Vorbemerkung
"Auf der documenta
habe ich erfahren, die meisten Menschen glauben Kunst verstandesmäßig
begreifen zu müssen. Die Erlebnisorgane sind vielen schon abgestorben.
Es sollten Begriffe gebildet werden, die an dieser Bewußtseinslage anknüpfen,
um über ganz andere Kraftzusammenhänge zu sprechen." (Beuys, zit.n. Harlan,
Rappmann, Schata, S.39) Und: " Man muß doch in größeren Zusammenhängen
denken... Der Kunsterzieher müßte... so gebildet sein, daß er weiß, wie
sein Fach mit anderen zusammenhängt. Im Grunde müßte der Kunstunterricht,
auch für die Schüler, das schwierigste Fach sein." (Beuys zit.n. Stachelhaus,
S. 106)
Beide Statements Beuys' zu seinem Verständnis von Kunsterziehung verweisen
auf ein perzeptives, d.h. sinnlich wahrnehmendes und auf ein interdisziplinäres
Rezeptions- und Vermittlungsverfahren von Kunst. Beuys verwirft darin
die gängige, analytisch-deduktive kunstpädagogische Vermittlungspraxis,
wie sie an Schulen praktiziert die Kinder meistens nur "verbildet". Beuys
pädagogisches Konzept stellt nämlich einen vielfältigen Entwurf dessen
vor, was er von Kunst- bzw. Kreativitätsunterricht, vom Kunst-Lehrer und
von einer Bildungsinstitution erwartet, welches Potential zur Verwirklichung
echter "Menschenbildung" er einem verantwortungsvollen Unterricht zuweist.
Die Beuyssche Auffassung von ästhetischer Erziehung und wie sich diese
im konkreten Unterricht realisieren lässt ist Gegenstand dieses Beitrages.
Der erste Teil, in dem Beuys' pädagogisches Konzept vorgestellt wird,
liefert die Begründung für die Methodenkonzeption der im dritten Teil
vorgetragenen Unterrichtseinheit zur Werkbetrachtung der Aktion "7000
Eichen", deren mögliche Deutung im zweiten Teil umrissen wird. Dass es
sich bei der Unterrichtseinheit nur um eine reduzierte Umsetzung des Beuysschen
kunstpädagogischen Rezeptionskonzeptes handeln kann, ist selbstredend,
wenn man sich die Komplexität des erweiterten Pädagogikbegriffs vor Augen
hält, wenn man den Zeittakt begrenzter Unterrichtsstunden und den Umstand
eines punktuellen, vierstündigen Unterrichtsbesuchs von Studierenden der
Kunstpädagogik in einer Klassenstufe 13 berücksichtigt.
Zunächst soll Beuys' Konzept von der ästhetischen Erziehung des Menschen
durch Kunst, für das er konkrete pädagogische Ziele formuliert hat, erläutert
werden.
Kontext
1. Zu Beuys' pädagogischem Konzept
In einer Reihe von Interviews beschreibt Beuys seine Vorstellung von Kunstpädagogik
und ästhetischer Erziehung, der er "große, ja entscheidende Bedeutung
beigemessen hat" (Stachelhaus, S. 103) und der er eine Konzeption von
der grundsätzlichen Bildbarkeit und Erziehbarkeit des Menschen voranstellt.
Zentrale Positionen sind in folgender Übersicht verkürzt zusammengefasst:
(Eine hervorragende
Einordnung des "Erweiterten Kunstbegriffs" und der Beuysschen Gestaltungslehre
gibt Günter Regel in seinem Aufsatz "Joseph Beuys - aktuelle und fortdauernde
Herausforderung der Kunstpädagogik" in K+U 159/1992)
1. Beuys pädagogischer Entwurf gründet auf dem Gedanken von der unbedingten
Erzieh- und Bildbarkeit des Menschen. Da der Mensch sowohl endogen als
auch exogen bestimmt ist, kann er sich eigenverantwortlich mit den inneren
und äußeren Bedingungen seiner Existenz auseinandersetzen. Er kann erzogen,
d.h. "plastisch geformt" werden. Beuys dazu: "Der Mensch muß richtig gebildet,
das heißt durchgeknetet werden. Er muß regelrecht von einer Ecke zur anderen
durchgeknetet werden. Er ist bildsam, plastisch formbar. Und durch das
heutige Bildungsprogramm werden die Kinder meistens verbildet." (Beuys
zit. nach Stachelhaus, S. 106)
2. Allererste Voraussetzung für ein erweitertes Erziehungsprogramm ist
für Beuys die Revolutionierung des Bildungswesens, meint die Veränderung
von Organisationsstruktur, Methoden und Inhalten von Unterricht und die
völlige Unabhängigkeit der Schulen und Hochschulen von der Bevormundung
durch den Staat. Prototyp ist die 1974 von Joseph Beuys und Heinrich Böll
gegründete "Freie Internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre
Forschung".
3. Kunsterziehung im Sinne Beuys bedeutet anthropologische Bildung, d.h.
sie thematisiert Menschsein immer im natur- wie geisteswissenschaftlichen
Kontext; ihr geht es primär um "Menschenbildung", die den ganzen Menschen
, sein Selbst- und Weltverständnis zum Gegenstand hat, indem sie fächerumfassend
Geschichte, Kunst-, Kultur- und Sozialgeschichte, Philosophie, Psychologie,
Soziologie Ökologie, Naturwissenschaft und Religion aufeinander bezieht
und als interdisziplinäre Unterrichtsinhalte bereitstellt. Eine fächerübergreifende
Auffassung von Kunsterziehung, die das Fach zum "schwierigsten" macht.
