspekte des Beuysschen Pädagogikkonzepts auf ihre schulische Anwendbarkeit hin geprüft und der Methodenkonzeption vorangestellt:
1. Ausbildung der Sinnes- und Erlebnisorgane --> Wahrnehmungsübung und assoziatives Schreiben (siehe 3.2.1)
2. Interdisziplinäre Kunstvermittlung --> arbeitsteilige , fächerübergreifende Gruppenarbeit (siehe 3.2.2)
3. Kultur der Frage -->Unterrichtsgespräch (siehe 3.2.3)
4. Handelnde Transformation --> Praktische Arbeit (siehe 3.2.4)


3.2 Unterrichtsverlauf

Im Rahmen des Seminars "Lehrmethoden von Künstlern und Möglichkeiten der Anwendung in der kunstpädagogischen Praxis" beschäftigte sich eine Studentengruppe mit Joseph Beuys' Pädagogikbegriff. Analog zu den oben skizzierten Positionen entwarfen wir am Beispiel der Aktion "7000 Eichen" einen im Beuysschen Sinne sinnlich-interdisziplinären Erschließungsweg für die Werkbetrachtung. Für den Unterrichtsbesuch standen vier Doppelstunden zur Verfügung, die in folgende Schritte gegliedert waren:
1. Wahrnehmen - Assoziieren - Schreiben
2. Interdisziplinäre Rezeption
3. Unterrichtsgespräch oder Kultur der Frage
4. Handelnde Transformation - Pflanzung als künstlerisch-ökologischer Akt


3.2.1. Wahrnehmen - Assoziieren - Schreiben


Ausgangspunkt der Werkbetrachtung ist die (vor Unterrichtsbeginn vorbereitete) Konfrontation der Schülerinnen und Schüler mit einem auf jedem Tisch plazierten Pflasterstein mit angelehntem Eichensprössling (siehe Abb.).

Noch ist der Bezug zum Künstler nicht bekannt, der stille Impuls provoziert jedoch von selbst das Anfassen, Abtasten, Wiegen, Vergleichen, Untersuchen, Anordnen der beiden Objekte. Auf einem unkommentiert ausgeteilten Arbeitsblatt werden die Schülerinnen und Schüler dann aufgefordert, spontan ihre Assoziationen, Gedanken, Gefühle zu den beiden Gegenständen niederzuschreiben.

Weil optische Erfahrung verbunden mit taktil-leiblicher Wahrnehmung für die Schülerinnen und Schüler ungewohnt ist und durch die verschiedenartigen Konnotationen der Materialien Pflanze und Stein für sich und in ihrer Gegenüberstellung subjektiv unterschiedliche Verknüpfungen herstellbar sind, fällt das Assoziationsspektrum per se breit aus. Mit sinnlichen, erlebnisorientierten Experimenten und Übungen verbinden Menschen im allgemeinen "Erfahrungen und Einsichten, die mitunter jenseits begrifflicher Zugriffs- und Erkenntnismöglichkeit und ihr zuvor liegen". Beuys spricht in diesem Zusammenhang

von der ‚Intelligenz der Hand', die unter Umständen viel tiefer reiche und beweglicher sei als die oft ‚verknöcherte' Intelligenz des Intellekts." (Buschkühle; S. 319). Das Nach-Tasten, Nach-Sinnen und Nach-Denken, das Sich-Versenken (durch die reichlich zur Verfügung stehende Zeit) beeinflusst und verändert die Qualität und Quantität der Wahrnehmung.

Kommt als ebenfalls ungewohntes Rezeptionsverfahren das assoziative Schreiben hinzu, entfaltet sich eine Atmosphäre konzentrierter Objekt- und Selbstbeobachtung, die die Bewusstwerdung des visuell und haptisch Wahrgenommenen unterstützt. Die Schülerinnen und Schüler assoziieren in ihren Wahrnehmungsprotokollen mit dem Stein beispielsweise "tot, kalt, anorganisch, alt, fallen, Erstarrung, Sicherheit"; die Pflanze dagegen aktiviert Gedankenverbindungen wie "lebendig, organisch, lebenserhaltend, jung, Leichtigkeit, der Sonne zugewendet, Wachstum, Ökologie, Waldsterben, Umweltschutz". Dies zeigt, dass die verwendeten, energetischen Materialien tatsächlich Ideen, Assoziationen und Bilder transportieren, die - allerdings erst bei genauem Hinsehen und Einfühlen - nachvollziehbar werden.

