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Die lebenden Toten vom Checkpoint Charlie

Museums-Chefin Hildebrandt legt ihre jährliche Maueropfer-Statistik vor. Aber einige Opfer haben nachweislich überlebt

Thomas Rogalla

Es ist selten, dass bei Pressekonferenzen applaudiert wird, gestern, im Mauermuseum am Checkpoint Charlie, kam es vor. Es waren Unterstützer der Arbeitsgemeinschaft 13. August, die Mauermuseumschefin Alexandra Hildebrandt ihre Sympathie bekundeten. Hildebrandt hatte ihrer Ansicht nach das Richtige gesagt: Dass die Zahl der Maueropfer ausweislich neuer Recherchen des Museums weiter gestiegen sei und dass "jeder Name eine Anklage gegen das SED-Regime ist".

Ob die Zahlen der Witwe des Museumsgründers Rainer Hildebrandt allerdings richtig sind, blieb trotz Nachfragen von Journalisten offen. Aufgrund von Archivrecherchen, Mitteilungen von Hinterbliebenen und Presseberichten beläuft sich laut Alexandra Hildebrandt die Zahl der "Todesopfer des DDR-Grenzregimes" nach jetzigem Stand auf 1 303 Personen. Zum 13. August vergangenen Jahres seien es noch 1 245 gewesen. Ausdrücklich erfasst die Hildebrandt-Totenliste "alle Todesopfer, die im Zusammenhang mit Flucht und/oder dem Grenzregime standen". So werden Ertrunkene in der Ostsee als mutmaßliche Grenzopfer gewertet, die Liste erstreckt sich auch auf tödliche Schusswaffenunfälle von DDR-Grenzsoldaten. Erfasst sind auch die Menschen, die vor dem Bau der Mauer 1961 an der Demarkationslinie der SBZ beziehungsweise der DDR ums Leben kamen. Für die Berliner Mauer zählt Hildebrandt 289 Tote, 222 davon seit 1961. Laut eines Forschungsprojekts der Mauergedenkstätte Bernauer Straße und des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) haben aber etliche der in der aktuellen Hildebrandt-Liste als tot aufgeführten Personen überlebt: Etwa der angeblich am 28.2.66 am Teltowkanal durch 19 Schüsse getroffene Hans-Georg S., berichtet Hans-Hermann Hertle vom ZZF. Auch Elke M., am 15. Juni 1965 beim Fluchtversuch von Schüssen der DDR-Grenzer getroffen, habe trotz schwerer Verletzungen überlebt und Anfang der 90er-Jahre als Zeugin in den Mauerschützenprozessen ausgesagt. In der Hildebrandt-Liste steht sie weiter unter der Nummer 109 der Toten an der Berliner Mauer. Auch Doppelzählungen kämen vor, sagt Hertle, etwa die des kleinen türkischen Jungen Cengaver K., der 1972 in Kreuzberg an der Grenze in der Spree ertrank. Er sei einmal mit seinem richtigen und einmal unter dem damals von der Polizei irrtümlich notierten Namen eines Onkels aufgeführt, sagte Hertle. Bereits Ende 2006 habe er Hildebrandt unterrichtet, dass 36 der seinerzeit von ihr als tot deklarierten Personen überlebt hätten. Hildebrandt hat darauf nur in einigen Fällen reagiert. Aus der Totenliste von 2007 habe sie neun Personen gestrichen, sagte Hildebrandt, "wir freuen uns über jeden, der noch lebt". Manfred Fischer von der Mauergedenkstätte bekräftigte, dass derzeit 136 Tote an der Berliner Mauer nachgewiesen sind, hinzu kommen 48 Reisende, die bei Kontrollen verstarben, etwa durch Herzinfarkt.

Weitere Angaben zu den 136 Toten im Internet unter: www.chronik-der-mauer.de

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Foto: Mit Stahlfiguren und Blumen weist Künstler Ben Wagin neben dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus auf den dortigen authentischen Mauerrest hin.