Beuys geht sogar soweit, die Abschaffung der "isolierten" Kunsterziehung
zu fordern, weil nach seiner Auffassung "das künstlerische Element ...
generell in alle Fächer hineinzutragen" ist, "in die Muttersprache, Geographie,
Mathematik, Turnen." Beuys plädiert für ein "Bewußtsein, daß es nach und
nach keine andere Möglichkeit gibt, als daß die Menschen künstlerisch
erzogen werden." (Beuys zit. n. Harlan, Rappmann, Schata, S.39)
4. Konkret bedeutet dies für eine veränderte kunstpädagogische Praxis:
§ Die Ausbildung der Sinnes- und Erlebnisorgane (Sehen, Riechen, Tasten,
Bewegen etc.) - eine Ebene, die in den 1.Teil der hier vorgestellten Unterrichtseinheit
als sinnlich-asssoziative Wahrnehmungs- und Schreibübung eingeht.
- Die Schulung
des "universalen, beweglichen Denkens", des Denkens in Zusammenhängen,
welches immer persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse berücksichtigt
- Formen von Differenzerfahrung, die ebenfalls im 1. Teil thematisiert
werden.
- Damit eng
verbunden die interdisziplinäre Ausbildung unter Integration aller Fächer
- Der 2. Teil der Unterrichtseinheit, in dem in arbeitsteiliger Gruppenarbeit
natur- und geisteswissenschaftliche Deutungsaspekte der Aktion "7000 Eichen"
untersucht werden.
- Zuletzt die eigentliche Zielsetzung von Kunstunterricht: Die Schulung
und Entfaltung der individuellen und sozialen Kreativität durch handlungs-
und prozessorientierte Projekte - Die Werkbetrachtung mündet im letzten
Teil in eine konkrete handelnde Pflanzungsaktion ein.
5. Weiter bestimmt
Beuys in seiner Kunstpädagogik die Funktion des Lehrers neu. Er propagiert
ein "oszillierendes Lehrer- und Schülerverhältnis", in dem "das Lehr-Lern-Verhältnis
ganz offen und ständig umkehrbar" sein muß (Beuys zit.n. Harlan, S.39).
Der "universal" gebildete, "absolut einsatzbereite", methodisch flexible
Künstler-Lehrer, der "uomo universale" ist Katalysator und "vitaler Förderer"
von Entwicklungsprozessen zur Mobilisierung kreativer Fähigkeiten. Entscheidend
ist dabei die "Kultur der Frage" (Buschkühle, S. 341), die in ihrer konfrontativen,
"autoritären" Ausformung (Beuys zit.n. Bodenmann-Ritter, S.64) zwar "Leiden"
erzeugt, aber zugleich neue, vertiefte Zusammenhänge eröffnet und - darauf
bezieht sich die Unterrichtseinheit - die multiperspektivische, die interdisziplinäre
Herangehensweise an einen Untersuchungsgegenstand kultiviert. "Um Kunst
zu lehren, muß der Lehrer Künstler sein; es reicht nicht, zu wissen, wie
es geht oder eine künstlerische Technik oder Stilrichtung zu erklären"
(Beuys zit. n. Buschkühle, S. 339). Der Künstler-Lehrer muss, man denke
an das Eingangszitat, sich in einem lebenslangen Werk- und Selbstbildungsprozess,
in der permanenten Übung seiner "Geistesgegenwart" immer weiterbilden
und sich immer wieder neu der Kunst und der pädagogischen Praxis stellen.
6. Ziel des Kunstunterrichts ist ein moralisches, nämlich die Erziehung
des Menschen zu Selbstverantwortung und zu demokratischer Gesellschaftsverantwortung,
zu "Selbstbestimmung und Freiheit" - ganz im Sinne Schillers. Denn die
Erziehung und Bildung des Einzelnen führt zur Transformation der gesamten
Gesellschaft. Diese so veränderte Gesellschaft wird sich allmählich dem
Ideal einer sozialen und ökologisch geformten Gemeinschaft, dem freien
demokratischen Sozialismus annähern. Eine soziale Utopie, auf die sich
Beuys' Kunst- und Pädagogikkonzept gründet.
Vor dem Hintergrund des pädagogischen Konzeptes soll im folgenden eine
mögliche, Beuys' erweiterten Kunstbegriff berücksichtigende Interpretation
der Aktion "7000 Eichen" vorgestellt werden.
Leben
und Werk
2. Joseph Beuys:
7000 Eichen
2.1 Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte
Die Aktion "7000 Eichen" war ein Beitrag Beuys' zur documenta 7, 1982
in Kassel. Beuys ließ 7000 Basaltblöcke keilförmig vor dem Fridericianum
aufschütten. An die Spitze des Keils pflanzte er die erste von 7000 Eichen
(Abb.), die im Rahmen einer großen ökologischen Aktion im gesamten Stadtgebiet
von Kassel gepflanzt werden sollten. Die Pflanzung der letzten Eiche wurde
fünf Jahre später am ersten Tag der documenta 8 von Beuys' Frau Eva und
Sohn Wenzel vorgenommen - Beuys war inzwischen verstorben.
Für den Preis von 500,- DM konnte eine der 7000 bereitgestellten Eichen
inklusive Transport, Pflanzung und Pflege sowie ein sog. "Baumdiplom"
erworben werden. Gleichzeitig sollte für jeden gepflanzten Baum ein Basaltstein
vom Friedrichsplatz verschwinden und neben dem Setzling eingegraben werden.