Im Schreibprozess finden die Schülerinnen und Schüler Begriffe, die, um auf das Eingangszitat von Beuys zurückzukommen, an ihre eigene, individuelle "Bewußtseinslage anknüpfen". Das beim aktiven Sehen und Handeln erworbene Gefühls- und Erfahrungsspektrum wird in einen erweiterten Sinnzusammenhang gestellt. Geformte Sprache macht bewußt, verarbeitet, klassifiziert, konstituiert Sinnfindung im Nach-Sinnen und im Nach-Denken. Dass dabei die Wahrnehmungs- und Erkenntnisakte der einzelnen Schülerinnen und Schüler voneinander differieren, zeigt das Unterrichtsgespräch. Eine Differenzerfahrung, die aus der individuellen Biographie, der subjektiven Wahrnehmungsreflexion und aus divergierenden fächerübergreifenden Verknüpfung resultiert und als solche von Beuys gewollt ist. Durch die Synthese von sinnlich-taktilem Wahrnehmen, Assoziieren und nachdenkendem Schreiben erleben die Schülerinnen und Schüler ein Verfahren der "Selbstvermittlung" von Kunst (Selle, S.76), das ein "Akt des Reflektierens subjektiver Wahrnehmung" ist (ebd.) und zunächst ganz auf kunstwissenschaftliche und "verstandesmäßige" Methoden verzichtet. Im späteren Unterrichtsgespräch werden die Schülerinnen und Schüler feststellen, dass sie viele Aspekte der Deutung bereits durch diese erste Übung und den damit verbundenen Erfahrungen und Einsichten vorweggenommen haben.

Vor dem Hintergrund des sinnlich-assoziativen 'Erlebens' wird den Schülerinnen und Schüler das Thema der Stunde mitgeteilt, formationen zur Person Joseph Beuys und zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Aktion "7000 Eichen" (siehe 2.1) vorgetragen und zum 2. Teil der Unterrichtseinheit übergeleitet.


3.2.2 Interdisziplinäre Rezeption

Hier lernen die Schülerinnen und Schüler eine interdisziplinäre Interpretationsmethode kennen, bei der sie ergänzend zu ihren assoziativ-schreibenden Erfahrungen und dem Lehrervortrag Informationen aus unterschiedlichen Wissensbereichen erhalten und selbst auswerten. So wie Beuys seine Materialien aus einem mythologischen und naturkundlichen Kontext nimmt, werden für diesen zweiten Unterrichtsschritt drei Themenbereiche aus dem Fächerkanon ausgewählt, die über den rein kunstgeschichtlichen Ansatz hinausweisen und die kultur- und erdgeschichtlichen Aspekte der Materialien Stein und Baum untersuchen. In arbeitsteiliger Gruppenarbeit werten die Schülerinnen und Schüler die als kleine Kompendien aus Lexikon- und Zeitschriftenartikeln bereitgestellten Informationen aus und stellen sie im Plenum vor (Literaturangaben in 3.3.1). Dabei stellen sie fest, dass sich die Bedeutung der Beuysschen Kunstaktion besser erschließen lässt, wenn man den umfassenden, fächerübergreifenden Zugang zu seinem Werk sucht. Wenn man etwa weiß, dass der Baum in der europäischen Kunst und in der christlichen Tradition für Leben (Lebensbaum), Wachstum, Reifung (Baum der Erkenntnis), aber auch für Vergänglichkeit steht, dass in Westafrika dem Baum, dem 'ju-ju' oder Geisterbaum magische Kräfte zugeschrieben werden (Jung, S.43) und dass die sommer- oder immergrüne Eiche bis zu 700 Jahre alt werden kann. Dies sind universale Zusammenhänge, die Beuys seinen Materialien zuschreibt, denn die Materialien, die er aus einem unendlichen Fundus auswählt und in seine Aktionen und Installationen einbindet, sind Substanzen, die das energetische, "magische" Vermögen in sich tragen, geistes- wie naturwissenschaftliche Inhalte zu transportieren und mit dem Betrachter zu interagieren. Die Materialien sind Transformationen künsterlischer Ideen, die in ihrer ungewöhnlichen Kombination provozieren und zum Nachsinnen und Nachdenken anregen.