Dazu richtete Beuys im Rahmen der "Freien Internationalen Universität"
ein Koordinationsbüro in Kassel ein, dessen Hauptaufgaben in der Finanzierung
(Ankäufe und Spenden), in der Zusammenarbeit mit der Stadt Kassel (Genehmigungsverfahren
der Baumstandorte) und in der Planung und Durchführung der Pflanzungen
bestand. So wie der Steinkeil allmählich abgetragen wurde, wuchs die "Stadtverwaldung"
Kassels. Doch trotz der internationalen Popularität der Aktion reichte
das Spendenaufkommen nicht für die Finanzierung der Aktion, so daß Beuys
gezwungen war, durch den Verkauf seines "Friedenshasens" sowie Whisky-Reklame
im japanischen Fernsehen einen großen Teil der Gelder selbst aufzubringen.
Die öffentlichen Reaktionen auf die "7000 Eichen" waren sehr unterschiedlich.
Sie reichten von begeisterter Zustimmung - v.a. von Künstlern, Intellektuellen,
japanischen Geschäftsleuten, verschiedenen Institutionen wie Schulen und
Kindergärten - bis zu heftigster Ablehnung (Groener, S.214). Die Proteste
der Bürger der Stadt Kassel richteten sich gegen die gesamte Aktion: Noch
vor Eröffnung der documenta 7 wurden die Basaltsteine mit rosa Farbe übergossen,
später Sprösslinge abgeknickt und Bürgerinitativen organisiert, die die
Angst der Autofahrer vor dem Verlust von Parkplätzen thematisierten.Trotzdem
dürfte Kassel dank Beuys die größte ökologische Plastik weltweit erhalten
haben.
Analyse und Interpretation
2.2 7000
Eichen: Eine Deutung
Mit seinem "ästhetisch-ökologischen Unternehmen" 7000 Eichen (Buschkühle,
S. 266) verläßt Beuys den traditionellen Raum der Kunst und bringt Kunst
und Leben in unmittelbare Berührung. Es handelt sich um eine über Jahre
hinweg gewachsene ökologische Plastik, die ein fundamentaler Beitrag Beuys
zur Verwirklichung seiner Idee der "Sozialen Plastik" ist. Dabei geht
es Beuys um das "Menschliche", das Allgemeinwohl der menschlichen Gesellschaft,
die Verbesserung der "urbanen Lebensqualität" und um die Bewußtmachung
der Notwendigkeit der Umwelterhaltung - und das alles ausgelöst durch
Kunst. "Ich wollte ganz nach draußen gehen und einen symbolischen Beginn
machen für ein Unternehmen, das Leben der Menschheit zu regenerieren innerhalb
des Körpers der menschlichen Gesellschaft, und um eine positive Zukunft
in diesem Zusammenhang vorzubereiten" (Groener, Kanoller, S. 15f). Positive
Zukunft meint hier konkret die Begrünung von Straßen und Plätzen der Stadt
Kassel, die als Keimzelle ein ökologisches Bewußtsein für das Abhängigkeitsverhältnis
von Mensch und Natur in die Welt hinaustragen sollte, um die Wahrnehmung
und das Denken von der Mitverantwortung des Menschen an dem Unternehmen
"Leben" in Gang zu setzen.
Der Einzelnen sollte durch aktives Mitmachen - hierin liegt die anhaltende,
pädagogische Komponente der Aktion - an diesem Prozess der "Stadtverwaldung"
beteiligt werden, er sollte zum Umdenken, zu ökologischem Umweltbewußtsein
erzogen werden. Durch Kunst, genauer durch engagierte, "erweiterte" Kunst
kann der Einzelne sich seiner Verantwortung für sich selbst, für die menschliche
Gesellschaft und deren Allgemeinwohl und für die Natur bewußt werden,
um dann durch eigene Verhaltensänderung "gestaltend", "formend", "plastizierend"
auf seine Umwelt und die Gesellschaft einzuwirken. Die Kunstaktion bereitet
gleichsam eine neue Gesellschaftsordnung, eine Ästhetisierung der Gesellschaft
vor, in der jeder - vergleichbar mit dem Bienenstaat - seine kreativen
Fähigkeiten in den Dienst aller stellt. Hierin besteht die gesellschaftspolitische
und zugleich die pädagogische Dimension Beuysscher Kunst: Die Kunst vermag
die Ablösung der Politik wie die Erziehung des Menschen. Sie kultiviert
das Verantwortungsbewußtsein des Einzelnen für die Gesellschaft, indem
sie in der Rezeption Bewußtwerdungsprozesse auslöst, die durch die aktive
Partizipation am künstlerischen Prozess (Pflanzungsaktionen des Einzelnen)
über Stadien der Wahrnehmung, Assoziation, Intuition und des Denkens letztlich
zu Verhaltensänderungen im Sinne demokratischer Verantwortung führt. Ein
weiterer Aspekt, der sich hinter der Sozialen Plastik "7000 Eichen" verbirgt,
ist der der Zeit- und Bewegungsdimension. Für Beuys ist das evolutionäre
Grundprinzip "Bewegung": Alles Sein entsteht aus der Verfestigung von
Flüssigkeitsvorgängen und Bewegungsprozessen, aus einem dynamischen Wechselspiel
zwischen den Grundkräften Chaos und Ordnung. Künstlerisches Sinnbild dieses
Evolutionsprinzips ist die "Plastik". Plastik im Sinne Beuys' ist "Bewegungsprinzip",
ist Verfestigung bzw. Formung von weicher, ungeformter Materie und verkörpert
idealisch beide Pole, einerseits das "Gedanklich-Formmäßige" und andererseits
das "Chaotisch-Willenmäßige" (Adriani, S. 59). "Plastik ist ein Synonym
für das Menschliche" (Harlan, Rappmann, Schata, S.58). Sie versinnbildlicht
das Wechselspiel, das sich in jedem Menschen findet, die Bewegung zwischen
Chaos und Ordnung, "Organischem" und "Kristallinem", "Wärme" und "Kälte",
zwischen Natur und Geist, Stoff und Form, Fühlen und Denken. Durch rationalistisch-materialistische
Vereinseitigung hat der Mensch im Laufe der Menschheitsgeschichte das
ursprüngliche "Gleichgewicht von Verstand und Intuition, von Denken und
Empfinden" (Romain, S. 79) verloren, ein Verlust, den die Kunst, so Beuys'
Überzeugung, allmählich aufzuheben vermag. Versinnbildlichung beider Polaritäten
ist in der Aktion "7000 Eichen" das Kompositum von Eiche (Organisches)
und Basaltstein (Kristallines entstanden durch die Abkühlung glutflüssigen
Magmas). Für die Deutung spielen die von Beuys verwendeten Materialien
und deren Symbolwert eine entscheidende Rolle. Beuys wählt seine Materialien
aus einem biographischen, mythologischen und naturkundlichen Kontext aus.