Für das bessere "Verständnis" von Beuys' Materialien und deren Konnotationen bearbeiten die Schülerinnen und Schülern folgende drei Themenbereiche:

1. Arbeitsgruppe: Kunstgeschichte Diese Gruppe untersucht die Bedeutung des Baumes an Hand ausgewählter Beispiele aus der Kunstgeschichte, etwa der Sinn des Baumes bzw. der Eiche bei C. D. Friedrich und in der Romantik, die Funktion des Baumes bei van Gogh oder die Idee des Baummotivs bei P. Mondrian.

2. Arbeitsgruppe: Religions- und Kulturgeschichte In dieser Gruppe wird der religiösen und kulturgeschichtlichen Symbolik von Baum, Eiche, Stein und der Zahl 7 nachgegangen.

3. Arbeitsgruppe: Naturwissenschaft und Ökologie Den naturwissenschaftlichen und ökologischen Aspekt der von Beuys verwendeten Materialien untersucht diese Gruppe. Fragen nach der Entstehungsgeschichte von Basalt, das durch die Verfestigung glutflüssigen Magmas im Tertiär entstanden ist, sollen ebenso geklärt werden wie die Problematik der Umweltverschmutzung, des Waldsterbens und der Ökologiebewegung in den 80er Jahren. Die im Plenum präsentierten Kontexte und Deutungsebenen aus den einzelnen Arbeitsgruppen fließen in das anschließende Unterrichtsgespräch ein.


3.2.3 Unterrichtsgespräch oder Kultur der Frage

Das Unterrichtsgespräch - tägliches Brot des Pädagogen - wird von Beuys im Zusammenhang seiner Funktionsbestimmung des Künstler-Lehrers formuliert (siehe 1.5). Er propagiert das "oszillierende Lehrer- und Schülerverhältnis", bei dem die Schülerinnen und Schüler "mit Neuem in sich", mit persönlichen Erfahrungen und Einstellungen konfrontiert werden und bei dem die "Schulung des Denkens in Zusammenhängen" Ziel des Unterrichtens sein soll. Buschkühle nennt die von Beuys gesuchte Form der Gesprächsführung "Kultur der Frage" (Buschkühle, S. 341), die richtig geübt, das Reflektieren der eigenen Sinn- und Sinneswahrnehmung, das interdisziplinäre Problembewußtsein als Bewußtsein von Kunst-, Kultur- und Sozial- und Naturwissenschaft zugleich und als Folge dessen das kritische Denken bezüglich gesellschaftspolitischer Zusammenhänge und Missstände herausbilden soll. "Viele Schichten" müssen bei einem idealen Unterrichtsgespräch beteiligt sein, die zu aktivieren dem Lehrer gelingt, der Assoziieren und Denken, Intuition und Ratio gleichermaßen bei seinen Schülerinnen und Schülern zu mobilisieren vermag. Gelingt es dem Kunst-Vermittler, beide Pole integrierend aufeinander zu beziehen, erleben die Schülerinnen und Schüler, indem sie das Werk und sich selbst befragen und im gegenseitigen Gedankenaustausch eine Methode für eine ganzheitliche, "erweiterte" Werkbetrachtung, die an den "7000 Eichen" exemplarisch durchgeführt auf alle anderen Arbeiten Beuys' und auf Kunstwerke überhaupt anwendbar ist. Dass eine solche sinnlich-interdisziplinäre Werkbetrachtung eine Atmosphäre des Sichkennens und der Vertrautheit zwischen Lehrern und Schülern voraussetzt, ist selbstredend, bei einem einmaligen Unterrichtsbesuch aber nur in Maßen erreichbar. Dennoch konnte gerade im Unterrichtsgespräch aufgrund der Vorarbeiten (Fühlen, Assoziieren, Schreiben, Informieren, Recherchieren, Kommunizieren) ein breites Spektrum von Deutungsaspekten und Auslegungsperspektiven zu der Aktion in Kassel erarbeitet werden. Die Ergebnisse sind in Kapitel 3.3.2 als Tafelbild zusammengestellt.