Es handelt sich dabei um energetische, ja "magische" Substanzen, die der
Transformation seiner künstlerischen Ideen dienen. Stein und wachsender
Baum treten mit dem Rezipienten in einen wechselseitigen Interaktionsprozess
und lösen universelle, allgemeinverbindliche wie subjektive Assoziationen
und Denkprozesse aus. "Indem Stein und Baum materiale Prozesse und spirituelle
Bezüge in Verbindung setzen, eröffnen sie Bezüge und Prozesse zwischen
Vergangenheit und Zukunft. Beide beschwören erd- und kulturgeschichtliche
Vergangenheit, der Stein die früheren Wärmekräfte der Erde sowie die magischen
Steine und Steinsetzungen, die Eiche die organischen Erdkräfte sowie ihre
eigene spirituelle Bedeutungsgeschichte." (Buschkühle, S. 270)
Es handelt sich bei der Plastik "7000 Eichen" um eine prozesshafte Aktion,
- hierin liegt die Zeitdimension- in der Vergangenheit (Entstehungszeit
des Basaltgesteins), Gegenwart (Pflanzaktion) und Zukunft (Wachstumszeit
der Eichen) zur Synthese gebracht werden und die potentielle Lebensdauer
der Eichen von 700 Jahren einen Blick in die Zukunft hinein entwirft.
Eine Zukunft, in der mittels "Kunstpille" der Einzelne und der Staat zur
Mitverantwortung erzogen und die Natur vor weiterer Zerstörung bewahrt
wird.
Unterrichtseinheit
3.
Werkbetrachtung: Joseph Beuys - 7000 Eichen
3.1 Parallelen zwischen Pädagogikkonzept und Unterrichtskonzeption
3.2 Unterrichtsverlauf
3.2.1. Wahrnehmen - Assoziieren - Schreiben
3.2.2 Interdisziplinäre Rezeption
3.2.3 Unterrichtsgespräch oder Kultur der Frage
3.1 Parallelen zwischen Pädagogikkonzept und Unterrichtskonzeption
Für die hier skizzierte Unterrichtseinheit wurden drei zentrale Aspekte
des Beuysschen Pädagogikkonzepts auf ihre schulische Anwendbarkeit hin
geprüft und der Methodenkonzeption vorangestellt:
1. Ausbildung der Sinnes- und Erlebnisorgane --> Wahrnehmungsübung
und assoziatives Schreiben (siehe 3.2.1)
2. Interdisziplinäre Kunstvermittlung --> arbeitsteilige , fächerübergreifende
Gruppenarbeit (siehe 3.2.2)
3. Kultur der Frage -->Unterrichtsgespräch (siehe 3.2.3)
4. Handelnde Transformation --> Praktische Arbeit (siehe 3.2.4)
3.2 Unterrichtsverlauf
Im Rahmen des Seminars
"Lehrmethoden von Künstlern und Möglichkeiten der Anwendung in der kunstpädagogischen
Praxis" beschäftigte sich eine Studentengruppe mit Joseph Beuys' Pädagogikbegriff.
Analog zu den oben skizzierten Positionen entwarfen wir am Beispiel der
Aktion "7000 Eichen" einen im Beuysschen Sinne sinnlich-interdisziplinären
Erschließungsweg für die Werkbetrachtung. Für den Unterrichtsbesuch standen
vier Doppelstunden zur Verfügung, die in folgende Schritte gegliedert
waren:
1. Wahrnehmen - Assoziieren - Schreiben
2. Interdisziplinäre Rezeption
3. Unterrichtsgespräch oder Kultur der Frage
4. Handelnde Transformation - Pflanzung als künstlerisch-ökologischer
Akt
3.2.1. Wahrnehmen - Assoziieren - Schreiben
Ausgangspunkt
der Werkbetrachtung ist die (vor Unterrichtsbeginn vorbereitete) Konfrontation
der Schülerinnen und Schüler mit einem auf jedem Tisch plazierten Pflasterstein
mit angelehntem Eichensprössling (siehe Abb.).
|
Noch ist der Bezug zum Künstler nicht bekannt, der stille Impuls provoziert
jedoch von selbst das Anfassen, Abtasten, Wiegen, Vergleichen, Untersuchen,
Anordnen der beiden Objekte. Auf einem unkommentiert ausgeteilten
Arbeitsblatt werden die Schülerinnen und Schüler dann aufgefordert,
spontan ihre Assoziationen, Gedanken, Gefühle zu den beiden Gegenständen
niederzuschreiben.