3.2.4 Handelnde Transformation - Pflanzung als künstlerisch-ökologischer Akt


So wie die Aktion "7000 Eichen" eine handlungsorientierte Aktion unter direkter, Hand anlegender Beteiligung des Publikums ist, so ist auch die hier vorgestellte Unterrichtseinheit als eine Verbindung von Kopf- und Handarbeit konzipiert. Die Schülerinnen und Schüler überlegen, ob und wie sie die von Beuys initiierte Aktion in ihre eigene Lebenswelt übertragen und selbst handelnd aktiv werden können. Sie planen die für die erste Erarbeitungsphase mitgebrachten Sprösslinge mit Pflasterstein bei sich zu Hause - auf dem Schulgelände gibt es praktisch keine Begrünungsmöglichkeit - einzupflanzen. So leisten die Schülerinnen und Schüler einen kleinen persönlichen Beitrag zur "Verwaldung" ihrer Stadt und stellen sich einer nach wie vor hochaktuellen Diskussion über Umweltschutz und ökologische Verantwortung. Sie verfolgen darin ein von Beuys vor fast 20 Jahre eingeleitetes, als in die Zukunft weisend geplantes Projekt, zwar ohne, denn Beuys Kunstideal bleibt Utopie, eine unmittelbar sichtbare gesellschaftliche Veränderung bewirken, aber doch auf das eigene ästhetische und ökologische Bewußtsein und Verantwortungsgefühl einwirken zu können.

 

Unterrichtsmaterialien


3.3 Arbeitsmaterialien für den Unterricht


3.3.1 Literaturangaben für die interdisziplinäre Gruppenarbeit

3.3.2 Tafelbild
3.3.3 Joseph Beuys: Zentrale Aspekte seines Kunstbegriffs: "Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit"

3.3.1 Literaturangaben für die interdisziplinäre Gruppenarbeit (siehe 3.2.2)

- Bauer, Wolfgang: Lexikon der Symbole. 14. Aufl. Wiesbaden 1993
- Graf, Jakob: Pflanzenbestimmungsbuch. München 1967
- Heinz-Mohr, Gerd. Lexikon der Symbole. Bilder und Zahlen der christlichen Kunst. Düsseldorf 1971
-
Jung, Carl Gustav: Der Mensch und seine Symbole. Olten 1968
- Licht, Wolfgang: Einführung in die Pflanzenbestimmung. Wiesbaden 1995
- Lurker, Manfred:
Wörterbuch der Symbolik. 4. Aufl. Stuttgart 1988
- Mehling, Günther: Naturstein-Lexikon. München 1973
- Schumann, Walter: Steine und Mineralien. Münschn, Berlin, Wien 1977
- Wilhelmi, Christoph: Handbuch der Symbole in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. F.a.M.1980


3.3.2 Tafelbild (siehe 3.2.3)

7000 Eichen - Eine Aktion von Joseph Beuys in Kassel von 1982-1987
Stein - 7000 Basaltsteine Baum - 7000 Eichen

Steine stehen für:
. tote, anorganische Materie
· erstarrt, statisch
· versenkt
. Erde
· hart
· Kälte

· In die Vergangenheit weisend ...

Bäume stehen für:
· Lebendige, organische Materie
· Dynamisch
· Aufstrebend
· Himmel
· Weich
· Wärme
· In die Zukunft weisend ...
--> Unbelebte Steinplastik (Steinkeil) wird zu lebendiger Baumplastik und führt zur "Stadtverwaldung"


Aspekte des Beuysschen Kunstbegriffs Deutungsaspekte der Aktion "7000 Eichen"
Ökologischer Aspekt Beuys appelliert mit seiner Aktion für die Bewahrung der Natur und für Umweltschutz und will ein Gegengewicht zu Umweltverschmutzung, Waldsterben und Industrialisierung schaffen.
Gesellschafts-politischer Aspekt Kunst, zumal politisch engagierte Kunst, vermag die Politik abzulösen, denn sie fördert das Verantwortungsbewußtsein des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft (der Einzelne beteiligt sich mit der 'Pflanzungs-Kunst-Aktion' an der "Stadtverwaldung") und führt in letzter Konsequenz zu sozialer und ökologischer Solidarität.
Pädagogischer Aspekt Kunstkann "erziehen", "bilden", "gestalten", weil in der Begegnung mit den "7000 Eichen" bei jedem Einzelnen ein Bewußtwerdungsprozess (Wahrnehmen, Assoziation, Intuition, Denken) in Bezug auf gesellschaftliche und ökologische Missstände in Gang gesetzt werden kann, der zu einer Verhaltensänderung und zu einer Umformung der ganzen Gesellschaft führt.
Zeit- und Bewegungsaspekt Jede Veränderung bedeutet Bewegung; Bewegung aber verläuft in Zeit. Beides als Bestandteile eines Umdenkungsprozesses wird versinnbildlicht durch die Verbindung von Vergangenheit (symbolisiert durch die Entstehungszeit der Basaltblöcke), Gegenwart (Pflanzungsaktion) und Zukunft (Wachstum der Eichen).
Engagierte Kunst Kunst als "erweiterter Kunstbegriff", so wie ihn Beuys versteht, ist anthropologisch fixiert. "Jeder ist ein Künstler" - d.h. jede menschliche Tätigkeit, die etwas hervorbringt und verändernd auf die Umwelt und die Gemeinschaft einwirkt, ist Kunst.
Wenn dann jeder, durch engagierte, erweiterte Kunst geläutert, im positiven Sinne auf seine Lebenswelt einwirkt, führt dies zu einer Ästhetisierung und Solidarisierung der Gesellschaft. Es entsteht die "soziale Plastik", die im Sinne Beuys eine Gesellschaftsordnung meint, bei der der Einzelne im Sinne des Allgemeinwohls die Gesellschaft formt und "freier, demokratischer Sozialismus" als soziale Utopie erreicht wird.




3.3.3 Arbeitsblatt:
Joseph Beuys: Zentrale Aspekte seines Kunstbegriffs: "Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit"

Joseph Beuys: Zentrale Aspekte seines Kunstbegriffs:
"Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit"
"Aktion", "Aktionsrequisiten" und Materialien

Die Aktionen und Aktionsrequisiten (=energetische Substanzen, Materialien) dienen der energetischen Transformation künstlerischer Ideen. Sie sind "Gegenbilder", die provozieren sollen und aufgrund ihrer mythologischen, naturkundlichen und biographischen Konnotationen Assoziationen, Gefühle und Denkbewegungen auslösen.
"Erweiterter Kunstbegriff"

Der Erweiterte Kunstbegriff meint nicht Kunst im traditionellen Sinne, sondern umfaßt jegliche menschliche Tätigkeit, alles was der Mensch hervorbringt, was er gemacht, verfertigt und geschaffen hat, wenn er dabei gestaltend, plastizierend auf die Welt einwirkt und darin als Einzelner gesellschaftsverändernd aktiv ist. Kunst ist, im Sinne Beuys', künstlerisch-ästhetisch, politisch, ökologisch, ethisch, engagiert, pädagogisch, therapeutisch und energetisch, weil durch Kunst Bestehendes in Bewegung gebracht und Veränderung erreicht wird. Kunst und Kunsterziehung wirkt also auf den Menschen, denn durch Kunst werden in jedem Menschen Bewegung, Energieschübe, Wärmeprozesse, Assoziations- und Denkprozesse in Gang gesetzt. Diese Rezeptionsvorgänge führen bei dem Einzelnen zu Läuterung, Kreativität (="Volksvermögen"), Gefühl von Eigenverantwortung, Wille nach Freiheit und mündet ein in eine veränderte Gesellschaft, die "Sozialen Plastik", deren Verwirklichungsform die Ästhetisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, die Freiheit und die Einheit von Mensch und Natur ist.