Weil optische Erfahrung verbunden mit taktil-leiblicher Wahrnehmung
für die Schülerinnen und Schüler ungewohnt ist und durch die verschiedenartigen
Konnotationen der Materialien Pflanze und Stein für sich und in ihrer
Gegenüberstellung subjektiv unterschiedliche Verknüpfungen herstellbar
sind, fällt das Assoziationsspektrum per se breit aus. Mit sinnlichen,
erlebnisorientierten Experimenten und Übungen verbinden Menschen im
allgemeinen "Erfahrungen und Einsichten, die mitunter jenseits begrifflicher
Zugriffs- und Erkenntnismöglichkeit und ihr zuvor liegen". Beuys
spricht in diesem Zusammenhang |
von der ‚Intelligenz
der Hand', die unter Umständen viel tiefer reiche und beweglicher sei
als die oft ‚verknöcherte' Intelligenz des Intellekts." (Buschkühle; S.
319). Das Nach-Tasten, Nach-Sinnen und Nach-Denken, das Sich-Versenken
(durch die reichlich zur Verfügung stehende Zeit) beeinflusst und verändert
die Qualität und Quantität der Wahrnehmung.
Kommt als ebenfalls ungewohntes Rezeptionsverfahren das assoziative Schreiben
hinzu, entfaltet sich eine Atmosphäre konzentrierter Objekt- und Selbstbeobachtung,
die die Bewusstwerdung des visuell und haptisch Wahrgenommenen unterstützt.
Die Schülerinnen und Schüler assoziieren in ihren Wahrnehmungsprotokollen
mit dem Stein beispielsweise "tot, kalt, anorganisch, alt, fallen, Erstarrung,
Sicherheit"; die Pflanze dagegen aktiviert Gedankenverbindungen wie "lebendig,
organisch, lebenserhaltend, jung, Leichtigkeit, der Sonne zugewendet,
Wachstum, Ökologie, Waldsterben, Umweltschutz". Dies zeigt, dass die verwendeten,
energetischen Materialien tatsächlich Ideen, Assoziationen und Bilder
transportieren, die - allerdings erst bei genauem Hinsehen und Einfühlen
- nachvollziehbar werden.
Im Schreibprozess finden die Schülerinnen und Schüler Begriffe, die, um
auf das Eingangszitat von Beuys zurückzukommen, an ihre eigene, individuelle
"Bewußtseinslage anknüpfen". Das beim aktiven Sehen und Handeln erworbene
Gefühls- und Erfahrungsspektrum wird in einen erweiterten Sinnzusammenhang
gestellt. Geformte Sprache macht bewußt, verarbeitet, klassifiziert, konstituiert
Sinnfindung im Nach-Sinnen und im Nach-Denken. Dass dabei die Wahrnehmungs-
und Erkenntnisakte der einzelnen Schülerinnen und Schüler voneinander
differieren, zeigt das Unterrichtsgespräch. Eine Differenzerfahrung, die
aus der individuellen Biographie, der subjektiven Wahrnehmungsreflexion
und aus divergierenden fächerübergreifenden Verknüpfung resultiert und
als solche von Beuys gewollt ist. Durch die Synthese von sinnlich-taktilem
Wahrnehmen, Assoziieren und nachdenkendem Schreiben erleben die Schülerinnen
und Schüler ein Verfahren der "Selbstvermittlung" von Kunst (Selle, S.76),
das ein "Akt des Reflektierens subjektiver Wahrnehmung" ist (ebd.) und
zunächst ganz auf kunstwissenschaftliche und "verstandesmäßige" Methoden
verzichtet. Im späteren Unterrichtsgespräch werden die Schülerinnen und
Schüler feststellen, dass sie viele Aspekte der Deutung bereits durch
diese erste Übung und den damit verbundenen Erfahrungen und Einsichten
vorweggenommen haben.
Vor dem Hintergrund des sinnlich-assoziativen 'Erlebens' wird den Schülerinnen
und Schüler das Thema der Stunde mitgeteilt, formationen zur Person Joseph
Beuys und zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Aktion "7000 Eichen"
(siehe 2.1) vorgetragen und zum 2. Teil der Unterrichtseinheit übergeleitet.
3.2.2 Interdisziplinäre Rezeption
Hier lernen die Schülerinnen und Schüler eine interdisziplinäre Interpretationsmethode
kennen, bei der sie ergänzend zu ihren assoziativ-schreibenden Erfahrungen
und dem Lehrervortrag Informationen aus unterschiedlichen Wissensbereichen
erhalten und selbst auswerten. So wie Beuys seine Materialien aus einem
mythologischen und naturkundlichen Kontext nimmt, werden für diesen zweiten
Unterrichtsschritt drei Themenbereiche aus dem Fächerkanon ausgewählt,
die über den rein kunstgeschichtlichen Ansatz hinausweisen und die kultur-
und erdgeschichtlichen Aspekte der Materialien Stein und Baum untersuchen.
In arbeitsteiliger Gruppenarbeit werten die Schülerinnen und Schüler die
als kleine Kompendien aus Lexikon- und Zeitschriftenartikeln bereitgestellten
Informationen aus und stellen sie im Plenum vor (Literaturangaben in 3.3.1).