"Jeder Mensch ist ein Künstler"

In jedem Menschen steckt das Potential, kreativ zu sein, gestaltend, bildend, plastizieren auf die ihn umgebende Welt einzuwirken (Kreativität ist nach Beuys anthropologisch festgelegt). Dieses Potential muß nur erkannt, entwickelt und durch Kunst und interdisziplinäre Kunstpädagogik gefördert werden.
"Soziale Plastik"= Gesellschaftsordnung

Der Schlüsselbegriff der Beuysschen Kunst- bzw. Gestaltungstheorie ist der der "Sozialen Plastik". Sozial wird definiert als "die menschliche Gesellschaft und ihr Allgemeinwohl betreffend" (Duden, Herkunftswörterbuch) und Plastik als ein "dreidimensionales, modellierfähiges und formbares Gebilde" (ebd.), das synästhetisch (visuell, taktil, olfaktorisch, akustisch, thermisch) erfahrbar, Träger eines Inhalts und durch die Formung weichen Materials bzw. durch Verfestigung von Flüssigkeitsvorgängen und Bewegungsprozessen entstanden ist. Seinen Plastikbegriff wendet Beuys auf die Gestaltung der Gesellschaft an (Sprung vom ästhetischen in den ethischen Bereich): Die bestehende Gesellschaft mit ungerechten Gesellschaftsstrukturen und Umweltproblematik muß umgeformt werden in eine "soziale, verantwortungsbewußte, demokratische, ökologieorientierte Skulptur" (vgl. Bienenstaat), in der jeder seine kreativen Fähigkeiten in den Dienst aller stellt.



Literatur

- Adriani,G.: J. Beuys - Leben und Werk. Köln 1986
- Bodenmann-Ritter, Clara: Joseph Beuys. Jeder Mensch ein Künstler. Gespräche auf der
Dokumenta 5/1972. Frankfurt, Berlin 2/1998
- Buschkühle: Wärmezeit - Zur Kunst als Kunstpädagogik bei Joseph Beuys. Frankfurt a. M. 1997
- Duden. Herkunftswörterbuch. Mannheim, Wien, Zürich 1989
- Groener, Fernando; Kanoller Rose-Marie (Hrsg.): 7000 Eichen - Joseph Beuys. Köln 1987
- Jung, Carl Gustav: Der Mensch und seine Symbole. Olten 1968
- Regel, Günther: Joseph Beuys - aktuelle und fortdauernde Herausforderung der Kunstpädagogik. In: K+U Nr.159/1992
- Romain, Lothar, Wedeweder, Rolf: Über Beuys. Düsseldorf 1972
- Schulz, F. (Hrsg.): Perspektiven der künstlerisch-ästhetischen Erziehung. Seelze 1996
- Selle, G.: Betrifft Beuys. Annäherung an Gegenwartskunst. Unna 1994
- Selle, G.: Experiment ästhetische Bildung. Hamburg 1993
- Stachelhaus, H.: Joseph Beuys. Düsseldorf 1991
- K+U 159/1992 und 166/1992. Seelze 1992
- Weber, Chr.: Vom "erweiterten Kunstbegriff" zum "erweiterten Pädagogikbegriff". Frankfurt a.M. 1991
- Zacharias, W.; Grüneisel, G.: Die Stadt der Kinder - eine Schule des Lebens. Reinbek 1989

Abbildung in: Groener, Fernando und Kandler, Rose-Marie: 7000 Eichen - Joseph Beuys. Köln 1987, S. 10