Dabei stellen sie fest, dass sich die Bedeutung der Beuysschen Kunstaktion
besser erschließen lässt, wenn man den umfassenden, fächerübergreifenden
Zugang zu seinem Werk sucht. Wenn man etwa weiß, dass der Baum in der
europäischen Kunst und in der christlichen Tradition für Leben (Lebensbaum),
Wachstum, Reifung (Baum der Erkenntnis), aber auch für Vergänglichkeit
steht, dass in Westafrika dem Baum, dem 'ju-ju' oder Geisterbaum magische
Kräfte zugeschrieben werden (Jung, S.43) und dass die sommer- oder immergrüne
Eiche bis zu 700 Jahre alt werden kann. Dies sind universale Zusammenhänge,
die Beuys seinen Materialien zuschreibt, denn die Materialien, die er
aus einem unendlichen Fundus auswählt und in seine Aktionen und Installationen
einbindet, sind Substanzen, die das energetische, "magische" Vermögen
in sich tragen, geistes- wie naturwissenschaftliche Inhalte zu transportieren
und mit dem Betrachter zu interagieren. Die Materialien sind Transformationen
künsterlischer Ideen, die in ihrer ungewöhnlichen Kombination provozieren
und zum Nachsinnen und Nachdenken anregen.
Für das bessere "Verständnis" von Beuys' Materialien und deren Konnotationen
bearbeiten die Schülerinnen und Schülern folgende drei Themenbereiche:
1. Arbeitsgruppe: Kunstgeschichte Diese Gruppe untersucht die Bedeutung
des Baumes an Hand ausgewählter Beispiele aus der Kunstgeschichte, etwa
der Sinn des Baumes bzw. der Eiche bei C. D. Friedrich und in der Romantik,
die Funktion des Baumes bei van Gogh oder die Idee des Baummotivs bei
P. Mondrian.
2. Arbeitsgruppe: Religions- und Kulturgeschichte In dieser Gruppe wird
der religiösen und kulturgeschichtlichen Symbolik von Baum, Eiche, Stein
und der Zahl 7 nachgegangen.
3. Arbeitsgruppe: Naturwissenschaft und Ökologie Den naturwissenschaftlichen
und ökologischen Aspekt der von Beuys verwendeten Materialien untersucht
diese Gruppe. Fragen nach der Entstehungsgeschichte von Basalt, das durch
die Verfestigung glutflüssigen Magmas im Tertiär entstanden ist, sollen
ebenso geklärt werden wie die Problematik der Umweltverschmutzung, des
Waldsterbens und der Ökologiebewegung in den 80er Jahren. Die im Plenum
präsentierten Kontexte und Deutungsebenen aus den einzelnen Arbeitsgruppen
fließen in das anschließende Unterrichtsgespräch ein.
3.2.3 Unterrichtsgespräch oder Kultur der Frage
Das Unterrichtsgespräch
- tägliches Brot des Pädagogen - wird von Beuys im Zusammenhang seiner
Funktionsbestimmung des Künstler-Lehrers formuliert (siehe 1.5). Er propagiert
das "oszillierende Lehrer- und Schülerverhältnis", bei dem die Schülerinnen
und Schüler "mit Neuem in sich", mit persönlichen Erfahrungen und Einstellungen
konfrontiert werden und bei dem die "Schulung des Denkens in Zusammenhängen"
Ziel des Unterrichtens sein soll. Buschkühle nennt die von Beuys gesuchte
Form der Gesprächsführung "Kultur der Frage" (Buschkühle, S. 341), die
richtig geübt, das Reflektieren der eigenen Sinn- und Sinneswahrnehmung,
das interdisziplinäre Problembewußtsein als Bewußtsein von Kunst-, Kultur-
und Sozial- und Naturwissenschaft zugleich und als Folge dessen das kritische
Denken bezüglich gesellschaftspolitischer Zusammenhänge und Missstände
herausbilden soll. "Viele Schichten" müssen bei einem idealen Unterrichtsgespräch
beteiligt sein, die zu aktivieren dem Lehrer gelingt, der Assoziieren
und Denken, Intuition und Ratio gleichermaßen bei seinen Schülerinnen
und Schülern zu mobilisieren vermag. Gelingt es dem Kunst-Vermittler,
beide Pole integrierend aufeinander zu beziehen, erleben die Schülerinnen
und Schüler, indem sie das Werk und sich selbst befragen und im gegenseitigen
Gedankenaustausch eine Methode für eine ganzheitliche, "erweiterte" Werkbetrachtung,
die an den "7000 Eichen" exemplarisch durchgeführt auf alle anderen Arbeiten
Beuys' und auf Kunstwerke überhaupt anwendbar ist. Dass eine solche sinnlich-interdisziplinäre
Werkbetrachtung eine Atmosphäre des Sichkennens und der Vertrautheit zwischen
Lehrern und Schülern voraussetzt, ist selbstredend, bei einem einmaligen
Unterrichtsbesuch aber nur in Maßen erreichbar. Dennoch konnte gerade
im Unterrichtsgespräch aufgrund der Vorarbeiten (Fühlen, Assoziieren,
Schreiben, Informieren, Recherchieren, Kommunizieren) ein breites Spektrum
von Deutungsaspekten und Auslegungsperspektiven zu der Aktion in Kassel
erarbeitet werden. Die Ergebnisse sind in Kapitel 3.3.2 als Tafelbild
zusammengestellt.
3.2.4 Handelnde Transformation - Pflanzung als künstlerisch-ökologischer
Akt
So wie die Aktion "7000 Eichen" eine handlungsorientierte Aktion unter
direkter, Hand anlegender Beteiligung des Publikums ist, so ist auch die
hier vorgestellte Unterrichtseinheit als eine Verbindung von Kopf- und
Handarbeit konzipiert. Die Schülerinnen und Schüler überlegen, ob und
wie sie die von Beuys initiierte Aktion in ihre eigene Lebenswelt übertragen
und selbst handelnd aktiv werden können. Sie planen die für die erste
Erarbeitungsphase mitgebrachten Sprösslinge mit Pflasterstein bei sich
zu Hause - auf dem Schulgelände gibt es praktisch keine Begrünungsmöglichkeit
- einzupflanzen. So leisten die Schülerinnen und Schüler einen kleinen
persönlichen Beitrag zur "Verwaldung" ihrer Stadt und stellen sich einer
nach wie vor hochaktuellen Diskussion über Umweltschutz und ökologische
Verantwortung. Sie verfolgen darin ein von Beuys vor fast 20 Jahre eingeleitetes,
als in die Zukunft weisend geplantes Projekt, zwar ohne, denn Beuys Kunstideal
bleibt Utopie, eine unmittelbar sichtbare gesellschaftliche Veränderung
bewirken, aber doch auf das eigene ästhetische und ökologische Bewußtsein
und Verantwortungsgefühl einwirken zu können.
Unterrichtsmaterialien
3.3 Arbeitsmaterialien für den Unterricht
3.3.1 Literaturangaben für die interdisziplinäre Gruppenarbeit
3.3.2 Tafelbild
3.3.3 Joseph Beuys: Zentrale Aspekte seines Kunstbegriffs:
"Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit"
3.3.1
Literaturangaben für die interdisziplinäre Gruppenarbeit (siehe 3.2.2)
- Bauer, Wolfgang:
Lexikon der Symbole. 14. Aufl. Wiesbaden 1993
- Graf, Jakob: Pflanzenbestimmungsbuch. München 1967
- Heinz-Mohr, Gerd. Lexikon der Symbole. Bilder und Zahlen der christlichen
Kunst. Düsseldorf 1971
- Jung, Carl
Gustav: Der Mensch und seine Symbole. Olten 1968
- Licht, Wolfgang: Einführung in die Pflanzenbestimmung. Wiesbaden 1995
- Lurker, Manfred: Wörterbuch
der Symbolik. 4. Aufl. Stuttgart 1988
- Mehling, Günther: Naturstein-Lexikon. München 1973
- Schumann, Walter: Steine und Mineralien. Münschn, Berlin, Wien 1977
- Wilhelmi, Christoph: Handbuch der Symbole in der bildenden Kunst des
20. Jahrhunderts. F.a.M.1980
3.3.2 Tafelbild
(siehe 3.2.3)
7000
Eichen - Eine Aktion von Joseph Beuys in Kassel von 1982-1987
|
Stein
- 7000 Basaltsteine |
Baum
- 7000 Eichen |
Steine stehen
für:
. tote, anorganische Materie
· erstarrt, statisch
· versenkt
. Erde
· hart
· Kälte
· In die Vergangenheit
weisend ...
|
Bäume
stehen für:
· Lebendige, organische
Materie
· Dynamisch
· Aufstrebend
· Himmel
· Weich
· Wärme
· In die Zukunft weisend ... |
-->
Unbelebte Steinplastik (Steinkeil) wird zu lebendiger Baumplastik
und führt zur "Stadtverwaldung"
|
Aspekte
des Beuysschen Kunstbegriffs |
Deutungsaspekte
der Aktion "7000 Eichen" |
Ökologischer
Aspekt |
Beuys
appelliert mit seiner Aktion für die Bewahrung der Natur und für Umweltschutz
und will ein Gegengewicht zu Umweltverschmutzung, Waldsterben und
Industrialisierung schaffen. |
Gesellschafts-politischer
Aspekt |
Kunst,
zumal politisch engagierte Kunst, vermag die Politik abzulösen, denn
sie fördert das Verantwortungsbewußtsein des Einzelnen gegenüber der
Gemeinschaft (der Einzelne beteiligt sich mit der 'Pflanzungs-Kunst-Aktion'
an der "Stadtverwaldung") und führt in letzter Konsequenz zu sozialer
und ökologischer Solidarität. |
Pädagogischer
Aspekt |
Kunstkann
"erziehen", "bilden", "gestalten", weil in der Begegnung mit den "7000
Eichen" bei jedem Einzelnen ein Bewußtwerdungsprozess (Wahrnehmen,
Assoziation, Intuition, Denken) in Bezug auf gesellschaftliche und
ökologische Missstände in Gang gesetzt werden kann, der zu einer Verhaltensänderung
und zu einer Umformung der ganzen Gesellschaft führt. |
Zeit- und Bewegungsaspekt |
Jede
Veränderung bedeutet Bewegung; Bewegung aber verläuft in Zeit. Beides
als Bestandteile eines Umdenkungsprozesses wird versinnbildlicht durch
die Verbindung von Vergangenheit (symbolisiert durch die Entstehungszeit
der Basaltblöcke), Gegenwart (Pflanzungsaktion) und Zukunft (Wachstum
der Eichen). |
Engagierte
Kunst |
Kunst
als "erweiterter Kunstbegriff", so wie ihn Beuys versteht, ist anthropologisch
fixiert. "Jeder ist ein Künstler" - d.h. jede menschliche Tätigkeit,
die etwas hervorbringt und verändernd auf die Umwelt und die Gemeinschaft
einwirkt, ist Kunst.
Wenn dann jeder, durch engagierte, erweiterte Kunst geläutert, im
positiven Sinne auf seine Lebenswelt einwirkt, führt dies zu einer
Ästhetisierung und Solidarisierung der Gesellschaft. Es entsteht die
"soziale Plastik", die im Sinne Beuys eine Gesellschaftsordnung meint,
bei der der Einzelne im Sinne des Allgemeinwohls die Gesellschaft
formt und "freier, demokratischer Sozialismus" als soziale Utopie
erreicht wird. |
3.3.3 Arbeitsblatt:
Joseph Beuys: Zentrale Aspekte seines Kunstbegriffs: "Kunst = Mensch =
Kreativität = Freiheit"
Joseph Beuys: Zentrale Aspekte seines Kunstbegriffs:
"Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit"
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"Aktion",
"Aktionsrequisiten" und Materialien
Die Aktionen und Aktionsrequisiten (=energetische Substanzen, Materialien)
dienen der energetischen Transformation künstlerischer Ideen. Sie
sind "Gegenbilder", die provozieren sollen und aufgrund ihrer mythologischen,
naturkundlichen und biographischen Konnotationen Assoziationen, Gefühle
und Denkbewegungen auslösen. |
"Erweiterter
Kunstbegriff"
Der Erweiterte Kunstbegriff meint nicht Kunst im traditionellen Sinne,
sondern umfaßt jegliche menschliche Tätigkeit, alles was der Mensch
hervorbringt, was er gemacht, verfertigt und geschaffen hat, wenn
er dabei gestaltend, plastizierend auf die Welt einwirkt und darin
als Einzelner gesellschaftsverändernd aktiv ist. Kunst ist, im Sinne
Beuys', künstlerisch-ästhetisch, politisch, ökologisch, ethisch, engagiert,
pädagogisch, therapeutisch und energetisch, weil durch Kunst Bestehendes
in Bewegung gebracht und Veränderung erreicht wird. Kunst und Kunsterziehung
wirkt also auf den Menschen, denn durch Kunst werden in jedem Menschen
Bewegung, Energieschübe, Wärmeprozesse, Assoziations- und Denkprozesse
in Gang gesetzt. Diese Rezeptionsvorgänge führen bei dem Einzelnen
zu Läuterung, Kreativität (="Volksvermögen"), Gefühl von Eigenverantwortung,
Wille nach Freiheit und mündet ein in eine veränderte Gesellschaft,
die "Sozialen Plastik", deren Verwirklichungsform die Ästhetisierung
und Demokratisierung der Gesellschaft, die Freiheit und die Einheit
von Mensch und Natur ist. |
"Jeder Mensch ist ein Künstler"
In jedem Menschen steckt das Potential, kreativ zu sein, gestaltend,
bildend, plastizieren auf die ihn umgebende Welt einzuwirken (Kreativität
ist nach Beuys anthropologisch festgelegt). Dieses Potential muß nur
erkannt, entwickelt und durch Kunst und interdisziplinäre Kunstpädagogik
gefördert werden.
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"Soziale Plastik"=
Gesellschaftsordnung
Der Schlüsselbegriff der Beuysschen Kunst- bzw. Gestaltungstheorie
ist der der "Sozialen Plastik". Sozial wird definiert als "die menschliche
Gesellschaft und ihr Allgemeinwohl betreffend" (Duden, Herkunftswörterbuch)
und Plastik als ein "dreidimensionales, modellierfähiges und formbares
Gebilde" (ebd.), das synästhetisch (visuell, taktil, olfaktorisch,
akustisch, thermisch) erfahrbar, Träger eines Inhalts und durch die
Formung weichen Materials bzw. durch Verfestigung von Flüssigkeitsvorgängen
und Bewegungsprozessen entstanden ist. Seinen Plastikbegriff wendet
Beuys auf die Gestaltung der Gesellschaft an (Sprung vom ästhetischen
in den ethischen Bereich): Die bestehende Gesellschaft mit ungerechten
Gesellschaftsstrukturen und Umweltproblematik muß umgeformt werden
in eine "soziale, verantwortungsbewußte, demokratische, ökologieorientierte
Skulptur" (vgl. Bienenstaat), in der jeder seine kreativen Fähigkeiten
in den Dienst aller stellt. |
Literatur
- Adriani,G.: J. Beuys
- Leben und Werk. Köln 1986
- Bodenmann-Ritter, Clara: Joseph Beuys. Jeder Mensch ein Künstler. Gespräche
auf der
Dokumenta 5/1972.
Frankfurt, Berlin 2/1998
- Buschkühle: Wärmezeit - Zur Kunst als Kunstpädagogik bei Joseph Beuys.
Frankfurt a. M. 1997
- Duden. Herkunftswörterbuch.
Mannheim, Wien, Zürich 1989
- Groener, Fernando; Kanoller Rose-Marie (Hrsg.): 7000 Eichen - Joseph
Beuys. Köln 1987
- Jung, Carl Gustav: Der Mensch und seine Symbole. Olten 1968
- Regel, Günther: Joseph Beuys - aktuelle und fortdauernde Herausforderung
der Kunstpädagogik. In: K+U Nr.159/1992
- Romain, Lothar, Wedeweder, Rolf: Über Beuys. Düsseldorf 1972
- Schulz, F. (Hrsg.): Perspektiven der künstlerisch-ästhetischen Erziehung.
Seelze 1996
- Selle, G.: Betrifft Beuys. Annäherung an Gegenwartskunst. Unna 1994
- Selle, G.: Experiment ästhetische Bildung. Hamburg 1993
- Stachelhaus, H.: Joseph Beuys. Düsseldorf 1991
- K+U 159/1992 und 166/1992. Seelze 1992
- Weber, Chr.: Vom "erweiterten Kunstbegriff" zum "erweiterten Pädagogikbegriff".
Frankfurt a.M. 1991
- Zacharias, W.; Grüneisel, G.: Die Stadt der Kinder - eine Schule des
Lebens. Reinbek 1989
Abbildung in: Groener,
Fernando und Kandler, Rose-Marie: 7000 Eichen - Joseph Beuys. Köln 1987,
S. 10
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